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Es war für Gretchen eine schmerzliche Enttäuschung, daß sie nicht mit ihrem Vater in dem kleinen Wägelchen hinfahren durfte, um Tom von der Akademie abzuholen, aber es war zu naß den Tag, meinte die Mutter, als daß ein kleines Mädchen in ihrem besten Hute hätte ausfahren können. Klein Gretchen war entschieden der entgegengesetzten Ansicht, und mit dem mütterlichen Verbot war der Streit für sie keineswegs erledigt. Das sollte die gute Frau Tulliver bald merken. Als sie ihrem Töchterchen das struppige schwarze Haar bürstete, riß sich Gretchen plötzlich von ihr los und tauchte den Kopf ganz in die Waschschale. Das war ihre Rache: von Locken sollte den Tag nicht mehr die Rede sein.
»Gretchen, Gretchen«, rief die Mutter, die dick und hülflos mit den Bürsten auf dem Schooße dasaß, »was soll aus Dir werden, wenn Du so unartig bist? Wenn Tante Glegg und Tante Pullet nächste Woche kommen, denen will ich's erzählen, die mögen Dich gewiß gar nicht mehr leiden. Du lieber, lieber Himmel, sieh nur mal Deine reine Schürze an, die ist naß von oben bis unten. Man sollte ja meinen, es wär' 'n Verhängniß, daß ich so'n Kind habe; die Leute müssen denken, ich hätte was böses gethan.«
Aber Gretchen war längst über alle Berge, auf dem Wege zu der großen Bodenkammer, die oben unter dem alten spitzen Dache lag; im Laufen schüttelte sie sich das Wasser aus ihren schwarzen Haaren, wie ein Hund, der aus dem Bade kommt. Diese Bodenkammer war Gretchens liebster Zufluchtsort an Regentagen, wenn das Wetter nicht zu kalt war; hier tobte sie alle ihre bösen Launen aus und unterhielt sich laut mit den wurmstichigen Dielen und Börten und den schwarzen von Spinnweben überzogenen Sparren, und hier hielt sie sich einen Fetisch, der für alle ihre Leiden büßen mußte. Dieser Fetisch war eine große hölzerne Puppe, die einst mit den rundesten Augen über die rothesten Backen hinweg in die Welt gestarrt hatte, aber jetzt durch eine lange Reihe von Leiden völlig entstellt war. Drei in den Kopf geschlagene Nägel waren die Wahrzeichen von ebensoviel Katastrophen in Gretchen's neunjährigem Erdenkampfe; den Gedanken an diesen Hochgenuß von Rache hatte ihr ein Bild aus einer alten Bibel eingegeben, auf welchem Jael den Sisera umbringt. Den letzten Nagel hatte sie mit ganz ungewöhnlicher Wuth eingeschlagen; denn bei dieser Gelegenheit war der Fetisch Tante Glegg gewesen. Aber gleich darauf hatte sich Gretchen überlegt, daß wenn sie viele Nägel einschlüge, sie sich nicht so gut mehr denken könne, es thue dem Kopfe weh, wenn sie ihn gegen die Wand schlug, und daß sie ihn andrerseits nicht mehr streicheln und ihm warme Umschläge machen könne, wenn ihre Wuth sich gelegt habe; denn selbst für Tante Glegg kamen Augenblicke des Mitleids, wenn sie ihr tüchtig wehgethan und so zugesetzt hatte, daß sie ihre Nichte um Verzeihung bat. Seitdem hatte sie keine Nägel mehr eingeschlagen, sondern sich damit geholfen, daß sie die Puppe mit dem Kopfe gegen das harte Gemäuer des Schornsteins abwechselnd rieb und aufschlug. Auch heut that sie das, sobald sie die Bodenkammer erreicht hatte, und sie schluchzte dabei so heftig, daß sie von nichts sah und hörte und selbst die Erinnerung an ihren letzten Kummer verlor. Als endlich ihr Geschluchze ruhiger wurde, und sie etwas gelinder zu reiben anfing, da fiel plötzlich ein Sonnenstrahl durch das Drahtgitter vor dem Fenster auf die halbverfaulten Börte; sie warf den Fetisch weg und lief an's Fenster. Die Sonne brach wirklich durch die Wolken, das Geklapper der Mühle klang so lustig, die Thüren der Kornscheune standen weit offen, und unten lief Yap, der weißbraune kleine Hund auf und nieder und schnüffelte in der Luft herum, als suche er einen Spielkameraden. Da konnte Gretchen nicht widerstehen; sie warf ihr Haar zurück, lief die Treppe hinab, ergriff ihren Hut, ohne ihn lange aufzusetzen, guckte sich vorsichtig um, ob ihre Mutter auch im Flure sei, und war im Nu auf dem Hofe, wo sie im Wirbeltanz wie eine Bachantin sich drehte und dazu sang: »Yap, Yap, heute kommt Tom, heute kommt Tom!« während Yap laut bellend um sie her sprang, als wollte er sagen: wenn's auf's Lärmen ankomme, dann sei er der rechte.
