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Carl August Wunderlich

(1815-1877)

Ein Plan zur festeren Begründung der therapeutischen Erfahrungen

Antrittsvorlesung, gehalten zu Leipzig, den 12. März 1851

Als Aufgabe für diese Stunde habe ich mir gestellt, von der Therapie zu sprechen, von der Therapie, jenem Teile unserer Medizin, der als die Spitze und das Endziel aller ärztlichen Bestrebungen gilt oder gelten soll und den doch heutzutage gar viele unter Laien und Ärzten nicht ohne mitleidiges Achselzucken nennen hören.

Die letztvergangene Zeit hat in Einsicht in die Vorgänge des kranken Körpers bedeutende Fortschritte gemacht. In pathologischen Dingen sind prinzipiell jetzt alle wissenschaftlichen Ärzte einig. Forderungen, die mir, als ich sie vor 10 Jahren zu stellen wagte, fast überall als Häresien angerechnet wurden, sind jetzt selbstverständliche Gemeinplätze geworden, und der physiologischen Medizin ist, dem Worte nach wenigstens, ein jeder zugetan.

Hat aber die Therapie, die eigentliche soziale Aufgabe des Arztes, an den Fortschritten ihren Teil gehabt? Das ist es, was viele bezweifeln, manche geradezu in Abrede stellen. Hier, in der Therapie gilt es heutzutage, zu sagen, was man will, und wie man es will.

Es gab einmal eine Zeit, und sie ist noch nicht lange hinter uns, wo der Ausdruck, einen Kranken nach den Regeln der Kunst behandeln, lege artis behandeln, einen Sinn hatte.

Der Sinn des Ausdrucks, ja der Ausdruck selbst ist uns jetzigentags fast abhanden gekommen.

Früher existierten wohl verschiedene ärztliche Schulen und Sekten neben- und nacheinander. Sie bekämpften sich mit ihren theoretischen Anschauungen und mit ihren therapeutischen Grundsätzen; aber innerhalb der Schule waren feste Regeln vorgeschrieben, war die Wahl des Kurverfahrens nicht in die Willkür des einzelnen gelegt.

Anstatt der doktrinären Starrheit begegnen wir heute der vollendetsten therapeutischen Anarchie.

Nicht etwa bloß, ob man reizend oder kühlend verfahren müsse, ob dieses oder jenes Medikament indiziert sei, ist die Frage, sondern fast für jeden Krankheitsfall gibt es kaum irgendeine erdenkliche Kurmethode, die als allgemein verurteilt angesehen werden dürfte. Und bemerkenswert ist es, wie eben jetzt angesichts der stolzen Versicherungen von allen Seiten, daß die Medizin in die Reihe der exakten Wissenschaften eingetreten sei, die Verzweiflung an der Möglichkeit einer vernunftgemäßen Therapie nicht wenige Ärzte, und tüchtige Kräfte unter ihnen, dem rohesten, grundsatzlosesten Empirismus in die Arme treibt, und wie neben der kräftigsten und lebhaftesten Entwicklung der Wissenschaft erst recht und mehr als je zuvor das Zeitalter des systematischen Charlatanismus begonnen zu haben scheint. Und andere wiederum, wahrlich nicht die schlechtesten und unwissendsten unter den Ärzten, haben sich ausdrücklich oder unter irgendeiner Bemäntelung fast von aller Therapie losgesagt und begnügen sich, die beruhigten Zuschauer und Beobachter bei der Entwicklung der krankhaften Prozesse zu sein.

Woher dieser trostlose Zustand? Muß es dahin kommen, daß ein ehrlicher Mann nicht mehr Arzt heißen kann?

Oder können wir hoffen – nicht daß jener Zustand ein Ende erreichte: Denn unverbesserliche Köpfe wird es immer geben, die Anarchie hat ihr Bequemes, der Charlatanismus seine Vorteile und das passive Zuschauen am Krankenbett ist nicht minder verführerisch, läßt sich mit ebensoviel Geschick von dem unwissendsten wie von dem gründlichst gebildeten Arzte vollbringen, wird daher unter der ersten Klasse niemals ohne unbedingt ergebene Anhänger sein – nein! Können wir wenigstens hoffen, daß das von allen intelligenten Ärzten empfundene Postulat einer festern Grundlage der therapeutischen Erfahrungen und daß damit eine Verständigung erreicht werde?

