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Es war in der Osterwoche, und Frau Tulliver's Käsekuchen so zart und gut aufgegangen, daß Käthchen, die Köchin, meinte, wenn 'n tüchtiger Wind käme, so flögen sie 'rum wie die Federn. Zu keiner Zeit also und unter keinen Verhältnissen war ein Familientag mehr angebracht, selbst wenn man nicht Schwester Glegg und Pullet wegen der neuen Schule für Tom hätte um Rath fragen wollen.
»Diesmal möcht' ich Schwester Deane nicht mit einladen«, meinte Frau Tulliver; »sie ist so eifersüchtig und habsüchtig wie was sein kann, und meine armen Kinder sucht sie immer bei den Onkels und Tanten anzuschwärzen.«
»Doch, doch«, sagte der Mann, »lad' sie nur mit ein. Ich kriege Deane sonst garnicht mehr zu sprechen; wir haben sie ein ganzes halbes Jahr nicht eingeladen. Und was kommt darauf an, ob sie unsre Kinder schlecht macht? Unsre Kinder brauchen von niemanden Verpflichtungen anzunehmen.«
»Ja, das sagst Du immer, Tulliver! Aber in Deiner ganzen Verwandtschaft ist nicht einer, von dem unsre Kinder auch nur fünf Pfund erben könnten. Und Schwester Glegg und Schwester Pullet, die werden alle Jahr reicher, so unbändig sparen sie; ihre ganzen Zinsen und das Buttergeld legen sie immer bei Seite. Alles was sie nöthig haben, kaufen ihnen ihre Männer.«
Frau Tulliver war, wie wir wissen, eine sanfte Frau, aber selbst ein Schaf wird bocksch, wenn es Lämmer hat.
»Ei was!« antwortete der Mann, »das muß schon ein großes Brod sein, wo viele von satt werden sollen. Was will das bischen Geld von Deinen Schwestern sagen? Bei dem halb Dutzend Neffen und Nichten geht's in zu viel Theile, und daß das Ganze nicht in eine Hand kommt, dafür wird Schwester Deane schon sorgen.«
»O, der ist alles möglich«, antwortete Frau Tulliver. »Aber unsre Kinder benehmen sich auch zu ungeschickt gegen ihre Tanten und Onkels. Gretchen ist zehnmal so unartig als sonst, wenn sie hier sind, und Tom kann sie auch nicht leiden – Gott verzeih's ihm! obschon das bei 'nem Jungen natürlicher ist, als bei 'nem Mädchen. Aber die Lucie Deane, die ist immer so artig; wenn man sie auf'n Stuhl setzt, dann bleibt sie 'ne ganze Stunde ruhig sitzen und will nicht immer 'runter. Ich hab' sie auch so lieb, wie mein eignes Kind, und sie ist auch mehr wie mein Kind, als Schwester Deane ihres; in unserer Familie wollte Schwester Deane nie recht viel sagen.«
»Na, meinetwegen, wenn Du das Kind so lieb hast, dann lass' doch die Kleine auch mitkommen mit den Eltern. Aber willst Du denn nicht Tante und Onkel Moß auch einladen, und ein paar von ihren Kindern?«
»Aber ich bitte Dich, Tulliver, dann wären's ja acht große Gäste außer den Kindern, und ich müßte den Tisch noch größer machen und mehr Tischzeug herausgeben, und das weißt Du doch eben so gut wie ich, daß Deine Schwester und meine Schwestern nicht zu einander passen.«
»Gut denn, Betty, richt' es ganz ein, wie Du willst«, sagte der Mann, indem er seinen Hut nahm und die Mühle verließ. Es gab wohl wenige fügsamere Frauen als Frau Tulliver, nur durften keine Familien-Beziehungen in Frage kommen. Aber sie war eine geborne Dodson, und die Dodsons waren eine sehr respektable Familie, so angesehen, wie nur eine in ihrem Kirchspiel und dem benachbarten obendrein. Die Fräulein Dodsons hatten immer ihren Kopf etwas hoch getragen, und niemand war überrascht, daß die beiden