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(1818-1896)
Rede, gehalten am 4. Juli 1872 in der Sitzung der Akademie der Wissenschaften in Berlin zur Feier des Leibnizischen Jahrestages
Die Sitte unserer Akademie, alljährlich an bestimmten Tagen ihres geistigen Urhebers, Leibniz', und ihres königlichen Neubegründers, Friedrichs des Großen, lobend zu gedenken, beruht nicht auf Statuten und könnte zu des Spartaners Frage veranlassen, der eine Lobrede auf Herakles hörte: Wer hat sie denn getadelt? Aber indem die Akademie ihren Stiftern fast göttliche Ehre erweist, – denn nur in der Gottheit Lob, der sie unendliche Eigenschaften zuschreiben, können die Menschen sich nicht erschöpfen und brauchen sie Wiederholung nicht zu scheuen – fühlt sie sich selber geadelt und erhoben. Mit demütigem Stolze lieben wir, alljährlich aus Leibniz' Gedankenmeer einen Trunk zu schöpfen oder an dessen Strand uns zu ergehen und uns zu erinnern, daß von Leibniz zu uns ein wohl hier und da gelockerter, doch nie ganz unterbrochener Faden geschichtlicher Beziehungen läuft. Je dichter und weiter der Baum der Wissenschaft seine Äste in das lichte Reich der Wahrheit streckt, um so ernster opfern wir am Fuße des Stammes, der Zeiten eingedenk, da mancher heut schattenspendende Zweig noch schlafendes Auge war.
Keine Art der Betrachtung scheint uns würdiger, diese öffentlichen Zusammenkünfte einzuleiten. Im allgemeinen ist unsere Zeit wissenschaftlicher Rückschau wenig hold. Im stets wachsenden Drange des Tagewerkes, im Wettkampf mit immer sich mehrenden Scharen von Arbeitern, in der Hast des Hervorbringens, in der Überstürzung eines Ehrgeizes, der mit dem Beifall des Tages vorlieb nimmt, weil er an wahrhaft großen, nur durch langatmige Arbeit zu erringenden Erfolgen verzweifelt: Wie bliebe dem heranwachsenden Geschlechte von Forschern noch Zeit und Lust zu künstlerischer Pflege des Erzeugten, vollends zu sinniger Betrachtung der Vergangenheit? Der Weg, den die Vorfahren in der Wildnis wanderten, bis das fruchtbare sichere Land sich öffnete, das wir bewohnen, ihre Irrungen, ihre Mühsale, ihre Kämpfe werden mehr und mehr vergessen. Kaum daß mit einigen von mythischem Hauch umwitterten Namen noch eine unbestimmte Vorstellung bei der Menge sich erhält, von wannen einst der Zug der Halbgötter kam.
Aber fragt man, worin akademisches Forschen, Wissen und Lehren von banausischem Treiben sich unterscheide, so ist sicher dies einer der bezeichnenden Punkte. Daß man wahrhaft nur das kenne, was man wenn auch nur im Geiste werden sah, ist längst eine triviale Wahrheit. Gleichviel ob es um einen Organismus, ein Staatswesen, eine Sprache oder eine wissenschaftliche Lehre sich handle, die Entwicklungsgeschichte erschließt am besten Bedeutung und Zusammenhang der Dinge.
Daraus scheint unmittelbar zu folgen, daß die beste Art, eine Wissenschaft mitzuteilen, Erzählung ihrer Geschichte sei. Auch liegt Richtiges in dieser Schlußfolge, obschon ihre Anwendung notwendig beschränkt bleibt. In den geschichtlichen Wissenschaften und den beschreibenden oder vorzugsweise auf Beobachtung angewiesenen Naturwissenschaften tritt die aus inneren Gründen vor sich gehende Entwicklung zu sehr zurück gegen den Einfluß äußerer Umstände. Der Bau der mathematischen Wissenschaften verwächst auf jeder Stufe zu einem so innigen Gedankengefüge, daß die Spuren seiner Entstehung fast ganz verschwinden. Weder dort noch hier dürfte die geschichtliche Methode des Vortrages am Platze sein.
Wohl aber kann diese Methode in den auf Induktion beruhenden Zweigen der theoretischen Naturwissenschaft wie beispielsweise in der Physiologie von großem und eigentümlichem Vorteil werden.