Es ist vollkommen zuzugeben, daß der Unglaube an die geläufige Therapie seine Berechtigung, wenigstens seine scheinbare Berechtigung hat; es ist auch dem Gemütszustande jener Ärzte Rechnung zu tragen, die verwirrt durch die theoretischen Streitigkeiten über Therapie nach etwas Positivem griffen, mochte es ihnen auch von der Hand eines schlecht verhüllten Charlatanismus oder eines in Selbsttäuschung verfangenen Phantasten geboten werden.

Lassen Sie mich, ehe ich mich zu den Mitteln zur Heilung des Zustandes wende, erst von den Umständen sprechen, von denen er abhängt, durch welche der Glaube an die Therapie erschüttert werden und der therapeutische Skeptizismus zum Merkmal besonderer Wissenschaftlichkeit sich erheben konnte.

Schon die Verschiedenheit der noch in gläubig therapeutischen Zeiten herrschenden und einander ablösenden Grundsätze und Systeme mußte Zweifel gegen deren Unfehlbarkeit rege machen. Die Medizin und die Therapie speziell hat am Wendepunkte unseres Jahrhunderts große Revolutionen durchgemacht. Kaum waren noch Brech- und Purgiermittel in voller Geltung, so kamen mit der Brownschen Lehre die stärksten Reizmittel an die Reihe. Ihre Herrschaft hatte noch nicht ein halbes Menschenalter gedauert, so wurden sie wie die ersteren als eminent schädliche Substanzen verurteilt und nur milde Tisanen, Schleime gereicht, dafür aber Blut in Menge gelassen. Wiederum einige Jahre, und Mittel, die man eben noch kaum in kleinster Dose zu reichen sich erlaubte, wurden in einer zuvor für giftig gehaltenen Gabe verwandt. – Indessen wußte man die aus solchen Umwälzungen in der Therapie sich erhebenden Zweifel zum Teil damit zu beruhigen, daß man eine Änderung des Krankheitscharakters annahm, die dann auch die Änderung des therapeutischen Verfahrens rechtfertigen sollte.

Schwieriger war der Ausweg bei einer anderen Art von Erfahrungen, empfindlicher der Stoß von dieser Seite. Seit 30 Jahren ungefähr beschäftigt man sich ernstlich mit einer Schule der Heilkunst, welche man kaum als ärztliche Sekte bezeichnen möchte, deren baldigen Untergang die Ärzte hundertmal prophezeiten, und die dessenungeachtet, wenn auch mit allen Waffen der Dialektik geschlagen, verspottet, verhöhnt und polizeilich verfolgt, von Jahr zu Jahr mehr sich ausdehnte und in dem Augenblicke mehr blüht als jemals. Ich meine die Homöopathie. In der ersten Zeit ihres Auftretens glaubten gar viele Ärzte rasch mit dieser sonderbaren Lehre fertig zu werden. Die Prinzipien wurden mit allem Scharfsinne bekämpft und widerlegt. Aber das Publikum ist taub gegen solche Belehrungen; da schwiegen die Ärzte, hoffend, das Publikum werde durch Schaden klug werden; denn wenn auch einmal ein alter chronischer Fall durch die strenge homöopathische Diät gebessert werde, so werde, dachten sie, bei den akuten und schweren Krankheiten, bei den Lungenentzündungen, Nervenfiebern, Hirnentzündungen, wo doch die Notwendigkeit der medikamentösen Therapie so unzweifelhaft sei, die ketzerische Lehre sich schmählich erproben. Aber was geschah? Allmählich ward die Homöopathie nicht bloß die Zuflucht verzweifelter Fälle, sie drang in die tägliche Praxis ein, sie bekam so gut als die alte Schule akute und schwere Krankheiten, Lungenentzündungen, Nervenfieber, Hirnentzündungen usw. zu behandeln; sie gab ihre verlachten und verspotteten Streukügelchen, und – ihre Kranken starben nicht mehr als die der altgläubigen Ärzte; sie genasen so schön wie bei den Ärzten von der zweitausendjährigen Erfahrung. Das Publikum urteilt nach dem Erfolg; unter den Ärzten selbst aber fing die Meinung an Platz zu greifen, daß denn doch vielleicht die althergebrachten Mittel und Methoden in gefährlichen Krankheiten nicht ganz so absolut und unumgänglich notwendig seien, als man bis dahin geglaubt hatte.