ältesten sich so gut verheiratheten, zwar nicht mehr ganz jung, aber das wäre gegen die Gewohnheit der Familie gewesen. Ueberhaupt nämlich hatte die Familie für alles und jedes ihre besondere Weise – eine besondere Weise, das Leinen zu bleichen, den Obstwein zu machen, die Schinken zu behandeln und die eingemachten Stachelbeeren aufzubewahren. Keine von den Töchtern konnte also gleichgültig sein gegen das hohe Vorrecht, daß sie eine geborne Dodson war und keine Gibson oder Watson. Die Leichenbegängnisse der Familie waren immer höchst anständig, der Trauerflor hatte nie den geringsten Anflug von blau, die Trauerhandschuhe waren nie am Daumen zerrissen; wer nur Trauer tragen mußte, war in Trauer, und die Träger bekamen immer lange Schärpen. Wenn einer von der Familie in Noth war oder krank, so machte die ganze übrige Familie dem Unglücklichen gewöhnlich zur selben Zeit ihren Besuch und ließ sich nicht abhalten, ihm die unangenehmsten Wahrheiten zu sagen, welche ein richtiges verwandtschaftliches Gefühl nur eingeben konnte: war z. B. die Krankheit oder sonstige Noth durch eigene Verschuldung entstanden, so war es durchaus Sitte in der Dodson'schen Familie, das ganz rücksichtslos auszusprechen. Kurz, es gab in dieser Familie ganz bestimmte eigene Ueberlieferungen, was in Haushaltsangelegenheiten und gesellschaftlichen Beziehungen Recht sei und was nicht, und bei dieser Ueberlegenheit war nur eins schmerzlich – die traurige Unmöglichkeit, die Lebensart und das Benehmen von irgend jemanden zu loben oder gut zu heißen, der den Dodson'schen Traditionen nicht anhing. Eine Dodson z. B. aß bei Fremden immer trocknes Brod, weil sie der Butter nicht traute, und nie etwas Eingemachtes, weil wahrscheinlich Zucker daran fehlte, und es nicht lange genug gekocht hatte. Nicht jedes Mitglied der Familie freilich schlug so gut ein wie die übrigen – das war leider richtig, aber da sie doch zur Verwandtschaft gehörten, so waren sie insofern nothwendig besser, als alle, die nicht zur Verwandtschaft gehörten, und besonders merkwürdig ist es, daß, während kein einzelner Dodson mit einem andern einzelnen Dodson zufrieden war, doch jeder oder jede nicht nur mit sich selbst völlig zufrieden war, sondern auch mit den Dodsons im Ganzen. Das schwächste Mitglied einer Familie, dasjenige, welches am wenigsten Charakter hat, ist oft ein bloßer Extrakt der Familiengewohnheiten und Traditionen, und so war auch Frau Tulliver durch und durch eine Dodson, obschon in sehr milder Form, gerade wie Dünnbier, so lange es überhaupt noch etwas ist, sich immer nur bezeichnen läßt als sehr dünnes Bier. Zwar hatte Frau Tulliver in ihrer Jugend über das Joch ihrer älteren Schwestern oft geklagt, und auch jetzt noch vergoß sie ab und zu über ihre schwesterlichen – oder wenig schwesterlichen – Vorwürfe betrübte Thränen; aber an den Familienvorstellungen zu rütteln, war doch nicht Frau Tulliver's Weise. Sie dankte Gott, daß sie als eine Dodson zur Welt gekommen war, und daß jetzt eins ihrer Kinder auf ihre Familie artete. In seinen Zügen und seiner Gesichtsfarbe wenigstens, und darin, daß er gern Salz nahm und – was bei einem Tulliver nie vorkam – Bohnen aß.
Sonst freilich wollte der rechte Dodson in Tom noch nicht ganz heraus, namentlich war er von einer Zuneigung zu seiner mütterlichen Verwandtschaft so weit entfernt wie Gretchen selbst.