Für die richtige Art Physiologie vorzutragen, und zwar gleichviel ob im Lehrbuch oder im Hörsaal halte ich zunächst die induktive Darstellung im Gegensatz zu der in Lehrbüchern nicht selten gebrauchten dogmatischen Darstellung.
Dogmatisch nenne ich den Vortrag, der die Wissenschaft Satz für Satz scheinbar fertig mitteilt als ein nach so und so viel Ober- und Unterabteilungen geordnetes System von Tatsachen; der das Ergebnis der Untersuchung in Gestalt eines Lehrsatzes voraufschickt und die begründenden Tatsachen gleichsam als Bedeckung hinterdrein sendet; der die Wissenschaft zu einem toten Fachwerk erstarren läßt, statt daß sie als ein in lebendiger Entfaltung begriffener Organismus erscheinen sollte.
Dem Stümper, der zum Zwecke einer Prüfung rasch auswendig lernen, oder dem Praktiker, der Vergessenes nachsehen will, mag mit solcher Darstellung gedient sein. Eben darum ist sie handwerksmäßig, und sie wird der Forschung keine Jünger erwecken. Dem Lernenden sollen nicht bloß die schon gewonnenen Ergebnisse vorgeführt werden, die beziehungslos ihm entgegentretend leicht ohne Sinn und Bedeutung bleiben. Da er die Frage nicht kennt, was kann die Antwort ihm frommen? Da er nicht weiß, was es zu suchen galt, wie kann der Fund ihn interessieren? Die richtige Methode ist vielmehr, dem Phänomen gegenüber den Kausalitätstrieb des Schülers zu erwecken; ihm die Möglichkeit der Aufdeckung des zureichenden Grundes in Gestalt von Hypothesen zu zeigen; diese Hypothesen in der Idee durch Beobachtung und Versuch zu prüfen, um nach gehöriger Experimentalkritik zwischen ihnen zu entscheiden; von der gewonnenen neuen Grundlage aus einen ähnlichen Schritt weiter zu tun und so an der Hand der Erfahrung von Stufe zu Stufe mit dem Schüler zur Theorie sich zu erheben, die dann durch Proben und Gegenversuche noch Bestätigung erhält. Führt die Untersuchung, wie dies in der Physiologie oft geschieht, nicht zu diesem Ziele, so bleibt der Lehrer mit dem Schüler, was diesem nicht minder nützlich ist, auf dem Punkte stehen, wo es augenblicklich eben nicht weiter geht, und wo der Geist naturwissenschaftlicher Forschung erheischt, daß man mit ruhiger Entsagung vorläufig am möglichst reinen und vollständigen Ausdruck des Tatbestandes sich genügen lasse.
Bei dieser Darstellung gewinnt die Wissenschaft ein spannendes Interesse, welches zu dem Interesse bei dogmatischer Darstellung etwa so sich verhält wie das eines Epos zu dem eines Lehrgedichtes und oft auch auf stumpfere Naturen seine Wirkung nicht verfehlt. Der forschende Menschengeist erscheint wie im siegreichen Kampf begriffen mit der hartnäckig Aufschluß verweigernden, oft tückische Fallstricke legenden Natur ähnlich dem Menelaos, da er den ägyptischen Proteus zum Enthüllen verborgener Weisheit zwang. Indem von Anfang an das Ergebnis der Untersuchung mit Bewußtsein verfolgt wird, kann über dessen Sinn und Tragweite der Schüler nie im Zweifel sein. In so verwickelten Dingen, wo die Wahrheit nicht unmittelbar einleuchtet, ist es wichtig, nicht bloß das Richtige zu beweisen, sondern auch das Falsche vorweg zu widerlegen, auf das einer verfallen könnte. Beim dogmatischen Vortrage bietet sich dafür kaum ein natürlicher Platz. Dem induktiven Vortrage dagegen steht es wohl an, durch Ausschließung aller irrigen Möglichkeiten zum Rechten gleichsam sich hindurchzuarbeiten. Dieser Vortrag zeigt unmittelbar, was an jeder Stelle noch zu tun übrig bleibt. Endlich je seltener das Lesen von Originalabhandlungen der Meister ward, welche wie des Wissens wahrer Quell, so auch des angehenden Forschers wahre Schule sind, und je mehr die wissenschaftliche Jugend sich daran gewöhnt, aus dürftigen, matten Berichten zweiter Hand ihre Kenntnisse zu schöpfen; um so wünschenswerter ist es, daß sie von vornherein Unterricht darin erhalte, wie Naturwahrheiten gesucht und gefunden werden. Wer wiederholt im Geiste jenen Weg induktiver Forschung geführt wurde, wird vor einem Problem sich selbst überlassen, sei es im Laboratorium, sei es am Krankenbett, bewußt oder unbewußt ihn wieder einschlagen.