Unterdessen war man bei Beobachtung der Kranken selbst auf ganz andere Bahnen gekommen. Die Erforschung der reellen Veränderungen im kranken Leibe nahm alles Interesse in Anspruch und gab raschere und palpablere Resultate als die Prüfung der Heilmethoden. Und das Studium der pathologischen Anatomie gab nicht nur der Aufmerksamkeit eine Richtung, welche sie von der Therapie ablenkte, sondern sie stimmte auch die Hoffnungen auf einen Erfolg der Therapie überhaupt herab. Die großen Zerstörungen, die man in der Leiche fand, die massenhaften Exsudate, die die Organe bedecken, mußten, als man erst anfing, mit ihnen vertraut zu werden, den Beobachtern imponieren. Wie konnte man hoffen, mit den kleinsten Mitteln der Apotheke gegen solche ausgedehnte Verwüstungen zu streiten. So kam in der ersten Periode der pathologisch-anatomischen Richtung in Frankreich die Potio gummosa und das Zusehen an die Tagesordnung, wie wir das in neuerer Zeit zum zweiten Male erlebten.

Noch ein weiterer Grund der Abneigung gegen die Therapie liegt in einem Mißverstehen derjenigen neueren Richtung der Medizin, welche man die physiologische nennt. Manche wähnen, bei dieser Richtung müsse sich alles erklären lassen und wollen nicht glauben, was sie nicht begreifen können. Als ob nicht feste Tatsachen ein würdiger Inhalt einer Wissenschaft wären! Die Unerklärlichkeit eines Faktums ist niemals ein Beweis gegen seine Existenz. Wollen wir wegen Unerklärlichkeit die Wirkungen eines Mittels bezweifeln, so müssen wir auch die Wirkungen des Brechmittels und der Purganzen, des Weins und der Gifte in Zweifel ziehen, Wirkungen, die doch jeder nach Lust an sich erproben kann, und die darum doch so unerklärlich sind wie jeder andere wirkliche oder zweifelhafte therapeutische Erfolg. Selbst die Unerklärlichkeit etwaiger Wirkungen der unendlich kleinen homöopathischen Gaben ist der schlechteste Einwurf gegen die Homöopathie. Denn was die Homöopathen von ihren Wundern erzählen, ist nicht viel staunenswerter, als wenn wir sehen, daß eine kleine Menge Morphium eine Körpermasse außer Aktivität setzt, die 4 Millionen mal so viel wiegt wie die kleine Dose des Mittels, welches vor aller Augen jene in Schlaf bringen kann. Nicht das Fabulose und Exzentrische der Behauptungen der Homöopathen ist es, was sie uns verdächtig machen darf, sondern daß sie niemals versuchten, ihre Behauptungen zu beweisen und ihre Erfahrungen am Krankenbette, die sie haben mögen, auf eine wissenschaftliche Weise objektiv zugänglich zu machen – freilich ein Vorwurf, den sie mit ziemlichem Recht der allopathischen Therapie zurückwerfen können, welche letztere aber eben wegen Vernachlässigung dieser Pflicht jetzt von allen Seiten her Angriffe erdulden muß.

Alle diese angegebenen Verhältnisse vermochten wohl einen Zweifel gegen die Therapie zu rechtfertigen; Beweise gegen sie sind sie nicht, höchstens Beweise gegen die eine oder die andere therapeutische Methode.

Aber die Zweifel sind da! Und es gibt keine ernstere und wichtigere Frage in unserer Wissenschaft als die, ob und inwieweit die Zweifel gegründet sind.

Es ist darum Pflicht jedes Arztes, welchem therapeutischen Bekenntnisse er auch angehöre, und wie fest oder schwankend er in seiner Überzeugung von der Richtigkeit derselben sein möge, fortwährend mit ängstlicher Sorgfalt zu prüfen, ob die von ihm angewandten Methoden die erwarteten Erfolge bringen, ob die von andern empfohlenen solche für sich haben.

Diesem, man sollte glauben, sich von selbst verstehenden Postulate ist nicht oder durchaus in unzulänglichem Maße entsprochen worden. Der Fehler liegt jedoch weniger an den Ärzten und ihrem guten Willen als vielmehr an der Schwierigkeit der Sache und an dem Mangel einer richtigen Methode der Prüfung und Forschung.

Das Gedeihen einer Wissenschaft beginnt erst damit, daß sie sich exakter Methoden der Forschung bedient.