Wenn er zeitig genug erfuhr, daß seine Onkel und Tanten erwartet wurden, so verschwand er gewöhnlich für den Tag mit einem großen Vorrath von leicht tragbaren Speisen – ein Benehmen, woraus Tante Glegg die düstersten Schlüsse für seine Zukunft zog. Für das arme Gretchen war's ein bischen hart, daß Tom immer verschwand, ohne sie in das Geheimniß gezogen zu haben, aber das schwächere Geschlecht gilt ja allgemein für ein böses Hinderniß auf der Flucht.
Am Mittwoch, dem Tage vor dem großen Besuch der Onkel und Tanten, roch es im ganzen Hause nach so viel schönen Sachen, nach Pflaumenkuchen im Ofen, nach süßen Obstspeisen und Braten, daß es unmöglich war, nicht lustig zu sein; die Luft selbst war voll freudiger Hoffnung. Tom und Gretchen machten verschiedene Einfälle in die Küche und ließen sich gleich andern Freibeutern nur dadurch zu einem zeitweisen Abzuge bewegen, daß man ihnen eine genügende Ladung Beute mitgab. Sie hatten grade drei kleine Obsttorten erobert und setzten sich damit in die Zweige eines großen Hollunderbaumes.
»Tom«, fing Gretchen an, »läufst Du morgen weg?«
»Nein«, antwortete Tom langsam; er hatte grade seine Torte aufgegessen und betrachtete nun die dritte, die sie unter sich theilen wollten. »Nein, ich bleibe.«
»Warum denn, Tom? Weil Lucie kommt?«
»Nein«, meinte er, indem er sein Taschenmesser aufmachte und es über die Torte hielt, die er halb von der Seite mit bedenklichem Blicke ansah; die Theilung der Torte in zwei ganz gleiche Hälften war ein sehr schwieriges Problem, weil sie so schief gerathen war. »Was frag' ich nach Lucie? Sie ist doch blos 'n Mädchen und kann nicht Ball spielen.«
»Dann ist's die Punschtorte!« rief Gretchen mit aller Anstrengung ihrer Einbildungskraft; dabei neigte sie sich vornüber zu Tom und blickte erwartungsvoll auf das Messer, welches über der kleinen Torte schwebte.
»Auch nicht, die Punschtorte ist's auch nicht, klein Dummbart; die ist auch gut den Tag nachher. Ich will's Dir sagen. 's ist der Pudding. Ich weiß was das für ein Pudding wird, mit Aprikosen gefüllt – hui!!«
Bei diesem Ausrufe fuhr er mit dem Messer in die Torte und die Theilung war geschehen, aber nicht ganz zu seiner Zufriedenheit; er sah sich die beiden Hälften nachdenklich an. Endlich sagte er:
»Augen zu, Gretchen.«
»Weshalb?«
»Das ist einerlei; Augen zu, wenn ich's Dir sage.«
Gretchen gehorchte.
»Nun, Gretchen, welches willst Du haben – rechts oder links?«
»Ich will das haben, wo das Gelee ausgelaufen ist«, antwortete sie, indem sie Tom zu Gefallen noch immer die Augen zuhielt.
»I, das magst Du ja gar nicht, Du närrisches Mädchen. Wenn es ehrlich auf Dein Theil kommt, dann sollst Du's haben, aber anders nicht. Nochmal, rechts oder links – was willst Du? Halt, Du guckst!« fügte er entrüstet hinzu; »halt die Augen zu, oder Du kriegst gar nichts.«
Soweit ging nun Gretchens Aufopferung nicht. Ja, ich fürchte, es kam ihr weniger darauf an, daß Tom möglichst viel von der Torte bekäme, als daß sie ihm den Gefallen thue, ihm das beste Stück zuzuwenden. Sie schloß daher die Augen ganz fest und wählte auf Tom's erneuerte Anfrage das Stück links.
»Hast's richtig getroffen«, sagte Tom etwas bitter.
»Was, die Hälfte, wo das Gelee ausgelaufen ist?«
»Nein, hier dies Stück«, sagte Tom mit fester Stimme und reichte ihr die beste Hälfte hin.
