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IX. Die Frau ohne Namen.

Lassen wir Benedetto mit dem Meere, dem Winde, den Blitzen kämpfen und durch seinen Ruf der Ermutigung dem eines Unglücklichen antworten, als ob er ein Engel des Heils wäre, den Gott sendete, und richten wir unsere Aufmerksamkeit auf einige Ereignisse, die sich in eben dem Augenblicke zutrugen wie die letzten von uns erzählten Auftritte dieser Geschichte.

Auf einem der abgelegensten Punkte der Küste von Marseille, jener Handelsstadt, deren Schiffe beständig die Gewässer des Mittelländischen Meeres von Tunis bis nach Venedig, von Malaga bis nach Konstantinopel, durchschneiden; – auf einer Granitfläche, die nur wenig erhaben war und auf der die Wogen zuweilen das Seegras ablagerten, war seit einiger Zeit eine kleine Hütte von rohem Mauerwerk errichtet, deren Wände, von der Stadt aus gesehen, traurig gegen den Horizont abstachen.

Rings um diese Hütte, welche durch den sanften Hauch des Mittelländischen Meeres umspielt wurde, hätte ein scharfer Beobachter die Ueberbleibsel oder vielmehr die leisen Spuren anderer flüchtiger Bauten erkennen können, wie sie Arme manchmal errichten.

Das rührt daher, weil in einer nicht sehr entfernten Zeit, das heißt in einer Zeit, welche den hundert Tagen des Kaiserreichs kurz voranging, diese Landzunge zum Wohnort eines elenden Stammes von Fischern diente, die ähnlich einem Haufen von Zugvögeln, eines Tages an dieser Küste landeten. Ihr Ursprung war unbekannt und ihre Sprache weder französisch, noch spanisch, noch biskayisch.

Diese kleine Kolonie hatte von den Behörden in Marseille die Erlaubnis erhalten, sich auf dem kleinen Vorgebirge niederzulassen, und lebte dort unter Benennung der Katalonier, welche die Marseiller ihr gaben. Als aber Bonaparte die Insel Elba verließ und aufs neue auf dem französischen Gebiete vordrang, rief er alle Männer ohne Unterschied der Klassen zu den Waffen, und auch die Katalonier mußten den Fahnen des tapfern Korsen folgen und verließen ihre ärmlichen Hütten.

Seitdem blieb das kleine Dorf verödet, und von dem irrenden geheimnisvollen Stamme ist jetzt kaum noch eine Erinnerung übrig geblieben, welche uns den Ort andeutet, an welchem er einst, den Wassern des Meeres gegenüber, seine Wohnung aufgeschlagen hatte.

An diesem Orte nun erhob sich die kleine Hütte, deren wir zu Anfang dieses Kapitels erwähnten. Eine Frau wohnte darin.

Ein ärmliches Lager, ein Tisch, zwei Stühle, ein großes Kruzifix mit dem Bilde des Erlösers, in Elfenbein geschnitzt, bildeten das ganze Mobiliar des Stübchens. Dem Bett gegenüber befand sich ein großes Fenster, durch das man, selbst wenn man auf dem Lager ruhte, die Wogen des Mittelländischen Meeres sehen und die auf demselben kreuzenden Segel zählen konnte.

Neben diesem Stübchen lag ein zweites mit einer ganz breiten Ruhestätte, einem Tisch und einem Stuhle; dann kam ein Eßgemach und eine kleine Küche.

Das ist der vollständige Grundriß der kleinen Hütte.

