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Zehnter Abschnitt.
Klein Gretchen ist sehr unartig

Die fürchterliche Erscheinung, welche so in Onkel Pullet's Leben Epoche machte, war niemand anders als die kleine Lucie, die auf einer Seite von Kopf zu Fuß ganz naß und beschmutzt war und mit kläglichem Gesicht zwei kleine schmutzige Hände weit von sich streckte. Um diese in Tante Pullet's Wohnzimmer unerhörte Erscheinung zu erklären, müssen wir zu dem Zeitpunkte zurückkehren, wo die drei Kinder zum Spielen hinausgingen und wo die bösen Geister, die vom frühen Morgen an Gretchen ergriffen hatten, nach kurzer Abwesenheit mit um so stärkerer Gewalt wieder in sie eingezogen waren.

Kaum waren sie draußen, als Tom, der wegen des verschütteten Glases Wein erst recht böse auf seine Schwester war, Lucie bei der Hand nahm und mit ihr nach dem Kellerloch ging, wo die Kröten saßen, als wäre Gretchen garnicht in der Welt. Alle bösen Gedanken vom Vormittag stiegen sofort wieder in Gretchen auf; sie blieb eine kleine Strecke hinter ihnen zurück und sah dabei aus wie eine kleine Meduse, der man die Schlangen verschnitten hat. Lucie war natürlich ganz glücklich, daß Vetter Tom so freundlich gegen sie war, und hatte ihre rechte Freude dran, wie er die Kröten, die vor seinen Steinwürfen sicher hinter den Kellergittern saßen, mit einem langen Strohhalm kitzelte, doch wollte sie Gretchen gern an dem Schauspiel Theil nehmen lassen, und zwar um so lieber, als diese den Kröten gewiß einen besondern Namen gegeben und Geschichten von ihnen erzählt hätte; die kleine Lucie glaubte nämlich halb und halb an die Geschichten, womit Gretchen alles ausschmückte – z. B. wenn sie erzählte, Madame Ohrwurm hätte die Wäsche, und ein Kind sei ihr in's kochende Wasser gefallen, und deshalb laufe die Alte so rasch zum Doktor. Tom behandelte solchen baaren Unsinn mit tiefer Verachtung und zertrat den Ohrwurm, um vollends die Unwahrheit der Geschichte zu beweisen, während Lucie um alles in der Welt nicht davon lassen konnte, es müsse doch wohl was dran sein, und jedenfalls sei es hübsch erfunden. Darum lief sie denn jetzt halb aus reiner Freundlichkeit, halb aus Sehnsucht nach einer Geschichte von einer besonders stattlichen Kröte, zu Gretchen zurück, und sagte: »Oh, da ist so 'ne große Kröte, Gretchen, so komisch! sieh doch mal!«

Gretchen gab gar keine Antwort, sondern wandte sich brummig ab. So lange Tom die kleine Lucie vorzuziehen schien, gehörte sie auch mit zu Gretchens Aerger. Bis vor kurzem hätte es Gretchen noch für unmöglich gehalten, daß sie mit ihrer hübschen kleinen Cousine böse sein könne, so wenig, wie sie gegen eine kleine weiße Maus hätte grausam sein mögen. Aber bisher war ja auch Tom immer sehr gleichgültig gegen Lucie gewesen und hatte es Gretchen überlassen, sie zu hätscheln und freundlich zu behandeln. Jetzt hatte sich die Sache geändert, und Gretchen fing förmlich an sich zu überlegen, sie möchte wohl Lucie wehe thun, sie schlagen oder kneifen, namentlich weil sich Tom darüber ärgern würde, den sie nicht zu schlagen wagte, und der sich auch aus dem Schlagen nichts gemacht hätte.

Allmälich verlor die Unterhaltung, die dicken Kröten zu kitzeln, für Tom ihren Reiz, und er sah sich nach einem andern Zeitvertreib um. Aber in einem so saubern Gärtchen, wo man immer hübsch auf dem Wege bleiben mußte, gab es keine große Auswahl. Bei einer solchen Beschränkung war das einzige Vergnügen, sie zu übertreten, und bald überlegte sich Tom den rebellischen Plan, nach dem Teiche zu gehen, der nicht weit hinter dem Garten im Felde lag.

