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Kehren wir jetzt zu der kleinen Insel Monte Christo zurück, wo wir den Grafen verlassen haben.
Es war am Tage nach dem, an welchem Peppino seine Schuld der Dankbarkeit dadurch bezahlte, daß er Edmund Dantès das Leben rettete.
Der Graf von Monte Christo lag auf den Knien am Rande des Abgrundes, in welchen die Leiche Haydees hinabgerollt war. Die Augen gen Himmel gerichtet, betete er aus dem Grunde seiner Seele. Er hatte sich als guter Christ in das bittere Los gefügt, welches seiner in dieser Welt wartete; er hatte einen Entschluß gefaßt und kniete zum letztenmale auf diesem Felsen nieder, richtete sein letztes Lebewohl an die ihm so teure Leiche, die zerschmettert am Boden des Abgrundes lag.
Dann erinnerte er sich, daß ein kleines Boot seiner in einer von den südlichen Buchten der Insel wartete, und er stieg langsam zu dem Ufer hinab, um den verhängnisvollen Ort zu verlassen.
Den Kopf gesenkt, die Arme matt herabhängend, schritt er der Bucht zu, als plötzlich ein Mann vor ihm stand, als wäre er aus dem Boden gewachsen.
Es war Benedetto.
Er trug keine Maske; sein Gesicht war ruhig. Sein gelassener Blick heftete sich fest auf das niedergeschlagene Gesicht des Grafen von Monte Christo und seine Lippen zogen sich zu einem Lächeln zusammen, bei dem die Ironie durchleuchtete. In geringer Entfernung stand Peppino, genannt Rocca Priori; in seinem Gürtel steckten zwei ausgezeichnete Pistolen.
Der Graf und Benedetto betrachteten sich gegenseitig während einiger Zeit und mit tiefem Schweigen.
»Erkennst Du mich endlich, Edmund Dantès?« fragte Benedetto, indem er die Arme über der Brust kreuzte.
»Ja!« flüsterte der Graf.
»Darüber bin ich sehr froh; denn sonst hätte ich Dich an den Namen jenes Fürsten Andreas Cavalcanti erinnern müssen, den Du improvisiertest, um in einem Deiner verfluchten und entsetzlichen Lustspiele eine Rolle zu übernehmen!«
»Und Sie sind der Mann, der mich so sehr verfolgte?« sagte der Graf, indem er den Kopf schüttelte und diese Worte mit einer leichten Bewegung der Verachtung begleitete. »Und allen Ihren Handlungen der Gewalttätigkeit, die Sie nur in der Absicht begingen, Reichtümer zu besitzen, geben Sie schamlos den pomphaften Namen göttlicher Gerechtigkeit?«
»Sie irren, Herr Graf von Monte Christo!« entgegnete Benedetto ruhig. »Es war nicht das Verlangen, Reichtümer zu besitzen, wie Sie soeben sagten! Ich besitze heute deren ebensoviele als an dem Tage, bevor ich Sie der Ihrigen beraubte. Sie sind bereits unter die Armen verteilt und das, was davon übrig blieb, wird es binnen kurzer Zeit ebenfalls sein. Wenn ich Sie mitleidlos verfolgte, so geschah es nur, um das unschuldige Blut meines Bruders Eduard zu rächen!«
»Ihres Bruders?« fragte der Graf.
»Ja! Mir ist die fürchterliche Geschichte meiner Geburt nicht unbekannt; das heißt – ich weiß, wer der Urheber meiner Tage ist – und kaum habe ich noch nötig den Namen meiner Mutter zu erfahren.«
Der Graf lächelte bedeutungsvoll.
»Kennen Sie sie vielleicht?«
»Ja!«
»So sprechen Sie!« rief Benedetto, »und ich gebe Ihnen alles, was Sie fordern.«
»Ich weise Ihre Anerbietungen zurück, Benedetto; Sie verdanken das Leben der Baronin Danglars.«
Benedetto taumelte einen Schritt zurück und stieß einen Schrei der Ueberraschung aus.
Es entstand ein Augenblick des Schweigens.
»Ich danke Ihnen, Herr Graf,« sagte er mit wildem Wesen; »ich danke Ihnen für Ihre Großmut und bin überzeugt, daß Sie mir dieselbe nicht bewiesen haben würden, hätten Sie nicht berechnet, was ich durch diese Entdeckung leiden muß. – So hören Sie mich denn an: es ist das letztemal, daß wir uns einander gegenüber erblicken: schenken Sie mir daher Ihre Aufmerksamkeit, denn ich will Ihnen Rechenschaft über einige Personen ablegen, die Sie gekannt haben. – Baronin Danglars ist durch mich bestohlen und in das äußerste Elend versetzt worden,« sagte Benedetto voll Bitterkeit; dann fuhr er sogleich fort: »Ich weiß nicht, wo sie ist – ich weiß selbst nicht einmal, ob sie noch lebt. – Was den Baron Danglars betrifft, so beendete er seine verbrecherische Laufbahn auf die gleiche Weise, wie er sie begonnen hatte: das heißt, er ist wieder gemeiner Matrose geworden und fiel während einer Sturmnacht unter den Streichen eines Menschen, der gleich ihm an Bord meiner Jacht, »der Sturm«, sich befand und bei mir den Posten eines Piloten versah.