Ueber die Frau, welche dieselbe bewohnte, waren unter den Neugierigen und den Müßiggängern von Marseille verschiedene Gerüchte im Umlauf, die wir als mehr oder minder richtig bezeichnen müssen. Die einen behaupteten, sie sei eine große Dame, die durch den gänzlichen Verlust ihres Vermögens gezwungen worden wäre, die Einsamkeit, das Schweigen und die Vergessenheit ihres ehemaligen Glanzes aufzusuchen. Andere behaupteten, auf ihrer Stirn die tiefe und finstere Falte eines bittern Kummers bemerkt zu haben und schlossen daraus, daß sie das Opfer eines großen Unglückes sei, viel fürchterlicher, als der gänzliche Verlust des Vermögens; denn dieser hätte nie auf solche Weise die Seele einer Frau zu ergreifen vermocht, besonders wenn diese Frau noch einen berühmten und fleckenlosen Namen besaß.

Aus dieser letzten Vermutung, welche durch die Leute ausgesprochen wurde, die sich für scharfsinniger in Beurteilung der Ursachen und Wirkungen ausgaben als andere, und die daher auch der Wahrheit näher kamen, zog eine dritte Klasse von Beobachtern den folgenden Schluß: Diese Frau, welche beständig in der unbedingten Einsamkeit, zu der sie sich verurteilt hatte, Tränen vergoß, weinte sicher nicht über eines jener Leiden, welche die Zeit uns bringt und welche daher auch die Zeit, so bitter die Erinnerung daran sein mag, wieder mit sich hinwegnimmt. Es mußte daher eine andere Ursache dieses unablässigen Schmerzes walten! Was konnte das aber für eine Ursache sein? Was gibt es in diesem Leben, was die Zeit nicht abnützt, nicht erstickt, nicht in uns verlöscht, sondern vielmehr vergrößert, befestigt, erweitert? – Die Reue!

Die jedoch, welche nur einmal den wundervollen und zärtlichen Klang der Stimme dieser Frau gehört hatten, oder den milden Eindruck ihres offenen, ergebungsvollen Blickes empfanden, die, sagen wir, konnten nicht glauben, daß die Reue das Herz dieser geheimnisvollen Frau verzehrte.

Dieser Ungläubigkeit antworteten die Urheber des oben erwähnten Urteils, daß die Reue ein Balsam ist, welcher die Wunden heilt, die durch die Reue selbst geschlagen wurden, indem er dem Geschöpf die Ruhe wiedergibt und der Seele die Reinheit, die sich in uns durch den Blick und das Wort offenbart; indes wurde dies wieder durch die bestritten, welche behaupteten, die Seele zu kennen, sowie den Einfluß, den sie auf die verschiedenen Gefühle übt, von denen wir beherrscht werden; denn die Reue trocknet ebenso die Tränen in unsern Augen und bringt auf unsere Lippen das süße Lächeln einer Hoffnung, welche ebenso unendlich ist wie die Güte, die wir dem Schöpfer zuschreiben!

Auf dies und Aehnliches stützten sich die verschiedenen Gerüchte über die Frau im Dorfe der Katalonier, und da es nicht möglich war, aus allem, was man über sie sagte, einen bestimmten Schluß zu ziehen, kam man darin überein, sie die Frau ohne Namen zu nennen!

Wie diese Frau lebte, wußte alle Welt. Zuweilen saß sie an einem der offenen Fenster, sah trübe auf das Meer hinaus und ließ dabei ihren Tränen freien Lauf; dann wieder beugte sie sich über den Felsen hinab, gegen den die Wogen des Meeres sich in schäumenden Flocken brachen und schien begierig auf das Gemurmel der Gewässer zu lauschen, welche für einen gleichgültigen Geist keine Bedeutung haben, welche die Unglücklichen aber auffassen und sich erklären, als wäre es die geheimnisvolle Stimme, die ihrer Seele Antwort gibt! Stets, wenn die Sonne die Wolken in der Ferne mit einem rötlichen Scheine zu färben begann, erhob die arme Frau ihre Augen mit trübem, ängstlichem Blick zu dem Himmel, und ihre leise sich bewegenden Lippen schienen ein Gebet zu murmeln. Wenn dann die letzten Strahlen der Sonne von der Oberfläche des Meeres verschwanden, wenn die Natur sich in ihren dichten Mantel der Nacht zu hüllen schien, um auszuruhen, entrang ein schmerzliches und klagendes Stöhnen sich der Brust dieser Unglücklichen wie der Ausdruck einer getäuschten Hoffnung!