»Hör mal, Lucie«, fing er an und nickte bedeutsam mit dem Kopfe; »ich weiß was neues; rath mal!«

»Was denn, Tom?« fragte Lucie neugierig.

»Ich will nach dem Teiche und den großen Hecht sehn; kannst mitkommen, wenn Du willst«, meinte der junge Tyrann.

»O Tom, magst Du so was thun?« fragte Lucie. »Tante hat gesagt, wir dürften nicht aus dem Garten.«

»O, ich gehe hinten heraus«, meinte Tom, »da sieht uns keiner. Und wenn sie uns sehen, so thut's nichts; ich laufe nach Hause.«

»Aber ich kann nicht soweit laufen«, erwiderte Lucie, die bisher noch nie einer so schweren Versuchung ausgesetzt gewesen war.

»O, Du brauchst Dich nicht zu ängstigen«, meinte Tom; »Du kriegst keine Schelte, Du sagst blos, ich hätte Dich mitgenommen.«

Damit ging Tom voran, und Lucie trippelte neben ihm her in stiller Freude über das seltene Glück, mal unartig zu sein, und zugleich aufgeregt durch die Erwartung auf den berühmten Hecht, von dem sie nicht ganz sicher war, ob er ein Fisch sei oder ein Vogel. Gretchen sah sie den Garten verlassen und konnte dem Verlangen nicht widerstehen, ihnen zu folgen. Aerger und Eifersucht können eben so wenig ihren Gegenstand aus den Augen verlieren wie die Liebe, und daß Tom und Lucie irgend etwas thun oder sehen sollten, wovon sie nichts erführe, das war für Gretchen ein unerträglicher Gedanke. Sie ging also einige Schritte hinter ihnen her, ohne dass Tom es merkte; seine ganze Aufmerksamkeit war auf den gesuchten Hecht gerichtet, dieses höchst wunderbare Thier, von dem es hieß, er sei so sehr alt, so sehr groß und könne so fürchterlich viel fressen. Gleich andern Berühmtheiten ließ sich der Hecht nicht sehen, als man ihn grade sehen wollte, aber Tom gewahrte bald etwas anderes im Wasser, was sich schnell bewegte.

»Komm her, Lucie«, flüsterte er laut; »komm her, aber vorsichtig! bleib im Grase, geh nicht da wo die Kühe gewesen sind; da, hier tritt hin!« und dabei wies er auf einen kleinen trocknen Grasfleck, der wie eine Insel in einem Meere von Schmutz lag.

Vorsichtig, wie sie geheißen war, kam Lucie heran und bückte sich nieder. Im Wasser bewegte sich etwas wie eine goldene Pfeilspitze. Das sei eine Wasserschlange, sagte ihr Tom, und endlich konnte Lucie den Leib sich ringeln sehen und verwunderte sich höchlich, daß eine Schlange schwimmen könne. Unterdeß war Gretchen immer näher herangekommen; sie mußte auch sehen, was da war, obschon es ihr schwer auf dem Herzen lag, daß Tom nichts danach fragte, ob sie es auch sähe. Endlich war sie ganz dicht bei Lucie, und Tom, der sie wohl hatte kommen sehen, aber sie nicht eher bemerken wollte als nöthig war, wandte sich um und sagte:

»Geh da weg, Gretchen; hier auf dem Grase ist kein Platz für Dich. Du wirst hier garnicht verlangt.«

In Gretchens Herzen stritten in dem Augenblicke Leidenschaften, aus denen sich eine Tragödie hätte machen lassen, wenn die Größe der Handlung der Stärke der Leidenschaft entsprochen hätte. Aber das äußerste, wozu es Gretchen brachte, war, mit einem heftigen Stoß ihres jungen Armes die arme kleine, weiß und rothe Lucie in den tiefen Schmutz zu werfen.