»Ich habe Ihnen jetzt nur noch zu sagen, was aus Luigi Vampa geworden ist. Sie haben stets diesen kecken Bösewicht beschützt, und dies zwar während eben der Zeit, als Sie sich damit rühmten, Raub und Verbrechen mit aller Strenge zu bestrafen! – Ich dagegen, ich habe ihn gegen eine Handvoll Piaster der römischen Justiz ausgeliefert, die ihn seiner Strafe unterwerfen wird, ehe ein Monat vergeht.
»Jetzt, wo ich Sie dem höchsten Grade der Verzweiflung überliefert sehe: jetzt, wo ganz Italien Ihren Namen verflucht oder Sie für vollkommen toll hält: jetzt, wo Sie weder Gattin noch Sohn mehr haben: jetzt, wo Ihnen nicht so viel bleibt, um für morgen Ihr tägliches Brot zu kaufen; jetzt endlich, wo für immer der improvisierte Graf von Monte Christo mit seinem ganzen Zauber zu Grunde geht, jetzt werden Sie erkennen, daß, wenn Gott Sie unmenschlich reich machte, dies nur geschah, damit Sie die Tugend belohnten, ebenso wie er mich mit der höchsten Kühnheit und Verwegenheit begabte, um das Verbrechen zu bestrafen. Wir sind beide nur die einfachen Werkzeuge der göttlichen Gerechtigkeit gewesen; unsere Aufgabe ist erfüllt, und wir sinken wieder in das Nichts zurück.
»Die Familie Morel lebt glücklich, ebenso wie mehrere andere Personen, mit denen Sie Ihr Glück teilten; Sie aber, Sie enden in dem Elend, weil Sie den Stolz besaßen, sich für einen begeisterten Apostel zu halten.
»Die Schuld ist bezahlt und die Hand des Toten kehrt zu ihrem Körper zurück! –«
Indem Benedetto diese Worte sprach, öffnete er schnell ein kleines Kästchen, nahm darauf die vertrocknete Hand, die es enthielt, hervor, schwang sie heftig gegen Edmund Dantès Gesicht und rief:
»Mensch, der Du durch das Uebermaß Deiner Leidenschaft verblendet warst – sei für immer verflucht!«
Der Graf stieß einen Schrei der Verzweiflung aus.
Benedetto und Rocca Priori waren verschwunden.
Der Graf blieb einige Augenblicke stehen, das Gesicht in die Hände gedrückt; dann blickte er umher, und als er sich allein sah, schritt er der südlichen Bucht zu.
Peppino und Benedetto beobachteten den Grafen von einem kleinen Felsen aus.
»Gut,« sagte Benedetto, indem er sich zu Peppino wendete. »Jetzt ist alles zu Ende!«
»Wieso das, Meister?«
»Von jetzt an trennen sich unsere Wege. Jeder verfolge den, welcher ihm zusagt.«
»Sie wollten sich von mir trennen?«
»Wie Du sagst. Sobald Du mich nach Frankreich gebracht hast, übergebe ich Dir meine kleine Yacht. In dieser Brieftasche befindet sich eine Summe, die ich zu Deiner Verfügung stelle, und Du kannst gehen, wohin Du willst.«
»Es ist gut; ich nehme das an,« sagte Peppino. »Seitdem ich bei Ihnen gewisse Regungen des Ehrgefühls erkannt habe, will ich Sie zu meinem Beispiel nehmen und gebe Ihnen die Versicherung, daß ich mich auf eine rechtliche Weise in Paris niederlassen werde. Wenn Sie zu irgend einer Zeit meiner Dienste bedürfen sollten, so würden Sie mich dazu stets bereit finden.«
»Wir werden uns nie wiedersehen!« sagte Benedetto, indem er die Augen gen Himmel erhob und bedeutungsvoll lächelte.