Und das wiederholte sich alle Tage!

Am Abend gab sie sich den Illusionen einer neuen Hoffnung für den nächsten Tag hin.

Kam der nächste Tag, dann sah man sie schweigend und traurig wieder bei anbrechendem Abend ihr Haupt melancholisch beugen und zu dem Himmel einen Blick emporsenden, dessen Ausdruck stets derselbe war, einen Blick, den immer bittere Tränen verschleierten.

Die arme Frau hoffte vergebens!

Die furchtbare Hand des Unglücks schien sich die Aufgabe gestellt zu haben, ihr Märtyrertum zu verlängern, bis endlich die Entmutigung eintrat.

Die Entmutigung kam, und nach ihr zögerte auch die Verzweiflung nicht lange.

Es war etwas Entsetzliches, ein unerträgliches Leiden.

Sie fühlte nun die Notwendigkeit, die tröstende Stimme irgend eines Menschen zu vernehmen, der zu ihr von Gott und von seiner unendlichen Güte spräche.

Sie schrieb einige Zeilen.

Eine Stunde später näherte sich dem ehemaligen kleinen Dorfe der Katalonier ein guter alter Priester, dessen Physiognomie den vollkommenen Stempel der Selbstverleugnung und der Barmherzigkeit trug. Dieser Geistliche ging auf die einzige Wohnung des Dorfes zu, und da er die Tür offen fand, trat er ein, jedoch nicht ohne zuvor sein Kommen durch eine Bewegung angedeutet zu haben.

Niemand antwortete ihm.

Er wartete einen Augenblick, und als er zufällig durch das Fenster sah, erblickte er auf der Spitze des kleinen Felsens eine Frau, auf den Knien liegend, die Arme gegen das Meer ausgestreckt, die Augen gen Himmel erhoben.

Wenige Minuten später stand der gute Geistliche an der Seite dieser Frau, ohne daß er wagte, sie zu unterbrechen, indem er voll Teilnahme auf die Worte hörte, die, von Schluchzen unterbrochen, ihren Lippen entschlüpften.

»Nein, nie, nie werde ich ihn wiedersehen,« sagte sie; »das Verhängnis will, daß ich bis auf die Hefe den Becher der Bitterkeit leere, der sich seit so langer Zeit nicht von meinen Lippen entfernt hat! Albert! Albert! – Empfange lebend oder tot meine Umarmung, denn ich fühle den Tod mir sich nahen!

»Doch nein! Nein! Ich werde nicht sterben! Ich kann nicht, ich darf nicht sterben, ohne Dich noch einmal an mein Herz gedrückt zu haben! Es wäre mir nicht möglich, so in meiner letzten Stunde an der Existenz eines tröstenden Gottes – des Gottes der Betrübten – zu zweifeln!«

»Nein, nie!« flüsterte der Geistliche, indem er mit der Hand gegen den Himmel deutete und sich den Augen der armen Frau zeigte, die bei dem Anblicke des ehrwürdigen Gesichtes dieses Mannes einen leisen Schrei ausstieß.