Nun konnte auch Tom sich nicht länger halten und gab Gretchen zwei tüchtige Schläge auf den Arm; dann hob er Lucie auf, die hülflos dalag und schrie. Gretchen zog sich einige Schritte seitwärts unter einen Baum zurück und sah ohne jede Reue zu. Gewöhnlich kam ihre Reue nach einem solchen Ausbruch sehr rasch, aber diesmal hatten Tom und Lucie sie so unglücklich gemacht, daß sie sich freute, auch ihnen das Vergnügen gestört zu haben, daß sie gern die ganze Welt unglücklich gemacht hätte. Warum sollte ihr leid thun, was sie gethan hatte? Tom vergab ihr doch nicht so bald, wenn's ihr auch noch so leid gethan hätte.

»Das werd' ich Mutter sagen, Du unartige Grete«, rief Tom mit erhobner Stimme, sobald Lucie wieder aufgestanden war und gehen konnte. Das Wiedersagen war sonst seine Sache nicht, aber in diesem Falle verlangte die Gerechtigkeit offenbar eine tüchtige Bestrafung für Gretchen. Lucie war von ihrem Unglück – ihr hübsches Kleid war ganz verdorben und vor Nässe und Schmutz war sie ganz trostlos – zu sehr in Anspruch genommen, um viel an den Vorfall denken zu können, der ihr ganz unbegreiflich war. Sie konnte garnicht errathen, was sie Gretchen wohl gethan hätte, daß diese so böse auf sie sei; sie fühlte nur, Gretchen sei sehr unfreundlich und widerwärtig, und so lief sie neben Tom her und schrie ganz kläglich und dachte garnicht daran, Tom großmüthig zu bitten, er möchte es doch nicht wieder sagen. Gretchen blieb unter ihrem Baume sitzen und sah ihnen mit ihrem kleinen Medusengesichte nach.

»Sally«, sagte Tom, als sie in die Küche traten und das Mädchen sie mit sprachlosem Erstaunen anblickte – »Sally, sag' Mutter, daß Gretchen Lucie auf die Erde geworfen hat.«

»Aber Du gerechter Himmel, wie seid ihr denn in solchen Schmutz gekommen?« rief Sally und verzog das Gesicht, indem sie sich niederbeugte und die Sache näher in Augenschein nahm.

Bei dem raschen Verlaufe der Geschichte hatte Tom an diese Frage noch garnicht gedacht, aber kaum hörte er sie, als er sofort einsah, wohin sie führte; Gretchen war ja nicht allein die Schuldige. Er ging daher ruhig fort und überließ Sally, sich ihre Frage aus eigenem Scharfsinn selbst zu beantworten.

Wie wir bereits wissen, führte Sally die kleine Lucie sofort in's Wohnzimmer, denn so viel Schmutz in das Pullet'sche Wohnhaus zu bringen, war eine zu ernste Sache, als daß einer allein die schwere Verantwortlichkeit dafür hätte tragen können.

»Du ewige Güte«, rief Tante Pullet nach dem ersten Schreckensruf, »bleib mit ihr an der Thür, Sally! Laß sie ja auf dem Wachstuch stehen!«

»Die ist ja über und über schrecklich schmutzig«, fügte Frau Tulliver hinzu, indem sie etwas näher an Lucie herantrat und den Schaden überschlug, für den sie ihrer Schwester Deane verantwortlich war.

»Fräulein Gretchen ist Schuld daran; die hat sie auf die Erde geworfen«, bemerkte Sally; »der junge Herr hat's mir eben gesagt, und die Kinder sind gewiß alle drei hinten nach dem Teiche gewesen; das ist die einzige Stelle hier beim Hause, wo's so fürchterlich schmutzig ist.«

»Da hast Du's, Betty! Hab' ich's Dir nicht immer gesagt?« meinte Frau Pullet feierlich; »immer Deine Kinder – was soll da noch draus werden?!«

Frau Tulliver verstummte; sie fühlte sich grenzenlos elend. Wie gewöhnlich quälte sie der Gedanke, die Leute würden glauben, sie müsse etwas verbrochen haben, um so viel Kummer an ihren Kindern zu verdienen. Unterdeß gab Frau Pullet dem Mädchen genaue Anweisung, wie sie am besten den Fußboden und die Möbeln schonte, wenn sie das unglückliche Opfer von dem Schmutze befreie; den Thee sollte die Köchin hereinbringen, und die beiden unartigen Kinder sollten zur Strafe in der Küche trinken. Für jetzt ging Frau Tulliver hinaus, um mit diesen unartigen Kindern zu sprechen; sie glaubte, sie seien nahe bei der Hand, aber sie mußte erst eine Weile suchen, bis sie Tom an das weiße Gitter des Hühnerhofes gelehnt fand; er sah sehr ruhig und gleichgültig aus und neckte den Truthahn.