»O bitte, Tom, nimm Du's; ich frage nichts danach, ich will das andre lieber; bitte, nimm Du dies.«
»Nein, ich will nicht«, antwortete Tom beinahe ärgerlich und fing an, seine Hälfte aufzuessen.
Gretchen ergab sich drein und aß ihr Stück sehr vergnügt und rasch. Aber Tom war doch eher fertig und mußte nun zusehen, wie Gretchen ihre letzten beiden Bissen verzehrte, während er selbst gern noch mehr gegessen hätte. Sie merkte nicht, daß er sie ansah; sie wiegte sich auf ihrem Zweige hin und her und hatte nur noch ein unbestimmtes Gefühl von Gelee und Nichtsthun.
»O Du Gierpansch!« rief Tom ihr zu, als sie das letzte Stück hinuntergeschluckt hatte. Er war sich bewußt, ehrlich getheilt zu haben, und meinte nun, sie hätte es anerkennen und ihn entschädigen müssen.
Gretchen wurde ganz blaß. »Aber Tom, ich hätte Dir ja gern was abgegeben, warum hast Du's mir nicht gesagt?«
»Ich sollte Dich auch wohl noch um was bitten, Du Gierpansch! Du hätt'st wohl von selbst dran denken können, weil ich Dir vorhin das beste Stück gab.«
»Aber ich wollt's Dir ja wiedergeben, Du weißt doch, daß ich's Dir anbot«, antwortete Gretchen tief gekränkt.
»Ja wohl, aber ich thue so was nicht, wie Spouncer. Der nimmt immer das beste Stück, wenn man ihn nicht dafür durchprügelt, und wenn einer mit geschlossenen Augen wählt, dann verwechselt er rechts und links. Aber wenn ich theile, dann theil' ich ehrlich. Blos so'n Gierpansch möcht' ich nicht sein.«
Mit dieser beißenden Bemerkung sprang Tom von seinem Zweige herunter und warf mit lustigem Zuruf einen Stein nach Yap, der dem Verschwinden der Eßwaaren ebenfalls zugesehen hatte, und zwar mit einer innern und äußern Bewegung, die schwerlich frei von Bitterkeit war. Doch nahm das gute Thier Tom's Aufmerksamkeit so lustig hin, als hätten ihm die Kinder großmüthig seinen Antheil gegönnt.
Aber Gretchen hatte jene Gabe des Schmerzes, welche das auszeichnende Merkmal des Menschengeschlechts ist; sie blieb ruhig auf ihrem Zweige sitzen und überließ sich dem schneidenden Gefühle unverdienten Tadels. Sie hätte die ganze Welt drum geben mögen, wenn sie ihr Stück nicht ganz aufgegessen, sondern Tom etwas abgegeben hätte. Zwar war die Torte sehr nett gewesen, und Gretchens Gaumen war durchaus nicht abgestumpft, aber sie hätte es doch viel lieber entbehrt, als daß Tom so böse mit ihr sein und sie Gierpansch nennen sollte. Und vorher hatte er doch nichts abhaben wollen, und sie hatte es aufgegessen ohne sich was dabei zu denken. Was konnte sie nun dafür? Ihre Thränen flossen so reichlich, daß sie die nächsten zehn Minuten gar nichts sah; dann aber regte sich in ihr das Verlangen nach Aussöhnung, und sie sprang von dem Zweige herunter und sah sich nach Tom um. In dem Gehege hinter der Scheune war er nicht mehr – wo mochte er nur hin sein mit dem Hunde? Gretchen lief zu der hohen Bank bei der großen Stechpalme, wo sie weit hinaus nach dem Flusse sehen konnte. Ja, da war Tom; aber das Herz sank ihr wieder, als sie sah, daß er schon weit fort war und außer Yap noch jemand bei sich hatte, den unnützen Bob nämlich, der von Beruf, wenn nicht gar schon von Natur, als Vogelscheuche diente und in dieser Jahreszeit grade Ferien hatte. Ohne recht zu wissen warum, war Gretchen überzeugt, Bob sei ein böser Junge; der einzige Grund, den sie etwa dafür haben konnte, war der, daß seine Mutter eine ungeheuer große dicke Frau war, die in einem kuriosen runden Hause unten am Flusse wohnte; einmal war Gretchen mit Tom hingewesen, da war ein wüthender Kettenhund auf sie losgesprungen, der in einem fort bellte, und hinter ihm her kam Bob seine Mutter und überschrie das Bellen und rief ihnen zu, sie sollten nicht bange sein, so daß Gretchen erst recht bange wurde, weil sie das Rufen der Alten für fürchterliches Schelten hielt. Das runde Haus, glaubte Gretchen ganz bestimmt, wimmelte von Schlangen und Fledermäusen, denn einmal hatte sie gesehen, wie Bob seine Mütze abnahm und eine kleine Schlange darin zeigte, und ein ander Mal hatte er eine ganze Hand voll junger Fledermäuse; alles in allem war er ein etwas zweideutiger Charakter, und das schlimmste war noch: wenn Tom seinen Bob hatte, so fragte er nichts nach Gretchen und nahm sie nie mit.
