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V. Das Festmahl der Armen.

Alle Gedanken der frommen Mutter richteten sich jetzt auf die fromme Zeremonie, welche nächstens stattfinden sollte. Sie wählte und fertigte mit ihren eigenen Händen die Kleidung, die sie zu dem Tage des Festmahls der Armen für ihren Sohn bestimmte. Täglich erwachte ein neuer Gedanke in ihr. Bald fehlte eine gestickte Blume in der Ecke des Anzugs, bald war es ein Band, eine Schleife, ein reizendes Nichts, welches noch hinzugefügt werden mußte, um die Eleganz zu vollenden, welche Haydee träumte.

Inzwischen versuchte der Graf von Monte Christo, so viel es ihm möglich war, der verzweifelten Tochter Danglars seinen Schutz zu gewähren.

Er eilte zu ihr und bemerkte voll Besorgnis vor ihrem Hotel eine bespannte Postchaise.

Er fragte, auf wen der Wagen warte, und erhielt die Antwort: Auf die beiden französischen Sängerinnen.

Der Graf stieg schnell die Treppe hinauf, und ohne auf die Bemerkungen der Diener zu antworten, schritt er durch die Zimmer und beschloß, nicht eher anzuhalten, als bis er Eugenie oder Luise treffen würde. Eugenie war es, die sich ihm zuerst zeigte.

Sie war in tiefer Trauer. Leichenblässe bedeckte ihr Gesicht, und sie zeigte jenes finstere, entschlossene Wesen, welches man anzunehmen pflegt, wenn man einen unerschütterlichen Entschluß gefaßt hat.

»Sie wollen reisen, mein Fräulein?« sagte der Graf.

»Ja, Herr Graf. Ich erkenne, daß mein Stern in den Wolken des Unglücks zu verschwinden beginnt; ich füge mich in mein Los und will den Becher eines bittern und grausamen Vergnügens leeren, indem ich alles genieße, was ein Weib an meiner Stelle zu leiden vermag!«

»Eugenie,« erwiderte der Graf, indem er sanft ihre Hand ergriff, »die Art und Weise, wie Sie sich aussprechen, bezeichnet einen sehr großen Schmerz. Sollte sich denn Ihr kräftiger Geist in diesem Grade durch die Worte eines Betrügers niederbeugen lassen, wie die, welche sie gestern von einem elenden Zigeuner vernahmen, dessen Interesse es war, einen tiefen Eindruck auf uns zu machen, um dafür gut bezahlt zu werden?«

»Ach, mein Herr,« erwiderte Eugenie mit trübem Lächeln, »ich weiß nicht, welch ein Geheimnis gestern stattgefunden hat, aber der Zigeuner sagte die Wahrheit in alledem, was mich betrifft! – Der Kopf des Mannes, den ich geliebt habe und noch liebe, ohne daß ich die Kraft habe, dieses Gefühl zu ersticken, wird unter dem Schwerte der römischen Gerechtigkeit fallen!«

»Wäre es denn unmöglich, diese Hinrichtung zu verhindern?«

»Ja! Denn der Verurteilte ist Luigi Vampa und die Römer fordern seinen Kopf! – Sie werden ohne Zweifel über diese Liebe staunen, die ich einem niedrigen Banditen widmete! – Aber Vampa war nicht ein Mann, wie alle andern! Es lag in ihm etwas Energisches und Majestätisches, was ihn über alle andern erhob.«

»Eugenie,« sagte der Graf, »glauben Sie, daß es in der Welt nichts Unmögliches gibt, wenn die Barmherzigkeit Gottes uns unterstützt. Hoffen und glauben – darin besteht die ganze menschliche Weisheit. Hoffen Sie daher und haben Sie Vertrauen!«

»Worauf?« fragte Eugenie, als wollte sie sagen: »Ist doch schon alles zu Ende!«

»Auf Gott, Eugenie; auf Gott!«

»Können Sie denn erlangen, daß Gott den unglücklichen Vampa beschützt?«

»Ich kann es.«

»Wie das?«

»Ich habe schon einmal von dem Papste das Leben eines Menschen erkauft, ich kann also auch das eines andern von ihm erkaufen.«