Die Therapie stellt nur ein Aggregat von geglaubten und bestrittenen Erzählungen und Regeln dar, sie ist keine Wissenschaft, weil es ihr an der Methode fehlt. Wenn von vielen Seiten her verlangt und versucht wurde, der Therapie eine wissenschaftliche Form zu geben, so hätte mit besserem Erfolge erst danach getrachtet werden sollen, ihr eine ihren Zwecken und Bedürfnissen entsprechende wissenschaftliche Methode festzustellen.

Welches sind die bisherigen Versuche, den therapeutischen Erfahrungen Festigkeit zu geben, und wie haben die einzelnen Sekten unter den Heilkünstlern getrachtet, durch gründliche Forschung die Experientia fallax zu zuverlässigen Antworten zu zwingen?

Die gewöhnlich einzige Gewähr für den Erfolg einer Behandlungsweise sind die Versicherungen aus den Reminiszenzen der Praxis. Zwar sind jene früher alltäglichen allgemeinen Phrasen seltener geworden, wo es hieß, eine Kurmethode habe sichtlich das Leben gerettet, ein Medikament habe seine ganze Kraft entfaltet, das Mittel habe alles geleistet, was man von einem Mittel erwarten könne, Redensarten, bei denen wir nur freilich niemals erfuhren, was es denn eigentlich geleistet, was man von ihm erwartete, was seine Kraft ist, und wie es das Leben rettete. Solche Redensarten sind in Mißkredit gekommen, aber die Sache, die man mit ihnen bemäntelte, steht darum um so nackter da. Es ist schon schlimm, wenn die therapeutische Überzeugung des einzelnen auf nichts als auf Reminiszenzen des Selbsterlebten gebaut ist; denn man weiß, wie trügerisch diese Erinnerungen sind, wie gerade die auffallenden, exzeptionellen Fälle am meisten sich einprägen, wie gern die Fälle im Gehirn sich mit der Zeit verdoppeln und vervielfachen, und wie es auf die subjektive Stimmung ankommt, ob man die Erfahrung häufig oder selten gemacht zu haben glaubt. Was dem Vorsichtigen manchmal heißt, das ist für den Sanguiniker oft oder immer, für den Zweifler selten oder niemals. Es ist als wollte ein Physiker die mittlere Temperatur eines Ortes aus den Reminiszenzen feststellen, wie oft er gefroren oder geschwitzt habe. Was soll aber daraus werden, wenn widerstreitende Behauptungen, auf individuelle Reminiszenzen gestützt, einander gegenüberstehen; wie soll da jemals eine Verständigung, eine Entscheidung möglich werden? – Und doch sind es solche Reminiszenzen, auf welche sich alle therapeutischen Bekenntnisse stützen. Die meisten Arzneimittel sind fast nur nach Reminiszenzen empfohlen, der Wasserdoktor beruft sich auf seine individuellen Erfahrungen und zählt die Nichterfolge nicht neben den Erfolgen; die ganze jetzt so blind adoptierte Rademachersche Erfahrungsheillehre ist auf nichts gestützt als auf die Reminiszenzen eines einzelnen Mannes. Und auch der Verächter der Therapie gründet fast durchaus sein verwerfendes Urteil auf Reminiszenzen und ist in dieser Hinsicht nicht besser als der Rezeptkomponist der alten Schule, der Wasserkünstler oder Rademacherianer.

Manche hoffen, den Nutzen der Mittel auf theoretischem Wege zu erreichen, und halten nur therapeutische Methoden für zulässig, für deren Wirksamkeit sie eine Erklärung auffinden können. Zu solchen Erklärungen ist besonders die neuere Chemie in Anspruch genommen worden. Dies soll rationelle Therapie sein. Aber rationelle Therapie ist die, die nach Motiven handelt, und die Motive, welche dem reinen Gebiete der Tatsachen, auch der unerklärlichen, entnommen sind, sind mindestens nicht schlechter als die, welche auf Scheingründen und Hypothesen fußen. Die Versuche, durch theoretische Nutzendeduktion die Heilsamkeit der Mittel zu beweisen oder rationelle Mittel zu finden, sind bis jetzt fast ohne Ausnahme mißlungen.