»Es gibt einen gerechten und allmächtigen Gott, der über dem Himmel thront, unsern Augen unsichtbar, aber unserm Verstand bemerkbar!« fuhr er fort. »Sie wollen an Gott zweifeln? Zweifeln Sie an sich selbst, wenn Sie es vermögen!«

»O mein Vater,« rief Sie. »Aber diese endlosen Qualen!«

»Vor einem Augenblick noch sprachen Sie eben hier von dem Tode! – Der Tod aber – das ist ein mächtiger Beender jedes Leidens!«

»Was sagen Sie? Ach – sterben, ohne noch ein letztes Mal meinen Sohn gesehen zu haben! – Sie wissen nicht, was die Liebe einer Mutter ist! Sie wissen nicht, daß ich, getrennt von ihm, der allein meine ganze Liebe auf dieser Erde besitzt, schon seit einer Ewigkeit von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute, und immer vergeblich, auf ihn warte! – Sie wissen nicht, wie heftig meine Leiden sind! – Sie können meinen Schmerz nicht fühlen, noch würdigen!«

»Ich komme, um Sie zu hören und Ihren Glauben zu befestigen, nachdem ich Sie vernommen habe; sprechen Sie!«

»Kommen Sie, mein Vater! Ich bedarf es ebenso sehr, Sie zu hören. Ich fühle meinen Glauben Wanken unter dem Gewicht eines entsetzlichen Geschickes!«

Der Priester folgte schweigend der geheimnisvollen Frau nach dem Häuschen, das sie allein bewohnte.

Sie begab sich in ihr Stübchen, fetzte sich dem Fenster gegenüber und hielt den Blick noch immer auf das Mittelländische Meer gerichtet, dessen Wogen sich bis in unendliche Ferne ausdehnten; darauf streckte sie traurig, doch ergebungsvoll, die Hände nach dem prachtvollen Kruzifix aus, das an der Mauer hing, und schien ein Gebet zu murmeln.

»Mein Vater,« sagte sie dann einige Augenblicke darauf, »gestatten Sie mir, die Ereignisse der ersten Jahre meines Lebens zu verschweigen! Sie bergen ein Geheimnis, welches nur zwischen mir und Gott, zwischen mir und einem Menschen, bestehen darf, den ich nie wiedersehen soll!«

Sie machte jetzt eine kleine Pause, um den Namen Edmund Dantès zu murmeln, und fuhr dann fort:

»Als Opfer einer furchtbaren Rache habe ich den entsetzlichen Schlag eines Unglücks empfangen, das unerwartet auf mich niederschmetterte! Als Witwe, und arm, hatte ich keine andere Stütze wie einen einzigen Sohn; das Verhängnis wollte, daß auch dieser Sohn gezwungen wurde, mich für einige Jahre zu verlassen, als müßte ich in einer vollständigen Einsamkeit einen unwillkürlichen Irrtum meines vergangenen Lebens beweinen! Jetzt – jetzt, wo ich Mutter bin – jetzt beweine ich diesen Irrtum nicht mehr, ich darf ihn nicht beweinen.«

»Können Sie mir aber wenigstens sagen, worin dieser Irrtum bestand?« fragte der Priester, indem er die großen Tränen sah, welche an den Wangen der Frau herabrannen, die ihn in ihrem Schmerz berufen hatte, um ihr den Trost des Himmels zu gewähren.

»Er bestand darin, mich nicht mehr eines Mannes erinnert zu haben, dem ich meine erste Liebe widmete. Nachdem ich mehrere Jahre auf die Rückkehr dieses Mannes gewartet hatte, vergoß ich auf die falsche Nachricht seines Todes die letzten Tränen der Liebenden auf seinem mutmaßlichen Grabe und den Tag darauf gab ich meine Hand als Gattin seinem ehemaligen Nebenbuhler, der damals meine einzige Stütze in dieser Welt war.