Doch läßt sich dem induktiven Lehrvortrage leicht noch höherer Wert und noch lebhaftere Färbung erteilen. Es ist vielleicht bisher nicht hinlänglich beachtet worden, daß der geschichtliche Gang induktiver Wissenschaften meist nahe derselbe ist wie der Gang der Induktion selber. Hegel lehrte bekanntlich, daß die Geschichte der Philosophie im allgemeinen ein Abbild der logischen Begriffsentwicklung im menschlichen Geiste sei, welche sich wiederholend immer höhere Stufen erklomm, bis sie in seinem Systeme gipfelte. Etwas Ähnliches trifft in der induktiven Naturwissenschaft zu, nur daß dem Naturforscher die Überhebung fremd bleibt, seine Einsicht für die letzte erreichbare Stufe der Erkenntnis zu halten. Wie bei einer einzelnen Versuchsreihe eines und desselben Forschers der Gang der Versuche und die logische Entwicklung der gesuchten Wahrheit sich decken, und zwar um so genauer, je geschickter die Untersuchung geführt wurde Das schlagendste Beispiel ist das der Entdeckung der Säule durch Volta. Vergl. meine »Untersuchungen über thierische Elektrizität«. Berlin 1848, Bd. 1, S. 91, 92., so ist dies auch im großen und ganzen der Fall mit den Arbeiten der begabten Männer, die im Laufe der Zeit, der eine auf des anderen Schultern stehend, dem Ausbau einer besonderen Disziplin ihre Kräfte widmeten. Bis in ihre Irrtümer schließen nach innerer Notwendigkeit die einzelnen Experimentatoren auf ihrem Standpunkte so, wie der die Untersuchung in Gedanken wiederholende Kopf an der entsprechenden Stelle zu schließen geneigt ist. Natürlich bedingen die unvermeidlichen Zufälligkeiten des Entdeckungsgeschäftes – unerwartet sich darbietende Wahrnehmungen und gleichsam divinatorische Einfälle – Abweichungen von diesem regelrechten Gange Ich freue mich, in dieser Bemerkung zusammenzutreffen mit dem Manne, der vielen seiner Schüler seine eigne tiefe Neigung zur geschichtlichen Betrachtung der Wissenschaft eingeflößt hat. Seine Schilderung der Verdienste Humboldts um die Meteorologie in der, kurz nachdem ich diese Rede hielt, erschienenen Biographie des gefeierten Altmeisters eröffnet Hr. Dove mit den Worten: »Es gibt physikalische Disziplinen, deren Geschichte eine so systematische Entwicklung zeigt, daß man über die unbewußte Konsequenz der sich allmählich läuternden Vorstellungen erstaunen muß.« Nachdem dies an dem Beispiel der Elektrizitätslehre nachgewiesen worden ist, heißt es: »Solch systematisches Fortschreiten tritt aber vorzugsweise nur in den eigentlich experimentellen Untersuchungen hervor, viel weniger in den Disziplinen, welche überwiegend auf Beobachtungen gegründet sind. Hier ergänzt oft ein glücklicher Zufall eine lange gefühlte Lücke.« ( Al. v. Humboldt. Eine wissenschaftliche Biographie usw. Leipzig 1872, Bd. III, S. 90.). Schwerlich aber sind in der Geschichte induktiver Wissenschaften solche Abweichungen größer und häufiger als in der Geschichte der Spekulation die Abweichungen von dem durch Hegel behaupteten Entwicklungsgesetze.