Eine ganz andere und weit vorzüglichere Methode, die Wirksamkeit der Mittel evident zu machen, ist das direkte Experiment an Tieren und an Gesunden. Wir müssen es dankend anerkennen, daß wir die Initiative zu diesen Forschungen den Homöopathen verdanken, und daß sie es sind, welche sie vornehmlich verfolgten. Nur haben sie damit nicht das bewiesen, was sie zu beweisen glaubten. Diese Experimente sind nur insofern von Wichtigkeit, als sie nach Belieben oft und mit Modifikationen wiederholt werden können, und daß sie, wo sie Resultate geben, eine Einwirkung des Mittels überhaupt und speziell eine Einwirkung auf bestimmte Organe nachweisen. Dies ist ihr ganzer Nutzen, und jede voreilige Verwendung jener Resultate für die Therapie, wie sie von den Homöopathen z. B. prinzipiell geschieht, ist geradezu verderblich und irreleitend. Denn im kranken Körper sind neue Verhältnisse, neue Kombinationen und namentlich vielfältigere Kombinationen, wodurch die Wirkung der Mittel vereitelt oder modifiziert werden kann. Wir haben am Opium ein schlagendes Beispiel hierfür, indem dieses Mittel auf denselben Menschen, den es im gesunden Zustande mit Sicherheit betäubt, in manchen Krankheiten diese Wirkung selbst bei enormen Dosen auch nicht in einer Andeutung ausübt.

Die Erfahrungen über therapeutische Mittel und Methoden können mit Erfolg nur am kranken Menschen gemacht werden. Aber setzen wir auch die größte Genauigkeit der Einzelbeobachtung und die treueste Aufzeichnung derselben, ohne welche niemals etwas in Naturwissenschaften geleistet werden kann, voraus, so bleibt doch eine eminente Schwierigkeit für eine exakte Wissenschaft der Therapie, daß wir niemals die Gegenprobe machen können. Wir können fast niemals mit annähernder Sicherheit in dem Einzelfalle bestimmen, welchen Verlauf die Erkrankung genommen hätte, wenn ein anderes Verfahren eingeschlagen worden wäre. Darum ist jeder Einzelfall unbeweisend, und wenn es auch schien, als ob wir vom Rande des Grabes den Kranken durch unsere Mittel zurückgerissen hätten! Es gibt Fälle genug, wo noch in der scheinbar letzten Stunde von selbst eine Wendung zur Besserung eintritt. Dies ist es denn auch, was die Verächter der Therapie mit Glück jeder Einzelbeobachtung entgegenhalten können.

Es gibt nur ein Mittel, diesem Übelstande zu entgehen: es ist die Massenbeobachtung, die Statistik. Jeder Arzt soll Statistiker sein, jeder Arzt soll Buch führen über Erfolge und Nichterfolge, an allen Orten sollten statistische Vereine der Ärzte zur gegenseitigen Ergänzung der Kräfte bestehen. Jeder angehende Mediziner soll sich von Anfang an gewöhnen zu zählen; denn mit Zählen, mit Messen und Wägen fängt alle Naturbeobachtung erst an ernstlich zu werden.

Aber, wird man mir entgegnen, daß die Statistik, seit 20 Jahren durch Louis in Frankreich in die Medizin eingeführt, hat für die Therapie bis jetzt noch wenig Früchte getragen; mit der Statistik hat man immer alles beweisen können, und die Resultate der therapeutischen Statistik haben nur den trostlosen Satz bestärkt, daß es ganz einerlei sei, wie man die Kranken behandele, daß bei der einen Methode ungefähr ebensoviel sterben als bei der anderen. Diese Resultatlosigkeit hängt nicht von der Statistik ab, sondern von der schlechten Verwendung, die man von ihr machte. Jedes Ding muß seine Entwicklung haben; auch die medizinische Statistik mußte ihr Stadium cruditatis haben. Trachten wir, sie derjenigen Entfaltung zuzuführen, deren sie fähig ist, so wird sie nicht nur die Frage über den relativen Wert eines Kurverfahrens zur Entscheidung bringen, sondern wir haben von ihr und von ihr allein zu erwarten, daß sie den eigentlich feinen Indikationen, deren wir in den individuellen Fällen bedürfen, eine solide Grundlage gebe.