»Weshalb nicht?«
»Denken Sie, die Erde hätte sich geöffnet, um mich zu verbergen. Ich werde verschwinden!«
»Wenn ich nicht einige Ihrer originellen Einfälle kennte, so würde ich sagen, daß Sie träumen!«
»Unsinniger! Und was ist denn das alles?«
»Das Leben! Ist es nicht bloß ein Traum? – Vor noch nicht langer Zeit wiederholte die ganze Welt mit Enthusiasmus den Namen des berühmten Grafen von Monte Christo! Und wo ist er jetzt? Wo sind die Lobsprüche, die man ihm zollte? Wo sind seine ungeheuren Reichtümer und der Zauber, den er dadurch ausübte? Seine schöne griechische Geliebte? – Befrage diese Felsen, die Zeugen waren, wie er sich bereicherte, wie er sich durch die süßesten Illusionen berauschte! – Befrage den endlosen Raum, der uns umgibt, und alles wird Dir antworten: Traum, Wahnsinn, Raserei!«
Peppino blieb einen Augenblick nachdenklich stehen, als überlegte er irgend etwas. Dann erhob er den Kopf und fragte mit einer gewissen Teilnahme:
»Und der Sohn des Grafen? Ich hoffe, daß Sie die traurige Absicht aufgegeben haben werden, ihn zu ermorden.«
»Beruhige Dich. Ich werde ihn einer gewissen Familie übergeben, die in Rom lebt. Sie wird sich des Kindes annehmen, indem sie das Geheimnis seiner Geburt achtet. – Laß uns gehen, Rocca Priori. Unsere Geschäfte auf dieser Insel sind beendigt.«
Indem Benedetto dies sagte, stieg er, begleitet von Peppino, die Klippen nach der Nordseite hinab und ging an Bord seiner Yacht, »der Sturm«, die auf ihn wartete.
*
Vierzehn Tage nach den Ereignissen, die wir soeben erzählten, blieb ein Mann, der sorgfältig in einen dunkelfarbigen Mantel gehüllt war, unter dem er irgend etwas verbarg, was die Gestalt eines Kindes von drei bis höchstens vier Jahren zu haben schien, vor dem Eisengitter stehen, welches den Garten Morels, in der Nähe Roms, schloß.
Es war Nacht. Der Mond ging soeben auf und beleuchtete mit zweifelhaftem Lichte die weiße Fassade des einfachen Gebäudes, in welchem man nur mit Mühe ein offenstehendes Fenster erkennen konnte.
Nachdem der Mann in dem dunklen Mantel aufmerksam gelauscht hatte, ob er kein Geräusch von Schritten vernähme, und überzeugt, daß niemand ihn sähe, trat er zu dem Gitter, öffnete mit einem Schlüssel die Tür, schritt durch den Garten und blieb an der Treppe stehen.
Hier nahm er den Mantel auseinander, streckte die Arme aus und legte auf die unterste Stufe der Treppe den Körper eines Kindes, welches in tiefem Schlafe zu liegen schien.
Dann wieder zurückgehend, schloß er die Tür und zog heftig an der Glocke, deren Läuten weithin zu vernehmen war.
Bei diesem Zeichen erschien Valentine an dem offenstehenden Fenster, während ein Diener, der hinausging, einen Schrei der Ueberraschung ausstieß und auf der Treppe stehen blieb.
»Pietro,« fragte Valentine, »was ist geschehen?«
»Jesus, Madame, es liegt hier auf der Treppe ein Kind!«
Valentine verließ das Zimmer und ging hinab.
»Wahrlich!« sagte sie. »Aber wer hat das arme Kind hierher legen können?«
»Die Tür ist verschlossen,« sagte Pietro, der aus dem Garten zurückkehrte, »und ich habe auf dem ganzen Wege keine Seele bemerkt.«
Valentine nahm das Kind auf ihre Arme, ging nach dem Salon und suchte Max auf.
»Mein Freund,« sagte sie, »der Himmel schenkt uns zwei Kinder; hier ist der Gatte des kleinen Mädchens, das bei uns geboren wurde.«
Sie erklärte Max mit wenigen Worten, was soeben vorgefallen war. Das Kind betrachtete neugierig seine Umgebungen und verbarg dann das Gesicht an dem Busen Valentines.
»Laß uns sehen, was das Papier enthält, das hier an der Brust des Kindes steckt,« sagte Max.
»Du hast recht!« rief Valentine, indem sie das Papier nahm, es öffnete und las:
»Madame, Sie sind gut und mildtätig, deshalb übergebe ich Ihnen im Namen Gottes dieses Kind, welches Sie erziehen sollen, als ob es Ihr eigenes wäre. Das unschuldige Wesen ist eine Waise; seine Geburt rührt erst von dem heutigen Tage her und muß in Zukunft ein tiefes Geheimnis zwischen Gott und der Vergangenheit bleiben. Sein Name ist Edmund.«
Das Papier trug keine Unterschrift. Tränen traten in die Augen Valentines, welche schwur, der unglücklichen Waise Mutter zu sein.
Max vermochte es nicht, ihr bei dieser frommen Absicht Widerspruch entgegenzusetzen, und von diesem Augenblicke an ließen sie beide es ihre Sorge sein, die zwei unglücklichen Wesen, welche das Geschick ihnen anvertraut hatte, auf das beste zu erziehen; und die beiden Kinder wuchsen und gediehen unter Liebkosungen, wie die Lieblingsblumen in dem Garten der sanften und guten Valentine.
*