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X. Ein Beistand des Himmels.

Bei dem herzzerreißenden Schrei, welchen die Bettlerin ausstieß, blieben die Reisenden, welche ihren Weg schon wieder verfolgt hatten, stehen, und der Jüngere der beiden wendete sich zu seinem Gefährten und sagte:

»Verzeihen Sie, mein Herr, aber ich sehe, daß ich noch eine Pflicht zu erfüllen habe.«

»Und welche?«

»Zum ersten Male setze ich nach diesem furchtbaren Sturme, aus dem Sie mich erretteten, als wenn Sie ein Abgesandter der Herrn wären, den Fuß auf die Erde, und ich glaube, daß ich nicht mit Gleichgültigkeit den Ruf des Elends vernehmen darf.«

»Was wollen Sie denn tun?«

»Mit dieser Unglücklichen das geringe Geld teilen, welches ich aus dem Schiffbruch in meinem Gürtel gerettet habe. Das ist nur Gerechtigkeit.«

»Ich werde Sie gewiß nicht von diesem Vorsatze abbringen, mein Herr. Im Gegenteil billige ich diesen Gedanken, denn die Stimme des Elends hat auf mich immer einen gewaltigen Eindruck gemacht.«

Indem die beiden Männer so miteinander sprachen, kehrten sie um und näherten sich der Bettlerin, die noch immer auf den Knien lag.

Der Jüngere von beiden bückte sich und sagte:

»Nun, liebe Frau, was erwarten Sie hier?«

»Ich erwarte meinen Sohn,« murmelte sie, indem sie den Kopf erhob und so ihr Gesicht zeigte.

»O Himmel! Meine Mutter! – Großer Gott, wäre das eine Täuschung? – Bin ich wahnsinnig?« rief er, indem er die Bettlerin in seine Arme schloß, wobei auf ihre Lippen ein sanftes Lächeln zurückkehrte; die einzige Antwort, welche die arme Mutter auf die Worte des jungen Mannes hatte.

»Was sagen Sie, Herr von Morcerf?« fragte der andere.

»Ach, kommen Sie, kommen Sie! – Lassen Sie uns diese Unglückliche fortführen! O, mein Freund – der Himmel straft mich erbarmungslos – es ist meine Mutter!«

Der junge Mann vermochte weiter nichts zu sagen. Indem er die arme Frau innig umarmte und seine feuchten Lippen auf die brennenden und trockenen seiner Mutter preßte, suchte er sie durch seine Küsse in das Leben zurückzurufen.

Benedetto betrachtete einen Augenblick diese rührende Szene. Dann traf er die nötigen Maßregeln, um die Bettlerin in ein benachbartes Haus bringen zu lassen, indem er die Neugierigen verhinderte, ihr bis zu dem Zimmer zu folgen, in welchem man sie auf ein Bett legte.

Nach einigen Stunden öffnete sie, dank der Sorgfalt, welche eine barmherzige Schwester ihr widmete, die Augen und gab Zeichen des Lebens.

Albert wollte mit ihr sprechen, sie umarmen, sie tausendmal mit jenem Gefühl, welches Schmerzen und Freude in unserer Seele erweckt, seine Mutter nennen. Aber Benedetto machte ihm begreiflich, daß die arme Frau noch nicht fähig sei, der Erschütterung zu widerstehen, welche so heftige Gefühle in ihr erwecken würde, und daß bei ihrem Zustande der Schwäche und Erschöpfung dergleichen für sie sehr gefährlich sein könnte; er erlangte dadurch von Albert, daß dieser wartete, bis sie sich wieder vollständig erholt haben würde.

Albert – denn so hieß der junge Mann, den wir hier in Gesellschaft Benedettos erblicken – verließ die Tür des Zimmers, in welchem seine Mutter lag, nicht eine Minute. Ein Arzt, der der Kranken seine Sorgfalt widmete, gab ihm die Versicherung, es sei keine Gefahr vorhanden, und die vollständige Genesung der Kranken könnte binnen wenigen Tagen bewirkt werden, wenn man ihr die vollständige Ruhe gönne.

Diese beruhigenden Worte des Mannes der Kunst schienen den Mut Alberts neu zu beleben, und nachdem er noch einen flüchtigen und besorgten Blick in das Innere des Zimmers gesendet hatte, suchte er Benedetto auf, den er dabei antraf, wie er Rocca Priori, dem Leutnant seiner kleinen Jacht, einige Befehle erteilte.

»Mein Freund,« sagte Albert, indem er ihm die Hand drückte, »der Arzt gab mir soeben die Versicherung, daß ich in Beziehung auf die Gesundheit meiner Mutter keine Angst zu haben brauche. – O mein Gott, ich danke Dir!« flüsterte er, indem er gen Himmel einen jener reinen Blicke richtete, in welchen die Seele die ganze Tiefe und die ganze Aufrichtigkeit der Dankbarkeit gegen den Schöpfer ausspricht.