Wir müssen als vordersten Grundsatz der therapeutischen Statistik aufstellen, daß bei der statistischen Prüfung niemals ein therapeutisches Verfahren im Einzelfalle angeordnet werden darf, das nicht nach der Beschaffenheit des Kranken zu rechtfertigen ist. Das ist eine Forderung der Humanität, welche uns nicht erlaubt, um eines wissenschaftlichen Zwecks wegen einen Menschen aufs Spiel zu setzen. Glücklicherweise aber fällt die Forderung der Humanität vollkommen mit dem Bedürfnis der Wissenschaft zusammen. Zwar trete ich hierbei mit der ganzen bisherigen therapeutischen Statistik in Opposition. Diese verlangt und hat es durchgeführt, daß eine Anzahl der an einer gegebenen Krankheit Leidenden nach der einen Methode, eine andre Anzahl ohne alle Auswahl nach einer zweiten oder dritten streng formulierten therapeutischen Methode behandelt und daß nicht ein Jota davon abgewichen werde, wie es auch dem Kranken ergehen möge, da nur von den Nummern der Todesfälle bei den verglichenen Methoden die Entscheidung abhängig gemacht wird. Dieses Verfahren ist barbarisch; noch mehr, es ist für die Entscheidung irgendeiner Frage vollkommen nutzlos. Und in diesem Verfahren liegt der Grund, daß die therapeutische Statistik keine Ausbreitung gewinnen konnte. Niemals zeigen die Fälle, die man zur statistischen Prüfung bringt, solche Übereinstimmung, daß ein und dasselbe Verfahren für alle passend wäre. Eine große Anzahl der in Rechnung genommenen Fälle wird also in dieser Weise bei jeder Methode verkehrt behandelt, und wir erhalten nicht eine Statistik darüber, welches die nützlichste Methode ist, sondern höchstens eine Statistik darüber, welches die gefährlichste bei unbesonnener Anwendung werden kann. Wenn in Frankreich der Typhus mit Laxieren, Blutentziehungen und ohne Medikamente in statistischer Vergleichung behandelt wurde und das Resultat ungefähr die gleiche Sterblichkeit bei allen diesen Methoden ergab, so können wir nichts weiter daraus schließen, als daß bei dieser Krankheit eine den individuellen Umständen keine Rücksicht tragende Behandlung stets gleich ungeschickt sei. Und wenn Dietl in den Jahren 1842 und 1843 die Pneumonien mit Venaesektion, 1843 und 1844 mit Brechweinstein und in den zwei folgenden Jahren mit diätetischen Mitteln behandelte und dabei fand, daß das Mortalitätsverhältnis bei Venaesektion und Brechweinstein 20 %, bei der diätetischen Behandlung nur 7 % betrug, so könnte neben manchen andern Einwendungen gegen die ganze Anlage seiner Statistik vielleicht auch geschlossen werden, daß Lanzette und Medikamente bei Mangel an Vorsicht gefährlicher sind als Nichtstun.

Im Gegensatze also zu Louis, welcher jede Wahl der zu erprobenden Mittel nach rationellen Indikationen perhorresziert, verlange ich, daß man sich nur von solchen, seien sie nun wirklich oder vermeintlich, leiten lassen darf; wobei ich unter rationeller Indikation nicht etwa bloß die theoretische Deduktion aus Hypothesen, sondern und vornehmlich die angebliche und geglaubte Erprobung des Mittels durch frühere Erfahrungen in entsprechenden Fällen verstehe. Wir werden z. B., wenn wir die Wirkung der Aderlässe bei Pneumonischen statistisch erproben wollen, nicht Fälle dabei in Rechnung ziehen, bei denen des hohen Alters oder sonstiger Umstände wegen die Aderlässe zum voraus verderblich erscheinen; denn wir wollen nicht den Grad der Verderblichkeit eines Mittels prüfen, sondern den Grad der Sicherheit seines Nutzens und die Punkte erfahren, wo dieser Nutzen zu erwarten ist. Es hängt das Verkennen dieser Verhältnisse von Seiten der bisherigen Statistik damit zusammen, daß man ganz falsche Fragen der Statistik vorlegt. Nicht das ist zu fragen, wie wirkt ein Mittel, eine Methode gegen ein Ding, Namens Pneumonie, Namens Typhus, sondern wie wirken sie auf Menschen, welche infiltrierte Lungen, geschwürige Därme haben, bei denen aber zugleich die verschiedensten andern Organe in mannigfach ungewöhnlichem Zustande sich verhalten können. Und der Fehler der alten Statistik wird um so größer, als sehr häufig gerade von diesen andern Organen die Lebensgefahr abhängt.