»Jetzt weine ich auch, wie Sie sehen, aber nur über die verlängerte Abwesenheit meines geliebten Sohnes! – Ich weine – weil ich fühle, daß mein Leben erlischt, und daß ich sterben werde, ehe mein Sohn zurückgekehrt ist, um mich in seine Arme zu drücken! – Ach, kehrte er zurück – so würde ich nicht sterben! Sein Wiederkommen wäre mein Leben!«

»Hoffen Sie, gute Frau; die Gnade Gottes ist unendlich!«

»Hoffen! Ach, was habe ich denn seit so langer Zeit getan?« fragte sie mit einem herzzerreißenden Lächeln, einem Lächeln, welches einem Todesschrei glich. »Hoffen! – Ach, Sie bedenken nicht, was dieses immer und immer wiederholte Wort zu sagen hat für den, der solange vergebens seine Hoffnung auf die Gnade Gottes stützte! – Ach, bin ich denn vergessen von diesem höchsten Gotte – dem Verhängnis hier auf Erden geweiht?«

»Was Sie da sprechen, ist eine Gotteslästerung! Gott vergißt seine Geschöpfe nicht!« sagte der Priester mit dem Tone der Ueberzeugung.

»Und weshalb gewährt der Ewige mir denn nicht das einzige Glück, meinen Sohn zu umarmen? Hat er doch das erhabene Gefühl geschaffen, welches ein Kind in dem Herzen seiner Mutter erweckt! Sieht er denn nicht, daß es ein Märtyrertum ist, größer als irgend ein anderes, welches ich erdulde?«

Bei diesen Worten der Betrübnis umspielte ein leises Lächeln die Lippen des guten Priesters.

»Ermessen Sie daraus,« sagte er, »welche entsetzlichen Martern die Jungfrau Maria erdulden mußte, als in ihren Armen der leblose Leib des Erlösers ruhte, ihre einzige Hoffnung, ihr einziger Trost. Erwägen Sie, wenn Sie dazu den Mut und die Kraft haben, welche entsetzliche Nacht endloser Qualen sich den Augen der heiligen unbefleckten Mutter zeigte! Und gleichwohl hatte sie in ihrem Herzen den Glauben, wenn auch nicht die Hoffnung, und neben dem Glauben die Ergebung! Sie war es, welche Zuerst die Tränen der frommen Frauen, die sie umgaben, trocknete.«

»Ach, mein Vater, das Beispiel ist erhaben, aber die Jungfrau war die Mutter eines Gottes und ich bin nur eine einfache Frau; – die Kräfte mangeln mir.«

»Die Mutter des Gekreuzigten wird sie Ihnen verleihen. Glauben Sie an ihre unendliche Barmherzigkeit und hoffen Sie daraus, und wenn der entscheidende Augenblick erscheint, wenn der Ewige Sie zu sich ruft, bevor Sie Ihren Sohn umarmen konnten –«

»Nun, mein Vater? – Wenn dieser Augenblick erschiene,« rief sie mit fieberhafter Aufregung – »wenn dieser verhängnisvolle Augenblick käme – sollte ich dann auch noch glauben – sollte ich noch immer Hoffnung hegen – selbst über das Grab hinaus?«

»Ja! Sie müßten sich dann in Ihr Schicksal ergeben und Ihren Schmerz zum Opfer bringen, um Aussicht auf den ewigen Ruhm zu gewinnen!«

»Beten Sie für mich,« murmelte sie, »beten Sie, daß ich in diesem Meere der Betrübnis den Hafen entdecke!«

»Glauben Sie an die Gerechtigkeit Gottes?«

»Was soll ich Ihnen darauf antworten?«

»Sie ist unendlich und so vollkommen, daß wir sie nicht zu begreifen vermögen.«

»Ach jawohl! – Deshalb begreife ich sie auch nicht.«

»Aus Barmherzigkeit!« rief der Priester, indem er aufstand und die Arme gegen das Kruzifix ausstreckte, »richten Sie die Augen auf dieses heilige und schreckliche Zeichen unsers Erlösers, und zweifeln Sie dann, wenn Sie es können, noch an der Gerechtigkeit und der unendlichen Güte dieses Märtyrers, der sich für uns an das Kreuz heften ließ! Sein Bild ist es; das unschuldige Blut, welches noch aus seiner Brust zu fließen scheint, ist der Preis Ihrer Erlösung! – Diese erhabene Stirne, demütig unter der Dornenkrone gebeugt, ist der Kopf, welcher das große und erhabene Werk der Wiedergeburt des Menschen ersann! – Auf die Knie nieder! Auf die Knie! – Er kann Ihnen verzeihen!« .