»Aber um welchen Preis?«

»Es blitzte auf der dreifachen Krone Sr. Heiligkeit ein prachtvoller Smaragd; sollte auf dieser Tiara nicht auch noch Platz für einen andern Smaragd von gleichem Werte sein? Ich glaube es, meine Tochter, ich bin sogar davon überzeugt. Der Papst, dieser Mann, der Gott auf Erden vertreten will, ist kein vollkommenerer Richter wie die übrigen; nur verkauft er die Handlungen seiner Gerechtigkeit vielleicht teurer. Das ist eine Wahrheit, deren Beweis Gott der Welt schon sehr oft gegeben hat. Mir verlieh er die Macht, Angesicht in Angesicht mit dem sichtbaren Oberhaupte der Kirche zu unterhandeln, wie man etwa mit dem Gebieter eines zahlreichen Sklavenhaufens unterhandeln könnte. Ich bin reich genug, um ihm die Hälfte seiner Staaten abzukaufen, und um so mehr also, um ihm das Leben eines armen Banditen zu bezahlen.«

»Ach, Herr Graf!« flüsterte Eugenie, indem sie voll Ehrerbietung seine Hand drückte und sie an ihre Lippen ziehen wollte.

»Was tun Sie, Eugenie?« sagte der Graf, indem er seine Hand zurückzog. »Wir wollen uns miteinander verständigen. Ich habe Ihnen versprochen, den Kopf Vampas zu retten; dagegen aber müssen Sie mir versprechen, dann nicht die erhabene Laufbahn zu verlassen, auf der Ihr Genie sich offenbart hat!«

»Ich schwöre es Ihnen!«

»Sie werden stets die Kunst pflegen, welche durch die Malibran, die Sontag, die Patti berühmt geworden ist, und Sie werden dies so lange tun, als der Lauf der Zeit diese schönen Haare noch nicht bleichte!«

»Ich schwöre Ihnen das auch.«

»Sehr gut! – Ich werde nicht einen Augenblick verlieren, um Vampa zu retten, und habe ich einmal seine Begnadigung von dem Papste erlangt, so wird er, wie ich nicht zweifle, ein rechtschaffener Mensch werden, denn ich kenne ihn und weiß, daß er im Grunde seiner Seele edle Gefühle birgt.«

Der Graf hatte noch nicht ausgesprochen, als Luise d'Armilly erschien, in Reisekleidern und bereit, Eugenie zu begleiten.

»Nein, meine teure Freundin,« sagte Eugenie zu ihr, »für den Augenblick bleiben wir noch in Venedig.«

»Wie kommt das?«

»Ein Strahl ungehofften Glückes, ein Blitz der Hoffnung hat den schwarzen Himmel durchzuckt, den ich Dir gestern beschrieb!«

»Mut, Eugenie! Mut!« sagte der Graf. »Ich verlasse Sie und werde daran arbeiten, daß dieser Blitz nicht bloß ein vorübergehender Strahl sei.«

Der Graf tat einen Schritt, um sich zu entfernen, aber er blieb stehen, um zu hören, was ihm ein Diener des Hotels sagte, der soeben in den Salon getreten war.

»Exzellenz, sind Sie nicht der Herr Graf von Monte Christo?« fragte er.

»Der bin ich.«

»So ist für Ew. Exzellenz dieser Brief bestimmt.«

»Wo kommt er her?«

»Ich kenne den Menschen nicht, der ihn mir übergab, aber er sagte mir, er wüßte, daß Sie in dem Hotel wären, denn er hätte Sie eintreten sehen, und er sagte mir, der Brief käme von Rom und wäre durch einen expressen Boten überbracht worden.«