Es muß zugestanden werden, Tom war sehr gern in Bob's Gesellschaft. Das konnte auch nicht anders sein. Bob wußte bei jedem Vogelei sofort, ob es von einer Schwalbe oder einer Meise oder einer Goldammer war, fand jedes Wespennest und konnte jede Falle stellen, kletterte auf alle Bäume wie ein Eichhörnchen und hatte für Igel und Wiesel eine ganz unglaubliche Spürkraft; außerdem war er frech genug zu jeder Ungezogenheit, machte große Löcher in die Hecken, warf die Schafe mit Steinen und schmiß Katzen todt, die im Felde umherschlichen. Da er bei seiner untergeordneten Stellung trotz dieser Ueberlegenheit immer von oben herab behandelt werden konnte, so übten diese Eigenschaften natürlich einen wahren Zauber auf Tom aus, und in jeden Ferien konnte Gretchen sicher sein, daß sie ein paar traurige Tage hatte, wo Tom mit Bob fortging.
Nun, die Sache ließ sich nicht ändern; Tom war fort, und Gretchen mußte sich trösten so gut es ging; sie setzte sich unter die Stechpalme oder wanderte an den Hecken entlang und dachte sich alles anders als es wirklich war, und schuf sich ihre ganze kleine Welt in Gedanken so um, wie sie's am liebsten hatte. Das war so die Art, wie Gretchen in ihrem schwer geprüften Dasein Ruhe und Vergessen fand.
Inzwischen hatte Tom sein Schwesterchen lange vergessen, und welchen Stachel des Vorwurfs er in ihrem Herzen gelassen hatte; er eilte mit Bob, der ihm zufällig begegnet war, zu einer großen Rattenjagd in einer benachbarten Scheune. Bob wußte darüber ganz genau Bescheid und sprach von der Jagd mit einer Begeisterung, die sich jeder, der noch etwas männlichen Sinn hegt oder in Sachen des Rattenjagens nicht elend unwissend ist, leicht denken kann. Für einen Jungen, der in dem Rufe übernatürlicher Schlechtigkeit steht, hatte Bob kein zu schlimmes Spitzbubengesicht; im Gegentheil, seine Stupsnase und das dicht gelockte rothe Haar hatte eher was angenehmes. Andrerseits freilich, seine Hosen waren immer bis an's Knie umgekrempelt, damit er jeden beliebigen Augenblick in's Wasser gehen konnte; und wenn überhaupt bei ihm von Tugend die Rede sein durfte, so ging sie unleugbar in Lumpen und konnte also schwerlich auf Anerkennung rechnen.