»Ei, ei, kleines Fräulein, Sie werden schwindlig werden und hinfallen«, rief ihr Lukas zu, der oberste Müllerknecht, ein großer breitschultriger Vierziger mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren, und darüber mit einem gewissen mehligen Ueberzug, wie eine Aurikel.
Gretchen hielt inne und antwortete einigermaßen schwankend: »O nein, Lukas, es macht mich gar nicht schwindlig. Kann ich mit Euch in die Mühle gehen?«
Gretchen hielt sich gern in den großen Räumen der Mühle auf und ließ sich oft ihr schwarzes Haar so weiß darin pudern, daß ihre dunklen Augen mit doppeltem Glanze strahlten. Das herzhafte Geklapper, die rastlosen Bewegungen der großen Mühlsteine, deren unaufhaltsame Gewalt ihr ein wonniges Grausen einflößte, – das unablässig sich ergießende Mehl – der feine weiße Staub auf allen Flächen, durch den selbst die Spinngewebe wie Spitzenarbeit von Feenhand erschienen, – der süße reine Duft des Mehles – all das zusammen genommen gab dem kleinen Gretchen die Empfindung, die Mühle sei eine kleine Welt für sich. Besonders die Spinnen gewährten ihrer Betrachtung vielfache Beschäftigung. Sie sann darüber nach, ob sie wohl mit andern Spinnen außerhalb der Mühle verwandt seien, und ob dann nicht der Familienverkehr seine Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten habe; eine Mühlenspinne esse ja ihre Fliegen mit Mehl überzuckert und müsse sich daher bei Verwandten sehr ungemächlich fühlen, wo man ihr Leibgericht au naturel verspeise, und die Spinnen-Damen – wie müßten die sich gegenseitig entsetzen über ihre Toilette! Aber der liebste Platz in der Mühle war ihr der oberste Boden, der Kornboden mit den großen Haufen Korn, wo sie sich drauf setzen und langsam hinuntergleiten konnte. Sie machte sich dieses Vergnügen meist in Lukas' Gesellschaft, mit dem sie sich gern unterhielt; sie wünschte sehr, ihm eine eben so gute Meinung von sich beizubringen, wie ihr Vater hatte. Heute schien sie besonders darauf bedacht; kaum saß sie auf ihrem Kornhaufen, in dessen Nähe er beschäftigt war, als sie ihm in dem lauten Tone, der beim Mühlenverkehr erforderlich ist, zurief:
»Ihr les't wohl kein andres Buch als die Bibel?«
»Nein, Fräulein, und auch die nicht allzuoft; am Lesen thu' ich nicht viel«, antwortete Lukas mit großem Freimuth.
»Aber wenn ich Euch nun ein Buch von mir liehe? Ich habe grade kein besonders hübsches Buch, das für Euch paßte, aber die »Reise durch Europa« – da könnt Ihr alles draus lernen über die verschiedenen Völker in der Welt, und wenn Ihr die Worte nicht versteht, aus den Bildern könnt Ihr Euch vernehmen; da sieht man wie die Leute aussehen und was sie thun und treiben. Die Holländer solltet Ihr sehen; die sind so dick und rauchen Taback, und einer sitzt auf 'nem Fasse.«
»Nein, Fräulein, von den Holländern halt' ich nicht viel, an denen ist nicht viel gutes.«
»Aber es sind doch unsre Mitmenschen, Lukas, und unsre Mitmenschen müssen wir kennen.«
»Mitmenschen! So halb und halb; ich weiß blos, ich hatte mal 'nen Herrn, das war ein kluger Mann, der pflegte immer zu sagen: ›Wenn ich je meinen Weizen ohne Salz säe, dann bin ich 'n Holländer –‹ und das hieß so viel, als: ein Holländer ist ein Narr oder was daran stößt. Ne, ne, mit den Holländern will ich mich nicht quälen. Es giebt Narren genug und Schelme genug; in Büchern braucht man sie nicht erst zu suchen.«
Gretchen war durch diese unerwartet entschiedene Ansicht ihres Freundes über die Holländer einigermaßen verdutzt und beeilte sich daher, einen andern Vorschlag zu machen.