Eugenie äußerte bei diesen Worten, die sie vernahm, ihre Teilnahme durch eine lebhafte Bewegung; der Graf dagegen wurde unruhig, indem er des Versprechens gedachte, das er Eugenie soeben gegeben hatte. Er hätte, wie dies seine Gewohnheit war, den Brief mit seiner sonstigen Gleichgiltigkeit empfangen und in die Tasche stecken können, um den Augenblick seines Alleinseins zu erwarten, ihn zu lesen: aber das Auge Eugenies war mit einem Ausdrucke so großer Besorgnis auf ihn gerichtet, ihr Blick sprach eine so beredte Bitte aus, daß er sich nicht enthalten konnte, diesem stummen, aber rührenden Verlangen zu genügen. Man hätte sagen können, Eugenie habe erraten, daß dieser Brief ihren Urteilsspruch enthielt. Der Graf öffnete ihn daher. Gleich bei den ersten Worten überzog eine dunkle Röte seine Stirn, und er entfernte sich etwas von den beiden Freundinnen, die, eine auf den Arm der andern gestützt, zwei Angeklagten vor ihrem Richter glichen.

Hier der Inhalt dieses Briefes.

»Herr Graf!
»Ich erfahre soeben, daß Sie in Venedig sind: was ich aber nicht weiß, daß sind Ihre Absichten in Beziehung auf Luigi Vampa. Ich sage Ihnen dies, weil der arme Vampa sich in den Händen der Justiz befindet. Ueber seinem Haupte schwebt nur noch an einem Faden die Mazza des Henkers; Sie haben geschworen, ihn jederzeit zu beschützen: und jetzt scheinen Sie Ihr Wort unerfüllt lassen zu wollen! – Kommen Sie daher, ohne eine Minute zu zögern, denn sonst ist alles für den armen Vampa verloren.

»In der letzten Stunde:
»Ich erfahre soeben, daß Vampa sich in einem Anfalle von Wut in seinem Gefängnis erhängt hat, doch nicht ohne zuvor der Justiz die Verbindungen zu offenbaren, die er mit Ihnen hatte. Ich erfahre ebenfalls, daß der französische Gesandte von seiner Regierung Instruktion gegen Sie empfing, denn man beschuldigt Sie, mehrere Gräber des Kirchhofs La Chaise entweiht zu haben, und unter andern auch die der Familien Villefort und St. Meran. Kehren Sie daher nicht nach Rom zurück und glauben Sie an die Ergebenheit Ihres ehrerbietigen Dieners

Peppino, genannt Rocca Priori!«

Obgleich die Physiognomie des Grafen Monte Christo von erstaunenswerter Regungslosigkeit war und seine Gedanken gewöhnlich selbst für das schärfste Auge ein geschlossenes Buch blieben, ließ er dennoch etwas von dem Gefühle durchblicken, welches er bei der Durchlesung des Briefes empfand. Eugenie entdeckte diesen Ausdruck auf dem Gesichte Monte Christos.

»Irgend eine unangenehme Nachricht?« fragte sie.

»Ach!« rief der Graf, indem er den Brief in der Hand zerdrückte und wie gegen seinen Willen sich den Ausruf entschlüpfen ließ: »Sie haben recht, Eugenie, das Verhängnis lastet auf mir und auf allen denen, die sich mir nahen.«

»Herr Graf, was wollen Sie damit sagen?«

Der Graf blieb stumm.

»Sprechen Sie! – Aus Barmherzigkeit – sonst erwecken Sie in mir den Glauben an eine entsetzliche Wahrheit, « flüsterte Eugenie, indem sie ihre brennende Stirn gegen den Busen Luises stützte.

»Eugenie!« sagte der Graf, indem er sich ihr langsam näherte und einen Blick inniger Teilnahme auf sie richtete.

»Ich verstehe Sie!« sagte Eugenie und trocknete ihre Tränen.

Es entstand ein tiefes Schweigen, ein Schweigen, welches nur durch das unterdrückte Schluchzen Eugenies unterbrochen wurde.

Weder Luise noch der Graf wagten es, sie trösten zu wollen; sie ließen sie die bittern Tränen vergießen, den schmerzhaften Zoll, den sie einer verbrecherischen und verschrobenen Liebe darbrachte, die nur durch die Gewalt der Leidenschaft eine Entschuldigung fand.