Bei diesen Worten sank die arme Frau auf die Knie, dem Kreuze gegenüber, und Ströme von Tränen rannen über ihre bleichen Wangen.

»Ach, Gott der Güte,« rief sie, »welchen Fehler habe ich denn begangen – daß ich diese so grausame, so harte Strafe verdiente?«

Dann senkte sie den Kopf, kreuzte die Arme auf der Brust und schwieg, vollkommen gefaßt.

Dieses Schweigen hatte etwas Feierliches; kaum wurde es durch die Lippen des Priesters unterbrochen, welcher leise ein Gebet murmelte.

Die Frau stand wieder auf.

Auf ihrem Gesichte zeigte sich die Resignation, und ihre Tränen hatten aufgehört zu fließen; in ihrem feuchten Auge glänzte noch der heitere Ernst, der durch die Resignation erweckt wird.

Der Glaube war eingezogen in ihre Brust.

Mehrere Tage verflossen, während welcher der gute Pater seine frommen Besuche bei der Bewohnerin der Hütte erneute, und dieselbe schien danach ruhiger und ganz in die Bestimmungen der Vorsehung ergeben zu sein.

Sie war jedoch noch nicht am Ende ihres Unglücks, denn plötzlich zeigte sich ein neues, welches weder Zögerung noch Hilfe gestattete. Alles Geld, das sie besessen hatte, war erschöpft, und es gab für die arme Frau kein anderes Hilfsmittel als den Ruf an die öffentliche Barmherzigkeit.

Das Mitleid der Vorübergehenden anzusprechen! Almosen zu erbitten! Ach lieber tausendmal sterben!

Nein, und hundertmal nein! Sie wollte sich nicht zum Gegenstand der Neugier für Marseille machen! Nein, sie konnte es nicht über sich gewinnen, von Tür zu Tür zu gehen, um das tägliche Brot zu erbetteln! Das war ihr unerschütterlicher Entschluß.

Die arme Frau! Sie wußte noch nicht, wie groß die Qualen des Hungers sein können! Sie wußte nicht, daß der Tod um so entsetzlicher erscheint, je näher er kommt! Sie wußte nicht, daß bei dem Anblick des bleichen Phantoms selbst der entschlossenste Mut wankt, und daß es, um sich seiner Umarmung zu entziehen, kein Opfer gibt, vor dem man zurückbebt, ausgenommen das Opfer der Ehre!

Sie nahm mit bitterm Lächeln ihr letztes Geldstück in die Hand und ging, dagegen Nahrungsmittel einzutauschen. Mit welchem Geiz benutzte sie dieselben! – Aber ach, sie nahmen ab, nahmen immer ab. – Die Tage verflossen und schon blieb ihr nichts weiter mehr als ein halbes Brot und einige getrocknete Früchte.

Was sollte sie beginnen?

Sie teilte diese ärmlichen Reste so ein, daß sie für die Bedürfnisse von acht Tagen genügen konnten. Wer weiß, ob nicht vielleicht während dieser Zeit irgend eine unerwartete Hilfe erschien. Die acht Tage verflossen wie die andern, und es war keine Hilfe gekommen.

Die arme Frau hatte ihren ersten Tag des Hungers.

Ein fürchterlicher Tag, der in jeder seiner Stunden, langsam wie die des Verurteilten, ihr die bittern Rückerinnerungen einer Vergangenheit vorspiegelte, die sie vergebens zu vergessen trachtete.

Am nächsten Tage fühlte sie sich schwach und niedergeschlagen. Ihr Herz klopfte heftig; ein hitziges Fieber verzehrte sie. Sie empfand eine fürchterliche Glut, Kurzatmigkeit, Schwindel!