Wenn nun die induktive Darstellung, wie ich zu zeigen versuchte, in der Physiologie die beste ist, und wenn häufig der geschichtliche Gang der einzelnen Untersuchungen dem induktiven Gang entspricht, so liegt es nahe und ist in solchen Fällen auch möglich, der induktiven Darstellung zugleich den geschichtlichen Charakter zu geben. Dadurch erreicht man einen namhaften Vorteil. Wie man eine eigene Experimental-Untersuchung am lebendigsten und eindringlichsten mitteilt, indem man erzählt, was man suchte, und was man fand; welche Möglichkeiten man sich dachte, und was davon eintraf, was nicht; welche Fehler man machte, und wie man von der Natur zurechtgewiesen ward, bis zuletzt der wahre Sachverhalt wie von selber ans Licht springt; so kann man eine induktive Wissenschaft, die Kollektivarbeit aller folgweise daran beteiligten Geschlechter von Forschern, oft nicht besser darlegen, als indem man deren Wachstum schildernd die einzelnen Schritte der Untersuchung durch die Männer tun läßt, die sie einst wirklich zurücklegten. Man lehrt so zugleich die Wissenschaft und ihre Geschichte.
Auch dem minder Begabten und Geringeres Erstrebenden nützt diese Art des Vortrages, indem sie Tatsachen und Meinungen an Persönlichkeiten knüpft. Anstatt einer Belastung des Gedächtnisses erwächst daraus vielmehr eine mnemonische Hilfe. Freilich muß dazu die Verknüpfung nachdrücklicher geschehen, als es durch einen bei der Meinung oder Tatsache eingeklammerten Namen. Für empfänglichere Gemüter aber wird so der Reiz der Wissenschaft vervielfacht. Für diese liegt meist ein hinreißender Zauber in dem geistigen Umgang mit den großen Gestalten der entschwundenen Meister. An ihnen richtet der Jünger sich auf, und gewinnt er das Maß der eigenen Kraft. Sie irren zu sehen, erweckt nicht seinen Hochmut, sondern lehrt ihn unterscheiden zwischen unvergänglichen Tatsachen und vergänglichen Meinungen. Wer die Wissenschaft als ein Werdendes überliefert erhielt, fühlt sich gleichsam aufgefordert, selber an deren Ausbau sich zu beteiligen. Es liegt etwas Ermutigendes in dem Anblick, wie die Natur jedes wahre Bestreben und die gelehrte Nachwelt jeden noch so geringen Dienst belohnt. Endlich die nationale Unparteilichkeit und geschichtliche Gerechtigkeit, welche diese Art des Vortrages voraussetzt, machen sie des deutschen Charakters in der Wissenschaft besonders würdig.
Von der politischen Geschichte heißt es, sie sei da, damit man aus ihr lerne, daß man aus ihr nichts lernt. Es wäre schlimm, könnte man von der Geschichte der Wissenschaft das gleiche sagen. Denn auch ihr fehlt es nicht an dunklen Seiten. Für die deutsche Naturwissenschaft war bekanntlich die Zeit zu Ende des vorigen Jahrhunderts bis ziemlich tief in dieses hinein, abgesehen von einzelnen hervorragenden Erscheinungen, solch eine finstere Periode. Ähnlich einem hochbegabten, aber unreifer Schwärmerei hingegebenen Jüngling, noch taumelnd vom ästhetischen Trunk aus dem Zauberborn seiner großen Literaturepoche, ließ der deutsche Geist durch poetisch-philosophisches Blendwerk sich irren, und verlor er den in der Naturforschung einzig sicheren Pfad. Eine falsche Naturphilosophie beherrschte die Katheder und drang bis in die Akademien; die Spekulation verdrängte die Induktion aus dem Laboratorium, ja fast vom Seziertisch.
Diese Scharte ist ausgewetzt, und mit denselben Gaben, welche ihm einst verderblich wurden, hat der deutsche Geist die ihm gebührende Stelle unter den Ersten auch in der Naturwissenschaft wieder eingenommen. Mittlerweile hat die spekulative Philosophie ihrer eigenen Aussage nach die Höhe erreicht. In Eklektizismus aufgelöst, hat sie dann einige Jahrzehnte hindurch dem Aufschwung der Naturwissenschaft mit ungewisser Haltung zugeschaut und in dieser kritischen Stimmung nicht viel Teilnehmer um sich versammelt. Neuerlich ist ihr die Hoffnung zu weiteren Fortschritten erwacht, und mit ihrem Glauben an sich wuchs auch wieder die Zahl ihrer Anhänger.