Einen Augenblick darauf erhob Eugenie den Kopf; ihr Gesicht war blaß, aber der Ausdruck ruhig und ernst; sie sah den Grafen mit einem Ausdrucke der Trauer an, der ein ewiges und stummes Lebewohl zu enthalten schien; dann wendete sie sich zu Luise und richtete an sie die folgenden Worte:

»Luise, alle meine Illusionen sind für immer verschwunden! – Laß uns reisen! Wer weiß, ob meine Mutter nicht jetzt in Rom das Brot des Mitleids sucht? – Laß uns reisen – nach Rom. – Ich habe dort zwei Opfer zu erfüllen.«

Bei diesen Worten reichte sie Luise die Hand und ging mit festem Schritt durch den Saal.

Der Graf blieb regungslos stehen und erkannte mit unaussprechlichem Staunen die Wahrheit, welche in der sonderbaren Prophezeiung des Zigeuners lag.

*

Es war in Venedig für niemand mehr ein Geheimnis, daß ein wohltätiger Mensch, der unbekannt bleiben wollte, von den Behörden die Erlaubnis erbeten hatte, den Armen der Stadt ein Festmahl reichen zu lassen, und daß dieses in sehr kurzer Zeit stattfinden würde.

Die Behörden beeilten sich, die gewünschte Erlaubnis zu erteilen, und achteten dabei das Inkognito des Wohltäters; demzufolge wußte niemand, wer er war.

Der Graf von Monte Christo kannte den Namen dieses Mannes ebenfalls nicht und mußte gleich allen anderen Neugierigen in seiner Ungewißheit beharren.

Der zu dem frommen Mahle bestimmte Tag war nahe.

Ein Donnerstag des Aprils war dazu gewählt worden.

Die Sonne stand ihrem Zenith nahe, und schon deutete der Zeiger der großen Uhr der Kathedrale fast auf die Mittagsstunde, als der große Markusplatz sich mit dem Volke zu füllen begann, welches aus allen Teilen der Stadt herbeiströmte.

Die Festtafeln waren dem alten Gebäude des St. Markus gegenüber aufgestellt und enthielten Gedecke für mehr als fünfhundert Gäste.

Vier Musikbanden, zwei zu beiden Seiten des Portals der Kirche und die beiden andern auf entgegengesetzten Punkten des Platzes aufgestellt, spielten ohne Unterbrechung die besten Musikstücke und gewährten so ein vortreffliches Konzert.

Die Fenster der umliegenden Paläste waren mit Damen besetzt, deren buntfarbige Toiletten einen reizenden Anblick boten und wesentlich dazu beitrugen, die Pracht des eigentümlichen Schauspiels zu erhöhen.

Es handelte sich hier nicht darum, die bezaubernde oder kräftige Stimme einer berühmten Sängerin zu hören; es galt nicht, dem Verdienste eines literarischen Werkes Beifall zu zollen oder den Blick durch die unglaublichen Sprünge und Verrenkungen einer Seiltänzergruppe entzücken zu lassen; es handelte sich lediglich darum, die Armut zu sehen, die Not, das Elend, wie auch sie einmal, wenn es auch nur für einen kurzen Augenblick geschah, Reichtum und Ueberfluß genossen.

Es handelte sich darum, den armen Greis zu sehen, der seit langer Zeit blutige Tränen vergoß über die gänzliche Entblößung eines Sohnes, und der nun vor Freuden lachte und weinte, indem er sein geliebtes Kind bei dem frommen Feste zufrieden und sich sättigen sah.

Dieses bei den Christen so seltene Schauspiel hatte deshalb nur um so mehr Verdienst.

Das Neue übt eine eigentümliche Gewalt aus.

Die vornehmsten Damen Venedigs hatten sich insgeheim dazu vereinigt, diese Handlung wahrer christlicher Barmherzigkeit dadurch nur noch glänzender zu machen, daß sie Gott das Opfer ihrer Demut brachten, indem sie sich rings um die Tafel verteilten, um mit eigenen Händen die Armen zu bedienen.

