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Die Insel

Die Sonne schien schon hell durchs Fenster, als sie erwachten; aber es war noch früh am Tage. Zunächst waren die Besorgnisse des gestrigen Tages wieder vergessen. Sie badeten im See, der so eisig kalt war, daß sie am ganzen Körper blau und rot wieder herauskamen. Horst stürzte sich kopfüber in die Tiefe, Klaus wagte sich nur mit zögernden Schritten und vielem Gruseln hinein, während Gerd mit einer verzweifelten Miene schnell hineinwatete, einmal untertauchte und sich gleich wieder ans Land rettete.

Das Frühstück wurde sehr knapp bemessen. Klaus fühlte seine Verantwortung so schwer wie nur irgendein Ernährungsminister in der Kriegszeit und schrieb genau vor, wieviel Stücke Brot jeder erhielt. Er dachte sogar eine Weile daran, Brotkarten herzustellen, und gab dies bloß auf, weil er kein Blatt aus seinem Notizbuch opfern wollte.

Dann rüsteten sie sich zur großen Erkundungsfahrt. Horst und Klaus sollten, jeder in entgegengesetzter Richtung, dem Ufer folgen, bis sie zusammentrafen. Gerd sollte sich inzwischen im Angeln versuchen. Er warf bedenkliche Blicke auf die völlig glatte Seefläche, es sah gerade nicht besonders hoffnungsvoll aus.

Klaus folgte dem Ufer nach Westen. Die erste Strecke des Strandes war steil und niedrig mit blankem Fels oder großen Steinen und tiefem Wasser. Hier gab es keine Buchten, kein Schilf, und landeinwärts stieg das Ufer zu einem kleinen Hügel oder einer niedrigen Kuppe an, die ganz mit Moos und Flechten bedeckt war, und dazwischen gab es Flächen mit Heidekraut und Zwergbirken, die wie Inseln aus dem Moos herausragten. Von Bäumen war nicht viel zu sehen. – Es war ziemlich mühsam, längs des Ufers hinzuwandern, denn das Gestein war schroff und glatt. Nach öfterem Klettern und Krabbeln gelangte er an eine Landzunge, die mit Geröll und einer Unmenge von größeren und kleineren Steinen bedeckt war; viele waren so klein, daß er nicht einmal darauf stehen konnte. Das sieht aus, als ob eine Landzunge ins Wasser gefallen und in Stücke zerschlagen worden wäre, dachte er. Als er aber um die Spitze bog, tat sich eine ganz neue Welt auf. Eine stille, seichte Bucht schob sich weit ins Land hinein, mit Sumpfwegerich und dichtem Schilf bewachsen. Außerhalb des Schilfes aber spielten ununterbrochen Fische, zumeist ganz kleine, es kochte förmlich an der Wasserfläche – weiter draußen im Wasser kam jetzt aber ein dunkler Rücken hoch, der sich langsam umdrehte. Klaus sah noch eine große Schwanzflosse, die beim Verschwinden einen Kreis ruhiger, breiter Ringe auf dem Wasser bildete. Er bekam Herzklopfen bei diesem Anblick – welch ein mächtiger Kerl! Diese Angelstelle wollte er sich merken.

Er folgte dem Ufer längs der Bucht. Plötzlich fuhr er erschreckt zusammen: zwischen den Schilfgräsern, mit den Flügeln auf die Wasserfläche klatschend, flogen Wildenten auf, segelten niedrig über das Wasser, setzten sich in der Luft auf die Schwänze, bremsten mit den Flügeln und gingen ein Stück weiter wieder aufs Wasser nieder. Dort schwammen sie jetzt und sahen sich aufmerksam um.

Klaus blickte ihnen nach. Da hörte er einen neuen Laut, ein Rieseln, ein leichtes Murmeln. Wahrhaftig, es war ein Bächlein, ein winziges Bächlein, das hier in die Bucht mündete. Hier war das Ufer moorig und naß und der Bach schlich zwischen Erdhügelchen und Weidengestrüpp dahin. Als Klaus das Bächlein an seiner Mündung durchwatete, schoß ihm beinahe eine gewaltige Forelle zwischen den Beinen hindurch, sie hatte gerade hier gestanden und frisches Wasser getrunken und verschwand jetzt zwischen den Schilfgräsern. Fische gab es hier wohl genug, wie es schien.

Er machte einen Versuch, dem Bachlauf aufwärts zu folgen, aber hier war es so naß und der Boden so weich, daß er bei jedem Schritt einsank. Es gluckste und gurgelte um ihn her. Es war ihm nicht ganz geheuer, und er machte daher schnell ein paar lange, platschende Schritte rückwärts, bis er wieder sicher auf festem Boden stand.