»Ich kenne den Kerl, dem die Frettchen gehören«, sagte Bob mit einer feinen heiseren Stimme; er schob mehr neben Tom her, als daß er eigentlich ging, und blickte mit seinen blauen Augen immer auf den Fluß hin, als laure er schon auf eine Gelegenheit hineinzuspringen. »Ich kenne den Kerl; er wohnt in der kleinen Fischergasse in St. Ogg. Er ist der größte Rattenfänger weit und breit. Ich wäre auch am liebsten Rattenfänger. Maulwürfe – das ist nichts gegen Ratten. Aber hör'n Sie, dazu gehören Frettchen. Hunde helfen nichts. Da, sehn Sie mal den Hund an, den Sie da haben« (dabei wies er verächtlich auf Yap) »der hilft bei Ratten so gut wie gar nicht. Das hab' ich neulich gesehn bei der Rattenjagd in Ihrer eignen Scheune.«
Der arme Yap fühlte sich wie vernichtet, klemmte den Schwanz zwischen die Beine und drückte sich hinter seinen Herrn. Tom fühlte förmlich Mitleid mit ihm, konnte ihn aber dieses Mal nicht retten, weil er hinter Bob's strenger Anschauung nicht zu weit zurückbleiben wollte, und er bemerkte daher beistimmend:
»Ja, bei so 'ner Jagd taugt Yap nicht viel. Wenn ich erst aus der Schule bin, dann halt' ich mir ordentliche Hunde, wo ich Ratten mit jagen kann und alles.«
»Frettchen müssen Sie sich halten, junger Herr«, meinte Bob eifrig; »so weiße Frettchen mir rothen Augen; Herrje, da können Sie Ihre eignen Ratten fangen, oder Sie können auch eine Ratte mit 'nem Frettchen einsperren und kämpfen lassen. Wahrhaftig, das thät' ich; Sie sollen mal sehn, das macht mehr Spaß, als wenn zwei Kerls sich prügeln. Das hätten Sie neulich mal sehn sollen auf der Kirmeß, da waren zwei Kerls, die Kuchen und Apfelsinen verkaufen; die prügelten sich, daß ihnen ihre Geschichten aus dem Korbe flogen, und ein paar von den Kuchen waren ganz zerquetscht … aber sie schmeckten doch ganz gut«, fügte Bob gleichsam als Anmerkung hinzu.
»Aber, hör' mal Bob«, meinte Tom nach einiger Ueberlegung, »so Frettchen beißen scheußlich; die beißen einen, ohne daß man sie hetzt.«
»Herrje, das is grade das schöne! Wenn Ihnen einer Ihr Frettchen anrührt – den sollen Sie mal heulen hören.«
In diesem Augenblicke ließ sich ein plötzliches Geräusch hören, und die beiden Jungen blieben wie angewurzelt stehen. Aus den hohen Binsen am Ufer plumpste etwas in's Wasser, – eine Wasserratte, verschwor sich Bob; wenn's keine Wasserratte wäre, so sollt's ihm Gott weiß wie schlecht gehen.
»Halloh, Yap, faß' an, faß' an«, rief Tom und klatschte mit den Händen, als die kleine schwarze Nase der Ratte aus dem Wasser hervorguckte, und das Thierchen pfeilgeschwind nach dem andern Ufer zuschwamm. »Drauf los, Yap, pack an!«
Yap richtete sich hoch auf, zog die Stirn kraus, wollte aber nicht in's Wasser, sondern schien zu versuchen, ob er nicht mit Bellen ebensoweit käme. »Du dummer Hund«, rief Tom entrüstet und stieß ihn mit dem Fuße, während Bob sich jeder Bemerkung enthielt und ruhig weiter ging, indem er zur Veränderung seinen Weg durch das seichte Wasser am Rande des Flusses nahm.
»Das Wasser ist jetzt nicht hoch«, meinte er und stieß es übermüthig patschend vor sich her. »Vor'ges Jahr da waren alle Wiesen überschwemmt, alles ein Wasser.«
»Ja wohl«, meinte Tom, »aber das muß mal 'ne große Ueberschwemmung gewesen sein, die den runden Teich gemacht hat! Vater hat's mir erzählt. Die Schafe und die Kühe versoffen alle, und die Leute fuhren mit Kähnen über die Felder ganz weit weg.«
»Na, mein'twegen kann noch 'ne größre Fluth kommen«, erwiderte Bob; »Wasser oder Land – mir ist's all' einerlei; ich kann schwimmen.«
»Ja, aber wenn Du so lange nichts zu essen kriegst?« bemerkte Tom und wurde bei diesem schrecklichen Gedanken ganz aufgeregt. »Wenn ich erst groß bin, dann bau' ich mir 'n Boot mit 'nem hölzernen Hause, grade wie die Arche Noah, und halte mir allerlei zu essen drin, Kaninchen und sowas. Denn soll die Ueberschwemmung nur kommen. Und wenn ich Dich denn schwimmen sähe, da ließe ich Dich herein«, fügte er mit wohlwollender Herablassung hinzu.