Dieser Einfall der edlen Damen Venedigs hatte ebenfalls allgemeinen Beifall gefunden.

Man sah sie reichgeschmückt aus ihren prachtvollen Gondeln steigen, um sich nach der Kirche von St. Markus zu begeben, wo die Armut mit ängstlicher Spannung auf die Stunde wartete, welche die Befriedigung ihres Verlangens verkündete.

Es lag in der Tat etwas Großartiges in dem Eifer, mit welchem die edlen Damen in ihre Arme die kleinen Kinder nahmen und mit ihren reichen, Wohlgerüche duftenden Taschentüchern die Tränen dieser armen kleinen Geschöpfe trockneten: in der Teilnahme, welche sie den Greisen bewiesen, in dem sie dieselben unterstützten, um sich an den ihnen angewiesenen Platz zu begeben, und endlich in der Feierlichkeit, mit welcher sie den Müttern die heiligen Worte des Evangeliums wiederholten, um sie mit dem Glauben an die unendliche Barmherzigkeit Gottes zu durchdringen.

Endlich verkündete die Uhr des Turmes die Stunde zu dem Feste.

Der Zeiger von St. Markus, der seinen mächtigen ehernen Arm drehte, schmetterte mit seiner gewaltigen Stimme die Stunde hinaus, welche zur Verteilung des Brotes und des Weines bestimmt war, die Stunde der Mildtätigkeit, und es schien, als wollte das Echo des Lido der ganzen Welt diese Verkündigung wiederholen.

Unter dem Klange der Instrumente, unter dem feierlichen Geläute der Glocken sowie unter dem Beifallsgeschrei der Bevölkerung von Venedig nahmen die Armen ihre Plätze ein, und das Fest begann.

Wie groß aber auch die Anstrengungen waren, welche die Neugier machte, den Urheber dieses Schauspiels zu entdecken, gelang es doch niemand, das Geheimnis zu durchdringen.

Der Graf von Monte Christo, welcher neben seiner jungen reizenden Gattin stand, die ihren Sohn auf dem Arm hielt, ließ vergeblich seinen ruhigen, forschenden, durchdringenden Blick, der ihn charakterisierte, umhergleiten, um den geheimnisvollen und großherzigen Wohltäter zu entdecken.

Befand er sich wirklich hier zugegen, so mußte er sozusagen den Ausdruck seines Gesichts nach dem aller ihn umgebenden Physiognomien modeln, und nichts verriet ihn.

Haydee dachte nur daran, ihrem Knaben das erhebende Schauspiel begreiflich zu machen, an welchem das liebliche Kind teilnehmen sollte, wie der Zigeuner es empfohlen hatte.

Das Kind, welches sich von dieser ganzen eigentümlichen Welt umgeben sah, blickte mit verwundertem und besorgtem Wesen auf seine Mutter, als wollte es sie fragen, was dieser erhabene Auftritt des Christentums zu bedeuten hätte.

»Mein Sohn,« sagte mit leiser Stimme Haydee, indem sie ihn an ihren Busen drückte, »der Gott des Weltalls zeigt sich hier in seinem ganzen Ruhm und seiner ganzen Majestät, indem er den Armen gibt, was der Armen ist. Ist das nicht wahr, mein Freund?« fügte sie hinzu, indem sie sich zu dem Grafen wendete. »Findest Du dieses Schauspiel nicht bewunderungswürdig? Findest Du nicht, daß das, was ich unserm Kinde sagte, die Wahrheit ist?«

»Ja, meine Haydee,« entgegnete Monte Christo; »indes liegt doch in alledem etwas, was mich verletzt, was mich verwundet! Ich möchte nicht, daß diese Feierlichkeit sich verlängerte, welche in meinen Augen mehr Eitelkeit offenbart als einfache christliche Mildtätigkeit.«

»Wieso das?« fragte Haydee verwundert.

