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Theodor Kocher

(1841-1917)

Rede, gehalten in Bern beim Kommers der Studentenverbindungen nach dem Fackelzug am 20. Juni 1912

Liebe Kommilitonen! Es ist eine besondere Ehre für mich, daß ich gewürdigt bin, ganz allein und inmitten feiernder akademischer Jugend sitzen zu dürfen, und ich möchte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Ihnen doch mit kurzen Worten etwas von den Erfahrungen zu erzählen, welche man durch so viele Jahre hindurch als Hochschullehrer macht, und auf was man mit der größten Befriedigung zurückblickt.

Sie haben die große Güte, beizutragen, daß der Abschluß meines 80. Semesters als Professor sich zu einer für mich köstlichen Erinnerungsfeier gestaltet. In Wirklichkeit stehe ich unter Zuzug meiner Dozenten- und Studentenjahre schon im 105. Semester und habe noch immer nicht aufgehört zu studieren. Aber doch beneide ich Sie bis zu einem gewissen Grad um die Art und Weise, wie Sie studieren können.

Sie können sich ganz voll dem Studium hingeben: Ihre Lebensarbeit fängt erst nachher an zum Unterschied von so vielen Arbeitern, welche deshalb so mangelhafte Leistungen aufweisen, weil sie zu wenig geschult sind, zu wenig Zeit und Gelegenheit hatten, sich auf ihre Arbeit einzuüben. Das macht andere verdrießlich, macht den Arbeiter selber unzufrieden und ist ein Hauptgrund, daß es so viele unzufriedene Menschen unter uns gibt.

Aus den Studien erwächst der Frohsinn, wie aus dem Frohsinn die Studien, sagt ein klassischer Schriftsteller. Darin, meine Herren, liegt das Geheimnis, ob man gerne arbeitet oder die Arbeit als einen Fluch betrachtet in dem Sinne des Wortes: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen. Wenn es gelungen sein wird, in großen Industrien die Arbeit wieder so einzurichten, daß der Arbeiter wieder Interesse und Freude an seinen Leistungen bekommt, so ist ein gutes Stück der Arbeiterfrage gelöst. Durch Interesse und Freude an der Arbeit wird dieselbe zur Kunst veredelt, wie im Mittelalter, wo der auf sich gestellte einzelne Arbeiter allerdings oft nach jahrelangem Mühen so kunstvolle Gegenstände schuf. Wer nicht mit Freude arbeitet, wird zu einem Taugenichts, wenn er träge ist, und zu einem Tyrannen, wenn er eifrig ist und führende Stellung erobert.

Sie haben ein Recht, meine Herren Studenten, auf Fröhlichkeit, wie es auch jeder Arbeiter hat, aber ich würde es nach demjenigen Teil des Pliniusschen Ausspruchs versuchen, daß Frohsinn aus den Studien erwächst und dann zusehen, ob aus ihrem Frohsinn die Studien erwachsen. Dabei dürfen Sie allerdings den Anspruch erheben, daß Ihnen in der Studienzeit der Unterricht in einer Weise erteilt werde, daß Sie Freude daran haben können. Gelingt das einem Professor nicht mehr, so ist es besser, daß er sich klar mache, daß ein Eintrocknungsprozeß begonnen hat, dem bloß durch Transfusion jungen Blutes und durch Transplantation frischen Gewebes noch zu helfen ist.

Wenn Sie aber über Eintrocknungsvorgänge bei Ihren Lehrern urteilen wollen, so hüten Sie sich, daß Sie alles vermeiden, was bei Ihnen selber eine Eintrocknung zur Folge haben könnte. Der Chirurg und Anatom weiß, daß es kein besseres Eintrocknungsmittel gibt als den Alkohol.

Sie sollen später Familienväter, brauchbare Bürger in einem republikanischen Staatswesen werden und sollen als »Studierte« Förderer höheren Menschentums sein. Wenn Sie einmal sehen werden, welch' einer Summe von tagtäglicher Aufopferung ein treues Weib fähig ist, wie sie für die Ihrigen alles zu leisten und zu ertragen imstande ist, ohne Anspruch auf Lob oder Ehre, so werden Sie sicherlich froh sein, daß Sie ihr, schon bevor Sie sie kannten, Treue und Reinheit bewahrt haben.

Ich bin gar kein Freund der Frauenrechtlerinnen, auch wenn sie nicht speziell das Recht geltend machen, Fensterscheiben einzuschlagen, denn wenn die Frauen einmal auf den öffentlichen Markt treten, dann werden die Männer etwas vom Besten einbüßen, was sie jetzt besitzen, das Beispiel unbegrenzter und vollkommen uneigennütziger Aufopferungsfähigkeit.

Halten Sie sich als Studenten schon jetzt gegenwärtig, daß ohne Selbstbeherrschung und Entsagung man kein guter Familienvater und kein guter Bürger wird. Wer sich nicht selbst beherrscht, hat stets große Neigung, zum Tyrannen gegen andere zu werden. Wer aber sich selber zu beherrschen sucht, der hat damit so vollauf zu tun, daß er keine Zeit erübrigt, andere zu tyrannisieren.

Wenn Sie mit gründlichem Wissen und mit gründlicher Geistesbildung nach dem Studium an Ihre Lebensarbeit gehen, weil bloß die praktische Anwendung des Gewußten oder die selbständige Vermehrung der Wissenschaft als Lebenszweck wahre Befriedigung schafft, wie der große Helmholtz sagt, dann werden Sie mit ungetrübter Freude auf die herrliche Studienzeit zurückblicken.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, meine Herren Theologen, daß das Wort von Gott Ihnen kein leerer Schall werde, sondern daß Ihre wissenschaftlichen Forschungen Ihnen noch die Begeisterung erhalten, die nach der Rede unseres derzeitigen Rektors mit lautem Beifall belohnt ward; daß Sie, meine Herren Juristen, den Patriotismus und die Religiosität, den ernsten Sinn eines Hilty und den großartigen Sinn für wahre Gerechtigkeit eines Huber mit sich in die Praxis nehmen möchten; daß Sie, meine Herren Mediziner, es stets fertig kriegen möchten, zu zeigen, wie man sich und andere vor Spirillen, Bazillen und allem Teufelsspuk-Infektionsstoffe bewahrt, daß die Philosophie der Naturwissenschafter auf dem Boden der Tatsachen stehen bleibe und sich nicht anmaße, alle Welträtsel mit ein bißchen Entwicklungsgeschichte lösen zu wollen, und daß die Geisteswissenschafter unter den Philosophen an dem Walten eines Geistes in der Geschichte festhalten und nicht ihre Schätze billigen Käufern ausliefern an die Bajazzosprünge einer materialistischen Metaphysik.

Mögen Sie, meine lieben Kommilitonen, nach weiteren 80 Semestern noch freudig arbeiten und Ihren Idealen Treue bewahren! Prosit!


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