Aus dieser Betrachtung geht zugleich hervor, daß die Statistik unrecht verfährt, wenn sie nur das Endresultat des Falles: Tod oder Genesung berücksichtigt. Fast jeder Fall ist eine so lange Kette von Ereignissen, daß der Schluß derselben mit Anfang und Mitte nur in sehr fernem Zusammenhange steht. Endliche Genesung wie Tod kann eintreten, ohne daß das früher angewandte Medikament, die früher gemachten Aderlässe darauf im mindesten von Einfluß sind. Es sind daher vor allem die nächsten Folgen des angewandten Kurverfahrens, welche natürlich immer mit Rücksicht, ob sie nicht wesentlich bloß vorübergehende sind, durch die Statistik herausgestellt werden müssen. Das Endresultat kann nur in geeigneten Fällen und mit Umsicht in Mitrechnung gezogen werden.

Dabei darf sich die statistische Beobachtung des Grundsatzes jeder Naturbeobachtung nicht entschlagen: Des Grundsatzes, zu analysieren! Solange sie nur den Totaleffekt in Bausch und Bogen berücksichtigt, bleibt sie grob und unbrauchbar. Vielmehr hat sie auf die einzelne Veränderung zu sehen, wie oft und wieviel im Durchschnitte mindert sich die Pulsfrequenz, die Atemfrequenz, die erhöhte Hautwärme? wie oft bessert sich das Allgemeingefühl, mindern sich die örtlichen Schmerzen? In welchem Organe mindern sie sich am sichersten, am schnellsten? Die Fragen sind unzählig, von denen ich nur einige Beispiele angegeben habe. Aber erst wenn wir in dieser Weise die Wirkung eines Medikaments oder eines Verfahrens auf das Einzelphänomen statistisch erprobt haben, haben wir eine feste Grundlage für die Beurteilung seines Wertes und seines Einflusses.

Wohl zu beachten und von der bisherigen Statistik fast ganz übersehen ist auch, daß die Aufgabe der Therapie nicht bloß in der Herbeiführung der Genesung besteht, sondern auch in Minderung der Beschwerden. Jede Beschwerde ist eine Gefahr, jede Beseitigung derselben, wenn nicht andere Gefahren dadurch herbeigeführt werden, ist ein Erfolg. Daher ist auch die therapeutische Statistik ebensowohl in unheilbaren wie in heilbaren Krankheiten zu verwenden.

Auch bei indiziert scheinender Anwendung eines Kurverfahrens wird man häufig die Erfahrung machen, daß die erwartete Wirkung des Mittels der Kurmethode ausbleibt. Eine Reihe solcher negativen Resultate, mit den positiven verglichen, wird die Anhaltspunkte geben, wovon das eine Mal die Wirksamkeit, das andre Mal die Nichtwirksamkeit des Mittels abhing und – überall die Zahlen in der Hand – müssen unsere Indikationen und Kontraindikationen eine andere Basis gewinnen, als die ist, deren sie sich herkömmlich erfreuen.

Anstatt des bisher herrschenden Grundsatzes, eine bestimmte Krankheitsform zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu machen, scheint es für die therapeutische Statistik passender zu sein, ein bestimmtes Mittel zum Untersuchungsobjekt zu wählen. Von Krankheitsformen, auch wenn sie den gleichen Namen führen, wird man selten eine genügende Anzahl hinlänglich übereinstimmender Fälle zur Verwendung haben, selbst wenn man auch nicht die Forderungen Gavarrets befolgen will, der, ausgehend von dem sog. Gesetz der großen Zahlen, 300 übereinstimmende Fälle als Minimum verlangt und dadurch jede Anwendung der Statistik unmöglich macht.

Geht man aber von dem Mittel oder dem Kurverfahren aus, so ist eine feste und annähernd gleiche Größe leichter zu erhalten. Wir wenden das Kurverfahren an, wo es uns indiziert scheint ganz unbekümmert um den Namen der Krankheit, wir trennen die Fälle, wo es nützte, gleichgültig ließ oder schadete, wo es dieses oder jenes Phänomen hervorrief, mäßigte oder steigerte, und untersuchen nun, was in jeder dieser Reihen die dahinfallenden Krankheitsfälle Übereinstimmendes zeigen und werden dabei nicht immer gleiche Krankheitsnamen, dagegen Zustände finden, die bei heterogenen Benennungen doch als therapeutische Objekte komparabel sind. – So gelangen wir zu ebenso scharfen und feinen als möglichst sichern Indikationen, und in dieser Weise kann auch das kleinste statistische Material nützlich und belehrend sein.


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