»Das Evangelium,« entgegnete der Graf, »sagt: Wenn deine rechte Hand ein Almosen gibt, so laß deine linke Hand nichts davon wissen! – Wenn wir also großmütig sind, dürfen wir nicht zugeben, daß die Posaune der Fama unsern Namen oder unsere Wohltat laut verkünde! – Begreifst Du jetzt, meine teure Freundin, den Beweggrund meiner Betrachtung? Ich erblicke in all diesem Prunke einen Nebengedanken! – Das ist keine einfache christliche Mildtätigkeit!

»All die Armen, die Du hier siehst, würden es bei weitem vorziehen, das Almosen unter ihrem Dache, nur in der Gesellschaft ihrer Frauen und Kinder, zu empfangen. Dieser Prunk verletzt sie! Die Anwesenheit dieser edlen Damen legt ihnen Zwang auf! Betrachte sie nur, wie schweigsam sie sind und wie sorgenvoll ihre Gesichter sich zeigen! Wie regungslos sie werden, sobald einer dieser prunkenden Dienerinnen sich ihnen nähert! – Oh, menschliche Eitelkeit, wohin verirrst du dich!« fuhr der Graf mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke der Geringschätzung fort, – »selbst noch bei der Erteilung des Almosens willst du deinen höllischen Prunk entfalten! – Ach, wie unvollkommen ist doch der Glaube des Menschen! – Sieh, meine Haydee, wie unvollständig die Handlung der Demut ist, welche diese vornehmen Damen ihrem Gotte darbringen! Die reichsten Edelsteine glänzen an ihnen; in eben dem Augenblicke, wo sie sich herabzulassen wünschen, erheben sie sich stolz; sie zeigen auf eine auffallende Weise den Unterschied, der zwischen ihnen und den Kindern des Elends besteht.

»Doch der Augenblick ist gekommen, um unserem Kinde das Brot der Armut zu bieten. Nimm ihm den Schmuck ab, der es bedeckt, meine teure Freundin; zerreiße das kostbare Kleid, das es schmückt und gib sein blondes Haar dem Winde preis!«

Indem er so sprach, leisteten seine Hände Haydee Beistand, seinen Gedanken auszuführen. Haydee wagte es nicht, ihm zu widersprechen, so sonderbar ihr auch die Unordnung in dem Anzuge ihres Kindes erschien.

»Wir werden jetzt aller Welt eine vortreffliche Lehre geben,« sagte der Graf zu seiner Gattin. »Mein Sohn, der Erbe eines Vermögens, welches hinreicht, die ganze Stadt Venedig zu kaufen, geht barfuß mit zerrissenen Kleidern und unordentlichem Haar, die Luft dieser elenden Bettler zu teilen, als ob er fähig wäre, auch ihren Kummer und ihre Schmerzen zu teilen, als ob er dieselben schon begreifen könnte!

»Auf, Haydee; der Augenblick ist gekommen!«

Haydee, welche das Kind auf ihren Armen trug, ging jetzt zu den Festtafeln. In diesem Augenblicke standen einige Arme auf und gingen, wie durch den Zufall geleitet, nach der Gegend, wo Haydee sich befand.

»Meine Freunde,« sagte Haydee zu ihnen, »im Namen Gottes bitte ich Euch, mein Kind das Brot teilen zu lassen, das Ihr esset.«

Die Armen umringten die schöne und junge Mutter und boten ihr ein Stück Brot.

Haydee brach mit den Fingern einen kleinen Bissen davon ab, steckte ihn in den Mund ihres Sohnes und sagte:

»Iß, mein Sohn, es ist das Brot des guten Gottes, und jetzt gib den braven Leuten, die Dich hier umringen, einen Kuß. Sie sind Deine Freunde und Du wirst der ihrige sein.«

Diese kleine Gruppe wurde bald der Zielpunkt aller Zuschauer, welche in Menge dem Orte zuströmten, wo dieser sonderbare Auftritt einer erhabenen Kommunion stattfand. Alle waren überrascht und zu gleicher Zeit entzückt durch die himmlische Zerknirschung, welche sich in den Zügen und dem Wesen Haydees aussprach.

Der Graf von Monte Christo blieb einen Augenblick von seiner Gattin und seinem Sohne getrennt.