»Na, denn les't Ihr vielleicht lieber in dem ›Reich der Natur‹; das ist nicht über die Holländer, sondern über Elephanten, Känguruhs und die Zibethkatze, den Klumpfisch und den Vogel, der auf seinem Schwanz sitzt – ich weiß nicht mehr wie er heißt. Es giebt ganze Länder, wo blos solche Thiere sind und keine Pferde und Kühe. Möchtet Ihr davon nicht was lesen, Lukas?«
»Ne, Fräulein, ich muß mich um mein Korn und Mehl bekümmern; da darf ich nicht viel andres im Kopf haben. Das bringt die Leute an den Galgen, daß sie so vielerlei wissen, blos nicht, wie sie ihr Brot verdienen sollen. Und das meiste ist auch gelogen, was in den Büchern gedruckt steht. Wenigstens in den Zeitungen, die sie auf den Straßen ausrufen – da ist alles drin gelogen.«
»Ei, Lukas, Ihr seid grade wie mein Bruder Tom«, sagte Gretchen, um dem Gespräche eine angenehme Wendung zu geben; »Tom liest auch nicht gern in den Büchern. O Lukas, ich habe Tom so lieb, lieber als sonst wen auf der Welt. Wenn wir erst groß sind, dann wohnen wir zusammen, und ich führe ihm den Haushalt. Ich kann ihm alles sagen, was er nicht weiß. Aber klug ist Tom doch, wenn er sich auch aus den Büchern nichts macht; er macht so schöne Peitschen und Kaninchenfallen.«
»Aber«, meinte Lukas, »er wird schön böse sein; die Kaninchen sind alle todt.«
»Die Kaninchen todt?!« schrie Gretchen und sprang auf; »Lukas, Lukas! Das langohrige auch, und das gefleckte Weibchen, wo Tom sein ganzes Taschengeld für gegeben hat?«
»Todt wie Maulwürfe«, erwiderte Lukas; er nahm seinen Vergleich von den unverkennbaren Leichnamen her, die an den Stallthüren angenagelt waren.
»Du lieber Himmel, Lukas«, sagte Gretchen traurig, während ihr die dicken Thränen über die Backen liefen; »Tom hat mir gesagt, ich sollte für die Kaninchen sorgen, und ich hab's vergessen. Was fang' ich an?«
»Na, sehn Sie, Fräulein, die Kaninchen waren dahinten in dem Schoppen und da hat sich keiner recht drum gekümmert. Unser junger Herr wird's wohl dem Henrich gesagt haben, er solle sie futtern, aber auf den Henrich ist ja kein Verlaß; der ist so'n Bummelfritz, wie wir je einen auf dem Hofe gehabt haben. Der sorgt blos für seinen Bauch, und ich wollte, der kniffe ihn mal gehörig.«
»Ach, Lukas, Tom hat mir's so eingeschärft, ich sollte jeden Tag mach den Kaninchen sehen, aber sie kamen mir nie in den Sinn. Oh, er wird so böse mit mir sein, gewiß so böse, und die Kaninchen werden ihm so leid thun, und mir thun sie auch so leid. Oh, was soll ich nur machen?«
»Quälen Sie sich darüber nicht, Fräulein«, beruhigte sie Lukas; »es sind schwächliche Geschöpfe, die langohrigen Kaninchen; sie wären vielleicht auch gestorben, wenn sie Futter gekriegt hätten. So künstliche Geschichten, da ist kein rechtes Gedeihen dabei; der allmächtige Gott will nichts davon wissen; er hat die Kaninchen mit graden Ohren geschaffen und 's ist baare Verkehrtheit, daß sie herunterhängende Ohren haben sollen, wie'n Hund. Der junge Herr wird das schon einsehen, und 's nächste Mal andre Kaninchen kaufen. Also quälen Sie sich nicht. Kommen Sie lieber mit zu meiner Frau, ich gehe grade nach Haus.«
Diese Einladung bot dem betrübten Gretchen eine angenehme Zerstreuung und sie hörte allmälich auf zu weinen, als sie neben Lukas nach dem kleinen Häuschen hintrippelte, welches mit seinem angebauten Schweinestall unter Apfel- und Birnbäumen unmittelbar an dem kleinen Bache lag. Lukas' Frau war für sie eine höchst angenehme Bekanntschaft. Sie war sehr gastfrei mit Brod und Syrup und besaß in ihrem kleinen Häuschen verschiedene Sehenswürdigkeiten. Gretchen vergaß bald, daß sie Kummer gehabt hatte; auf einem Stuhle stehend, vertiefte sie sich in den Anblick einer ganzen Reihe von Bildern, auf denen die Geschichte des verlorenen Sohnes im Kostüm des vorigen Jahrhunderts mit Zopf und Perrücke dargestellt war. Aber die todten Kaninchen lasteten ihr doch so schwer auf der Seele, daß sie ein mehr als gewöhnliches Mitleid für den leichtsinnigen jungen Mann empfand, namentlich bei dem Bilde, wo er mit zerfetzten Hosen und verschobener Perrücke an einen welken Baum lehnte, während die Schweine – offenbar von einer fremdländischen Race – bei ihren Trebern, gleichsam ihm zum Hohne, ausgelassen lustig waren.
»Ich bin recht froh, daß ihn sein Vater wieder aufnahm«, sagte sie; »Ihr nicht auch, Lukas? Er bereute ja so sehr und wollte nicht wieder sündigen.«
»Eh, Fräulein«, meinte Lukas, »da war doch nicht mehr viel zu retten, sein Vater mochte sich noch so viel Mühe geben.«
Das war für Gretchen ein peinlicher Gedanke, und sie hätte wohl gewünscht, von der weiteren Geschichte des verlorenen Sohnes etwas mehr zu wissen.