»Desto besser, Herr von Morcerf,« erwiderte Benedetto. »Ich bin darüber entzückt, denn ich gab soeben meinem Leutnant den Befehl, sich zu erfrischen und dann bereit zu halten, ohne das geringste Zögern unter Segel zu gehen.«

»Sie haben also die Absicht, mich zu verlassen?« fragte Albert, indem er ihn hastig unterbrach.

»Ohne Zweifel!« entgegnete Benedetto. »Meine Sendung in dem, was Sie betraf, ist vollbracht. Sie sind am Lande bei Ihrer Mutter – Sie sind glücklich – ich kann daher reisen.«

»Schon!« flüsterte Albert, das Auge an den Boden heftend und die Hand Benedettos innig drückend. »Ich hätte gewünscht,« fuhr er fort, »daß meine Mutter Sie sähe, daß auch Sie Ihnen für Ihre Großmut dankte, mit der Sie mich mitten im Sturme aufsuchten, um mich zu retten.«

»Ich war es nicht, der Sie gerettet hat, mein Herr,« entgegnete Benedetto. »Es war die Hand Gottes, welche Sie den Wogen entriß und Sie über dem Abgrund hielt. – Das ist eine Wahrheit, die ich Ihnen oft genug wiederholt habe, so daß Sie dieselbe nie vergessen können! Welches Interesse aber wäre mächtig genug gewesen, um durch den Schrei, den Sie ausstießen, in mir die Verachtung meines eigenen Lebens zu erwecken, um das Ihrige zu erhalten, welcher Instinkt hätte mich leiten und durch Sturm und Wogen zu dem Orte führen können, wo Ihre erschöpften Arme vergebens strebten, Ihren Körper über dem Wasser zu halten, wenn Gott nicht im voraus das bestimmt hätte, was ich ausführte? Mein Herr, Sie haben mir für nichts zu danken! Die Stunde, die Ihnen in dem Buche des Schicksals bestimmt ist, war nicht auf der Seite eingetragen, auf welcher der Finger des höchsten Richters jenes schreckliche Ereignis bezeichnet hatte.«

»Sie werden mir aber dennoch einige Tage schenken,« entgegnete Albert. »Das ist eine Gunst, eine Gnade, die ich von Ihnen erbitte, und Sie werden mir diese Bitte nicht verweigern. Das Zartgefühl, mit welchem Sie es vermieden haben, an mich Fragen über mein Leben zu richten, macht es mir zur Pflicht, mich gegen Sie auszusprechen. O, ich weiß wohl, daß ich nicht den geringsten Anspruch auf Ihre Teilnahme oder auf Ihre Achtung habe, denn – ich bin für Sie nur ein Fremder – aber dennoch bitte ich, bleiben Sie!«

Ein spöttisches Lächeln umzog die Lippen Benedettos, als er diese Worte vernahm. »Wissen Sie denn nicht,« sagte er, »daß alle meine Augenblicke gezählt sind und daß ich auf der mir vorgezeichneten Bahn nicht ruhen darf, einer Bahn, welche ich, wie Sie sehen, durch Feuer, wütende Wogen und die tausend verschiedenen Gefahren verfolge, von denen sie auf Erden umringt ist?«

»Ja, so haben Sie mir wiederholt gesagt, das heißt, auf eine Weise, die ich nicht zu verstehen vermochte, die mir eben in ihrer Existenz etwas Entsetzliches enthüllte – vielleicht einen sehr bittern Kummer, eine düstere Reue! – Hätten Sie nur ein einziges Mal an mich eine Frage gerichtet, so unbedeutend sie auch gewesen wäre, so würde ich jetzt nicht zögern, mit all der Teilnahme, welche mir die auf die Dankbarkeit gestützte zärtliche Zuneigung zu Ihnen einflößt, Sie zu fragen, worin dieser Kummer besteht? Denn auch ich weiß sehr wohl zu würdigen, was man einen tiefen Kummer nennt!« sagte Albert seufzend.

Benedetto richtete einen forschenden Blick auf ihn, als suchte er in seinen Zügen durch eine Linie, eine Falte, irgend ein Gefühl zu lesen.

»Der Weg, den ich verfolge,« sagte er nach einer kurzen Pause, »ist kein Geheimnis. Ich suche einen Menschen auf, von dem ich nicht weiß, wo er ist. –«

»Wäre ich wohl unbescheiden, wenn ich Sie fragte, was Sie bei Ihren Nachforschungen leiten kann?«

»Das ist ganz einfach! Die Hand eines Toten!« erwiderte Benedetto mit der größten Kaltblütigkeit von der Welt.

Albert richtete einen besorgten Blick auf ihn, denn es schien ihm, als ob solche Worte nur die Folge des Wahnsinns sein könnten.