»Tom, Du unartiger Junge, wo ist Deine Schwester?« fragte Frau Tulliver traurig.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Tom, dessen gerechter Zorn gegen Gretchen etwas nachgelassen hatte, seitdem er einsah, derselbe werde sich kaum befriedigen lassen, ohne daß auch eine kleine Ungerechtigkeit dabei begangen werde, nämlich daß er selbst Vorwürfe bekäme, die er bekanntlich nie verdiente.

»Wo hast Du sie denn gelassen?« sagte die Mutter und blickte umher.

»Sie saß dahinten am Teiche unter dem Baum«, antwortete Tom, scheinbar nur mit dem Truthahn beschäftigt.

»Da, geh' gleich hin und hol' sie her, Du ungezogner Junge! Aber wie konntest Du nur nach dem Teiche gehen, und Deine Schwester mitnehmen in den tiefen Schmutz? Du weißt doch, sie macht immer dummes Zeug, wo es nur geht.«

Es war nämlich immer Frau Tulliver's Art, wenn sie Tom ausschalt, seine Unart in einer oder der andern Weise auf Gretchen zurückzuführen.

Der Gedanke, daß Gretchen allein am Teiche sitze, rief in Frau Tulliver eine alte Befürchtung wach, und sie stieg auf eine Bank, um sich durch den Anblick ihres Schmerzenskindes zu beruhigen, während Tom – nicht grade zu rasch – zu ihr hinging.

»Was meine Kinder immer mit dem Wasser zu thun haben!« sagte sie laut, ohne zu bedenken, daß niemand sie hören konnte; »und sie fallen gewiß noch mal hinein und ertrinken. Ich wollte, der Fluß wäre wo der Pfeffer wächst.«

Aber als sie weder Gretchen irgend wo erblickte, noch auch Tom mit ihr zurückkam, so wurde diese stille Furcht zu leidenschaftlicher Angst, und sie eilte ihrem Sohne entgegen.

»Am Teiche ist Gretchen nirgends, Mutter«, sagte Tom; »sie ist weggegangen.«

Das angstvolle Suchen nach Gretchen und die Schwierigkeit, Frau Tulliver zu überzeugen, daß sie nicht in den Teich gefallen sei, kann man sich leicht denken. Frau Pullet bemerkte, das sei noch lange nicht das schlimmste, was dem Kinde begegnen könne, wenn sie am Leben bleibe, und Onkel Pullet war durch den Aufruhr in seinem Hause so überwältigt und konfus, daß er sein Gartenmesser hernahm, um damit suchen zu helfen, und den Gänsestall aufschließen wollte, als ob Gretchen sich da versteckt haben könnte.

Nach einiger Zeit kam Tom auf den Gedanken, Gretchen werde wohl nach Haus gegangen sein; das hätte er in diesem Falle nämlich selbst gethan, doch hielt er es nicht für nöthig, diesen Umstand zu erwähnen. Die Mutter ergriff diesen tröstlichen Gedanken begierig. »Um des Himmels willen, Schwester«, sagte sie, »laß anspannen und uns nach Hause fahren; vielleicht treffen wir sie unterwegs. Lucie kann so in ihren nassen Kleidern nicht gehen«, und dabei zeigte sie auf das unschuldige Opfer, welches in einen warmen Shawl gehüllt auf dem Sopha saß.

Tante Pullet war gern zu allem bereit, um Ruhe und Ordnung in ihrem Hause möglichst rasch wieder herzustellen, und bald sah Frau Tulliver aus dem Wagen nach allen Seiten ängstlich forschend aus. Was sie am meisten beunruhigte, war die Frage, was ihr Mann sagen würde, wenn Gretchen weg wäre.


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