Der Fieberwahnsinn war nicht weit entfernt.

Sie sprang auf und leckte mit den Lippen die Brotkrumen auf, die noch auf einem Tisch verstreut lagen! Der Augenblick war nahe, wo sie dieselben begierig selbst von der Erde aufgelesen haben würde!

Und gleichwohl war sie noch immer entschlossen, Hungers zu sterben.

Unsinniger Gedanke!

Am Ende des vierten Tages, seitdem sie die Martern des Hungers empfand, zuckte ein Strahl der Hoffnung durch ihre Seele.

»Ach,« murmelte sie, »wer weiß, ob nicht binnen hier und acht Tagen mein Sohn kommt? – Und binnen hier und acht Tagen sterbe ich vor Hunger! – Nein! nein! – Ich muß noch diese acht Tage warten! – Ich muß warten, solange noch ein Hauch in meiner Brust bleibt! – Ich will warten, ich will warten!«

Und die arme Frau stürzte zu ihrem Häuschen hinaus und folgte, durch einen unbestimmten Instinkt geleitet, dem Wege, der zu dem Hafen von Marseille führte.

Sie blieb mehrmals stehen, um auszuruhen und Atem zu schöpfen. Dann streckte sie die Hand gegen einen Reisenden aus, der an ihr vorüberging; aber ihre Lippen blieben geschlossen und ihr Blick an den Boden geheftet.

So ging sie bis zur Stadt, ohne ein Almosen zu erhalten.

Sie empfand den Hunger – den Hunger, der bis zur letzten Grenze gelangt ist. Sie trank Wasser, und das Wasser verdoppelte den entsetzlichen Hunger, der sie verzehrte. Ihr getrübter Blick unterschied schon nicht mehr die Gegenstände, die in geringer Entfernung von ihr waren; eine Wolke, ähnlich einem Schleier von Staub, umhüllte sie, und die Gebäude, die Menschen in ihrer Nähe, schienen um sie her zu wirbeln!

Das war der Augenblick, wo der Wahnsinn sich zeigt.

Mit einer unwillkürlichen Bewegung schritt die arme Frau auf den Quai zu; sie ging bis zu der Brüstung, blickte umher, ohne zu sehen, hörte, ohne zu verstehen.

Sie fragte einen Vorübergehenden, ob es schon Nacht sei, und erhielt zur Antwort ein lautes Gelächter.

Die Sonne stand hoch am Himmel.

Schon sah sie nicht mehr, schon erkannte sie nichts mehr! – Sie hatte Hunger! Sie befand sich unter der Gewalt des mächtigen Instinktes, der jedes Tier zur äußersten Verzweiflung treibt, und der nichts als das Gefühl übrig läßt, eine einzige Begierde zu befriedigen: den Hunger zu stillen!

Sie machte schnell einige Schritte, sank nieder auf die Knie vor zwei Männern, die eben landeten, und rief mit brechender Stimme:

»Mich hungert! Um der Liebe Gottes willen – helfen Sie mir!«

Das war ihr erster Schrei, durch den sie Almosen erflehte.

Als die beiden Männer, welche soeben erst ein kleines Fahrzeug, das am Ufer angelegt hatte, verließen, diesen Verzweiflungsschrei des Elends vernahmen, blieben sie vor der Frau stehen, die knieend sie um ein Almosen anflehte.

Der eine derselben zog aus der Tasche ein kleines Geldstück, wendete sich zu der Bettlerin und sagte:

»Steht auf, Frau; hier ist eine kleine Unterstützung.«

Das Geld fiel in die Hände der Bettlerin, welche auf den Knien liegen blieb und mit immer matterer Stimme flüsterte:

»Mein Gott, ich danke Dir!«

Dann sank sie mit dem Gesicht gegen den Boden und stieß einen matten Schrei aus.

*


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