Das Volk eilte hastig und neugierig herbei und wurde es nicht müde, zu sehen und zu bewundern – wie immer bei ähnlichen Veranlassungen.

Da drückte Haydee einen Kuß auf die rosigen Wangen ihres Kindes und legte es dann in die Arme eines der Bettler. Dieser küßte es und gab es dann einem zweiten, der sein Beispiel nachahmte.

Haydee, welche ihrem Knaben mit dem Blicke folgte, stieß plötzlich einen gellenden Schrei aus, der mit einem fürchterlichen Ausdrucke der Angst das allgemeine Schweigen durchbrach, welches in diesem Augenblicke rings umher herrschte.

Diesem Schrei der höchsten Qual folgte augenblicklich das dumpfe Geräusch von tausend Stimmen, ähnlich dem fernen Grollen des Donners.

Der Graf von Monte Christo, welcher sich in die dichte Masse des Volkes stürzte, trachtete vergebens, bis zu seiner Gattin zu gelangen; sie wurde ihm durch den lebenden Strom der Menge fortgetragen.

Bald begann das Meer menschlicher Köpfe sich mit einem entsetzlichen und drohenden Ansehen zu bewegen.

Es entstand eine furchtbare Unordnung.

Alle schrien und tobten ohne bestimmten Gedanken, ohne Zweck und Ziel, und all den Lärm, all das Geschrei, all die Ausrufe des Schmerzes, der Verzweiflung, der Wut übertönte eine Stimme, welche mit kläglichem, herzzerreißendem Ausdruck rief:

»Mein Sohn! Mein Sohn!«

Die Stimme war die Haydees.

Bevor die Polizei den Tumult auf dem Platze zu beschwichtigen vermochte, hatten Streitigkeiten, viele wahre Kämpfe stattgefunden; eine Menge Körper waren erbarmungslos unter die Füße getreten worden.

Der Graf, welcher unablässig, doch schweigend gegen die Massen kämpfte, die ihm den Weg versperrten, drang in der Richtung vorwärts, in welcher er Haydee zu finden glaubte. Nicht ein einziger Schrei entrang sich seinen Lippen; keine Träne benetzte die bleichen Wangen des Grafen von Monte Christo, dessen Kräfte sich in eben dem Maße zu verdoppeln schienen, in welchem der Widerstand sich verdoppelte.

Endlich gelang es der Polizei, das Volk auseinander zu treiben. Der St. Markusplatz hatte sein Aussehen gänzlich verändert. Die Festtafeln waren zertrümmert. Die Türen der Kirche, die Fenster der Paläste hatte man sorgfältig geschlossen, und die Seufzer der Opfer waren das finstere Orchester des Schauplatzes eines Gemetzels.

Der Graf richtete sich jetzt in seiner ganzen Höhe auf dem Fuße einer der Säulen am Portikus der Kirche empor und ließ seine flammenden Blicke über das Schauspiel gleiten, das sich vor ihm entrollte.

Plötzlich sprang er hinab und lief auf eine Frau zu, die in einer Ecke des Platzes auf den Knien lag, den Kopf auf die Schulter gesunken und die Augen geschlossen.

»Haydee! Haydee!« rief er, indem er sie in seine Arme nahm und emporhob, als wäre sie ein schwaches Kind.

»Oh, Fluch über mich, ewigen Fluch, daß ich so unsinnig war!« rief er verzweiflungsvoll.

Dann zog er aus seiner Tasche ein kleines Fläschchen und träufelte einige Tropfen einer grünlichen Flüssigkeit auf die Lippen Haydees. Sie öffnete die Augen, streckte die Arme aus und erbebte, als ob das Blut seinen Kreislauf in ihren Adern wieder begönne.

»Wo ist mein Sohn,« jammerte sie. »Ach, sie haben uns unser Kind gestohlen!«

»Haydee,« antwortete ihr der Graf mit einer Ruhe, welche eigentümlich gegen den verzweifelten Ausdruck seiner Gattin abstach: » Gott hat es gewollt

*


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