Die Naturforschung ihrerseits ist an mehreren Punkten bis an die Grenze ihres Gebietes gelangt. Die Physiologie der Sinne führt so unmittelbar in die Erkenntnistheorie; die Lehre von der Erhaltung der Kraft, die Kritik des Vitalismus, die Entstehungsgeschichte der Welt und der Organismen bieten so vielfach und so natürlich Gelegenheit zu metaphysischen Meinungsäußerungen, daß es den Anschein gewinnen konnte, als strecke die Naturwissenschaft der Spekulation zu erneutem Bund eine Hand entgegen.
In dem philosophischen Lager ist dies von einigen wirklich so verstanden worden, als denke die deutsche Naturforschung daran, ihrer Methode untreu zu werden, auf ihrem Weg umzukehren und wieder zu philosophieren. Sie ist dafür belobt worden, auch hat es an Ratschlägen nicht gefehlt, wie sie mit philosophischen Gedanken durchtränkt besser ihr Ziel erreichen werde.
Dies ist ein Mißverständnis, und es kann nicht schaden, wenn es beizeiten als solches bezeichnet wird. Wir denken im Gegenteil, es war an der einen Erfahrung um den Anfang des Jahrhunderts genug. Wir glauben, daß die Philosophie an manchen Stellen Vorteil aus der naturwissenschaftlichen Methode ziehen kann, nicht aber umgekehrt die Naturforschung aus der Methode der Philosophie. Der Naturforschung ist ihr Ziel und der Weg dazu mit zweifelloser Klarheit und Gewißheit vorgezeichnet: Erkenntnis der Körperwelt und ihre Veränderungen, und mechanische Erklärung der letzteren durch Beobachtung, Versuch und Rechnung. Wie Hugo v. Mohl richtig bemerkt, ist damit nicht gesagt, daß die Naturforschung nicht auch spekuliere. Sie tut es aber im Bereich ihrer Herrschaft und mit dem Vorbehalt, daß ihre Vermutungen, denen sie bis dahin keinen Wert beilegt, in der Erfahrung sich bestätigen H. v. Mohl, Rede gehalten bei der Eröffnung der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. Tübingen 1863, S. 26.. Wie ohnmächtig Philosophieren an sich auch in den Händen des gewaltigsten Denkers bleibt, wo es gilt, Gesetze der Körperwelt zu erraten, geht deutlicher wohl aus nichts hervor, als aus folgender Tatsache.
Wenn es eine Einsicht gibt, die beim Philosophieren über die Körperwelt a priori gefunden werden konnte, so ist es die an der Grenze von Physik und Metaphysik stehende Lehre von der Erhaltung der Kraft. Auch ist diese Lehre ursprünglich von Descartes als Philosophem hingestellt, aber falsch formuliert und nur theologisch begründet worden. Nachdem dann Huygens sie als mechanisches Theorem Galileis Pendelgesetzen entnommen hatte, gab ihr Leibniz 1686 in der Brevis Demonstratio Erroris memorabilis Cartesii zuerst einen richtigeren allgemeinen Ausdruck. Seitdem durchdringt sie seine Weltanschauung wie heute die unsrige als das oberste die Körperwelt beherrschende Prinzip. Diese Lehre war allen Mathematikern und Philosophen der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ganz geläufig. Dem Physiologen Albrecht v. Haller war sie 1762 in seinen Elementa Physiologiae Corporis humani noch wohl gegenwärtig du Bois-Reymond, Voltaire in seiner Beziehung zur Naturwissenschaft. Monatsberichte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1868, S. 43 ff., nebst den Anmerkungen.. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, was sich der Mühe wohl verlohnte, durch welche Umstände ein Gedanke, der unserer Zeit wieder so bedeutend ward, damals aus dem allgemeinen Bewußtsein in dem Maße schwand, daß er neuerlich gleichsam wiedergefunden werden mußte. Wie dem auch sei, ist es nicht vielsagend, daß Kant, der doch sonst in diesem Gebiete zu Hause war und 1746 sogar eine Schrift über das Cartesische und Leibnizische Kräftemaß verfaßt hatte, 1786, ein volles Jahrhundert nach Leibniz' Brevis Demonstratio, in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« die Lehre von der Erhaltung der Kraft weder erwähnt, noch selber sie wiederfindet?