»Verzeihung mein Herr,« sagte er, »aber diese fürchterlichen Worte machen mich vielleicht neugieriger, als ich sein darf! In dem Augenblick, wo ich, wie Sie sehen, durch die Hand des Unglücks schwer getroffen worden bin, machen sie auf mich einen eigentümlichen Eindruck.«

»Glauben Sie, mein lieber Freund, daß ich nicht wahnsinnig bin, wenn ich Ihnen bestätige, daß gegen die Lebenden die Hand eines Toten gerichtet ist, der noch unter einer Wut erbebt, die nicht mit ihm sterben konnte!«

»Ach, das muß sicherlich ein sehr fürchterlicher Mensch sein, zu dem Sie ein so außerordentlicher Führer entgegenleitet!«

Benedetto blickte umher, als wollte er sich überzeugen, daß niemand sie hörte, ergriff dann den Arm Alberts und sagte mit leiser, aber ausdruckvoller Stimme:

»Haben Sie jemals von dem Grafen von Monte Christo sprechen hören?«

Bei diesem Namen, den Benedetto mit einem wilden Blick nannte, trat Albert einen Schritt zurück, indem er leichenblaß wurde. Dann faltete er die Hände, erhob sie über dem Kopfe, ließ sie beinahe augenblicklich wieder heftig niederfallen und rief:

»Der Verfluchte!«

Benedetto vernahm mit einem unaussprechlichen Ausdruck seiner Züge diese Verwünschung gegen Edmund Dantès.

»Sie kennen den Mann?« fragte er mit sichtlicher Teilnahme, indem er sich Albert näherte.

»Fragen Sie vielmehr den Verurteilten, ob er seinen Henker kennt!« erwiderte er. »Sehen Sie dieses mächtige Phantom aus dem Staube sich erheben, das Verhängnis auf meine ganze Familie herbeirufend! Verflucht sei er, tausendmal verflucht!«

Albert unterbrach sich, trocknete dann eine Träne und flüsterte:

»O meine Mutter, verzeihe mir, wenn ich nicht gleich Dir den Namen eines Mannes ehren kann, dessen fürchterliches Benehmen für mich noch ein Geheimnis ist!«

Benedetto trocknete den kalten Schweiß, der ihm in großen Tropfen von der Stirn herabrann.

»Großer Gott,« flüsterte er, »wieder ein Schrei, der diesen Menschen verurteilt! Seine Verdammung wird daher auf allen Seiten durch Deine mächtige Hand bestätigt!«

Es folgte ein Augenblick des Schweigens.

Benedetto sah aus dem Wesen Alberts, daß er den Grafen von Monte Christo näher kannte, und er beschloß daher, sich genau nach der Ursache eines Rufes der Verwünschung zu erkundigen, der den Lippen seines Genossen entschlüpft war.

»Mein Freund,« sagte er zu Albert, der noch unter dem peinlichen Eindrucke zu leiden schien, welchen der Name Edmund Dantès auf ihn hervorgebracht hatte, »entschuldigen Sie meine Unbescheidenheit, wenn ich Sie frage, welche Art der Verbindung zwischen Ihnen und dem Grafen von Monte Christo stattgefunden hat; aber zwischen ihm und mir schwebt eine Blutschuld, und es ist mir ein Bedürfnis, den Mann, mit dem ich es zu tun habe, genau kennen zu lernen.«

»Sie sollen befriedigt werden, mein Herr,« entgegnete Albert; »erlauben Sie indes, daß ich zuvor mich nach meiner Mutter erkundige, denn ich wünsche, sie so bald wie möglich von hier fortschaffen zu lassen.«

»Gehen Sie; doch wenn Sie meinem Rate folgen wollen, so verzichten Sie auf diesen Plan, der für Ihre Mutter eine nachteilige Unruhe bewirken könnte. Sie können in diesem Gasthause bis zu ihrer vollständigen Wiederherstellung bleiben.«

Ohne ein einziges Wort zu entgegnen, ging Albert nach dem Zimmer, in welchem seine Mutter lag, kniete neben dem Bett nieder, auf welchem sie schlief, betrachtete sie einige Augenblicke, drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und kehrte dann in das Zimmer zurück, in welchem Benedetto seiner wartete.

»Hier bin ich, mein Herr,« sagte er. »Ich will jetzt gegen Sie den Haß aussprechen, den mir der Mensch einflößt, welchen man den Grafen von Monte Christo nennt! Sie sagten mir, daß zwischen ihm und Ihnen eine Blutschuld besteht, in welcher Sie als Gläubiger auftreten. Nun wohl, die Schuld, die zwischen ihm und mir besteht, ist nicht minder fürchterlich, wie groß auch die Ihrige sein mag, und dennoch habe ich den feierlichen Eid geleistet, mich nicht zu rächen!«

»Und wer hat diesen Eid von Ihnen gefordert?«

»Meine Mutter,« entgegnete Albert mit einem unaussprechlichen Ausdrucke der Ehrfurcht.

»Nun beginnen Sie, mein Herr; ich höre.«

Nach dieser Aufforderung kreuzte Albert die Arme über der Brust, lehnte sich auf seinem Stuhle zurück und begann seine Erzählung.

*


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