»Ich bin nicht bange«, antwortete Bob, dem der Hunger nicht schrecklich war. »Aber in die Arche käm' ich ganz gern und schlüge Ihnen die Kaninchen todt, wenn Sie sie essen wollen.«
»Dann hätt' ich 'ne ganze Menge Groschen und wir spielten Kopf oder Schrift«, fuhr Tom fort, ohne zu bedenken, daß ihm in reiferem Alter dies Spiel vielleicht nicht mehr so viel Vergnügen machen würde. »Zu Anfang wollten wir ehrlich theilen und dann zusehen, wer gewinnt.«
»Das können wir gleich thun; hier hab' ich 'nen Groschen«, sagte Bob stolz, indem er aus dem Wasser kam und das Geldstück in die Höhe warf.
»Kopf oder Schrift?«
»Schrift!« rief Tom, der sofort drauf einging.
»Kopf liegt«, sagte Bob schnell und nahm rasch den Groschen auf.
»Du lügst«, rief Tom, laut und entschieden, »'s war Schrift. Heraus mit dem Groschen, ich hab' ihn ehrlich gewonnen.«
»Sie kriegen ihn nicht«, antwortete Bob und hielt seinen Schatz fest in der Tasche.
»Dann werd' ich Dich zwingen, das sollst Du sehn.«
»Sie und zwingen! probir'n Sie's mal.«
»Na, das wollen wir doch sehn, Du Betrüger«, rief Tom und damit packte er Bob beim Kragen und schüttelte ihn heftig.
»Wollen Sie mich loslassen?« rief Bob und gab Tom einen Stoß.
Tom fühlte sein Blut kochen; mit aller Macht warf er sich auf Bob und brachte ihn zu Falle, aber Bob hielt fest und zog seinen Gegner mit sich nieder. Eine kurze Zeit rangen sie an der Erde wüthend mit einander, endlich glaubte Tom gewonnen zu haben, da er Bob an den Schultern fest zu Boden hielt. Aber in diesem Augenblicke kehrte Yap, der voraufgelaufen war, mit lautem Gebell auf den Kampfplatz zurück und benutzte die günstige Gelegenheit, sein Gebiß an Bob's nackten Beinen zu versuchen. Dieser Schmerz war weit entfernt, Bob nachgiebiger zu machen; er hielt nur um so ingrimmiger fest und mit einer äußersten Kraftanstrengung stieß er Tom zurück und gewann die Oberhand. Da aber biß ihn Yap an einer andern Stelle so grimmig, daß Bob Tom los ließ und mit einem Griff an die Kehle, der ihn fast erdrosselte, den Hund weit weg in den Fluß schleuderte. Rasch war Tom aufgesprungen, stürzte sich auf Bob, warf ihn nieder und hielt ihm die Kniee fest auf die Brust.
»Wirst Du mir jetzt den Groschen geben?« fragte Tom.
»Nehmen Sie 'n sich mein'twegen«, antwortete Bob brummig.
»Nein, nehmen will ich'n nicht, Du sollst'n mir geben.«
Bob nahm den Groschen aus der Tasche und warf ihn seitwärts an die Erde. Nun stand Tom auf und ließ Bob los.
»Da liegt das Geld«, sagte er; »ich will Deinen Groschen gar nicht. Ich hätt'n auch vorher nicht behalten. Aber Du wolltest mich betrügen, und einen Betrüger hasse ich. Ich gehe jetzt nicht mehr mit Dir um« – und damit wandte er sich nach Hause, nicht ohne ein stilles Bedauern, daß er nun auf die Rattenjagd und was ihm Bob sonst an Vergnügen verschaffen konnte, verzichten müsse.
»Na, denn lassen Sie's bleiben«, rief Bob hinter ihm her. »Ich will betrügen, soviel ich Lust habe; sonst macht mir's Spielen keinen Spaß, und ich weiß 'n Goldfinkennest – etsch, etsch! – da sollen Sie nichts von erfahren, Sie alter schändlicher Kampfhahn!«
Tom ging seines Weges ohne sich umzusehen, und der Hund, den das kalte Bad wesentlich abgekühlt hatte, folgte seinem Beispiele.
»Ja, gehn Sie nur hin mit Ihrem nassen Hunde; so'n schlechter Köter, den möcht' ich gar nicht mal haben«, rief Bob mit wüthend erhobener Stimme. Aber Tom ließ sich nicht irre machen, sah sich nicht ein einziges Mal um, und Bob's Stimme bebte ein wenig, als er fortfuhr:
»Und ich hab' Ihnen immer alles gezeigt, und nie was von Ihnen verlangt … un' das Messer mit der Hornschale, das Sie mir gegeben haben, das können Sie auch wieder nehmen – da haben Sie's wieder!« – und damit warf er das Messer hinter Tom her, soweit er konnte. Aber auch diese Heldenthat hatte keine Wirkung, nur empfand Bob plötzlich eine fürchterliche Lücke in seinem Besitzthum, da das Messer weg war.
Er blieb an seinem Platze stehen, bis Tom hinter einer Hecke verschwunden war. Das Messer lag an der Erde, da konnte es nichts nutzen; Tom ärgerte sich doch nicht drüber, und Stolz oder Rachsucht waren für Bob lange nicht so mächtige Leidenschaften, wie die Freude an einem Taschenmesser. Seine Finger zuckten förmlich nach der altgewohnten rauhen Hornschale, mit der sie so oft aus lauter Vergnügen gespielt halten. Und zwei Klingen hatte das Messer, und beide waren grade erst geschliffen! Was konnte Bob thun? Er schob nach der Stelle hin, wo das geliebte Messer im Schmutz lag, und empfand ein ganz neues Vergnügen, als er es nach kurzer Trennung wieder in der Hand hielt, eine Klinge um die andere öffnete und ihre Schärfe mit seinem harten Daumen probirte. Der arme Bob! Er hatte nicht grade ein zartes Ehrgefühl, war kein ritterlicher Charakter; in der Fischergasse, die seine ganze Welt ausmachte, wäre Ehrgefühl wie ein feines Parfüm gewesen, das niemand schätzte, selbst wenn es bei den vielen andern Gerüchen sich hätte geltend machen können, und doch, trotz alledem, war der arme Bob nicht so ganz ein Schleicher und Dieb, wie unser Freund Tom vorschnell abgeurtheilt hatte.
Aber Tom war ja, wie der Leser bemerken wird, ein Stück von einem Rhadamanthus, mit einem Rechtsgefühl ausgestattet, wie es bei einem Jungen durchaus nicht gewöhnlich ist – mit jenem Rechtsgefühle, welches Verbrecher so hart bestrafen will, wie sie verdienen, aber mit dem Maaße des Wieviel es nicht zu genau nimmt. Als Tom nach Haus kam, sah Gretchen eine Wolke auf seiner Stirn, und obwohl sie sich freute, ihn so über Erwarten früh wiederzusehen, so wagte sie doch kaum mit ihm zu sprechen, als er sich an den Mühlbach hinstellte und schweigend kleine Steine hineinwarf. Es ist nicht angenehm, eine Rattenjagd aufzugeben, wenn man mal seinen Sinn darauf gestellt hat. Wenn man aber Tom gefragt hätte, wie es ihm in diesem Augenblicke so recht um's Herz sei, so wäre seine Antwort gewesen: »Ich würd's grad' wieder so machen.« Und das war immer seine Art, wie er geschehene Dinge ansah, während das arme Gretchen jedesmal seufzend sagte: »Hätt' ich's doch anders gemacht!«