Der Strand, dem er nun wieder folgte, blieb jetzt dauernd seicht und sumpfig, bewachsen mit Weidengebüsch, Zwergbirken, Heidekraut und Binsen. Das Wasser war niedrig, und längs des Ufers wuchs dichtes Schilf. Er war nun so weit herumgekommen, daß er an der kleineren der beiden Kuppen vorbei über dichtes, niedriges Gehölz hinweg den anderen Gipfel mit der Notflagge erblicken konnte.

Er schritt schnell weiter, der Boden wurde trocken und fest, er setzte sich in Trab, so daß es in seinen nassen Schuhen quietschte, und beinahe wäre er über Horst gestolpert, der auf dem Bauche lag und in ein Erdloch starrte, in welchem er, wie er behauptete, ein merkwürdiges Tier hatte verschwinden sehen.

Horst war dem Inselufer in östlicher Richtung gefolgt. Anfangs mußte auch er über Felsen und Steine, eine kleine Geröllhalde, und wiederum über Felsen und Steine, ohne daß sich etwas Berichtenswertes ereignete. Hinter dem »Kap der Enttäuschung« – von dem aus er die verunglückte Schwimmexpedition unternommen hatte –, war der Strand mit Heidekraut und Flechten bis hinauf gegen den kleinen Birken- und Föhrenwald bewachsen. Etwas Besonderes hatte er bisher nicht gesehen, da machte er gerade zum Schluß, ein paar Meter vorher, noch eine wichtige Entdeckung. Er fand die Reste eines Holzfeuers und führte nun Klaus sofort an die Stelle. Wie lange es her war, seit dieses gebrannt hatte, war nicht leicht zu erkennen, aber daß es nicht in diesem Jahr gewesen war, darüber einigten sie sich beide rasch. Das Feuer hatte in einem kleinen Erdloch gebrannt, das jedenfalls zu seinem Schutz gegraben worden war, und zwischen der alten Asche war neues Gras gewachsen. Dicht daneben lag eine dicke Kienwurzel, die auf einer Seite angebrannt war, eine leere Konservenbüchse und eine leere Flasche. Hier waren also Menschen gewesen, und zwar andere, als die, die in der Hütte verkehrten. Leute, die die Hütte vielleicht gar nicht kannten. Das war eine hoffnungsvolle Entdeckung.

Und die Flasche war ein überaus nützlicher Fund. Sandten nicht alle Menschen, die auf einsame Inseln verschlagen wurden, eine Flaschenpost aus mit Berichten über ihr Schicksal, wo sie sich befanden, und mit der Bitte um Rettung? Mußten sie nicht sofort das gleiche tun? – Klaus opferte schweren Herzens ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb darauf:

»Donnerstag, den 8. Juli 19.., verirrten sich die drei unterzeichneten Jungen im Nebel, ruderten nach einer einsamen Insel im Sandsee in der Annahme, es wäre Festland. Aber es ist eine Insel. Am nächsten Tage ist unser Boot vom Sturm fortgetrieben worden und jedenfalls untergegangen. Wir haben noch für vier Tage zu essen. Wer diesen Brief findet, wird gebeten, ein Boot zu nehmen und uns zu holen oder dies zu veranlassen. Sonst geht es uns gut.«

Unter diesen Brief schrieb Klaus alle drei Namen mit den genauen Adressen. Dann steckte er den Zettel in die Flasche, und nun galt es, diese ganz dicht zu verschließen. Horst schnitt ein Holzstückchen zurecht, umwickelte es gut mit Flechten, legte um diese ein Stück Weidenbast und stopfte das Ganze in den Flaschenhals. Dann warf er die Flasche ins Wasser hinaus, so weit er konnte.

Sie blieb da draußen still liegen, denn es war weder Strömung noch Wind vorhanden. Ab und zu nickte sie mit dem Halse, als wollte sie sagen: Lebt wohl, ich komme schon ans Ziel.

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Sie standen eine Weile und sahen ihrem Auf- und Abtauchen zu. Dann machten sie sich quer über die Insel durch den kleinen Föhrenwald auf den Rückweg. Als sie zum Lagerplatz hinabkamen, stand Gerd auf einem Stein im Wasser und warf in großem Bogen die Angelschnur mit dem Köder hinaus in das spiegelglatte Wasser. Er hatte im Verlauf mehrerer Stunden bloß einmal ein Anbeißen gespürt und war in unsagbar schlechter Laune.

An Hand der Karte und auf Grund ihrer persönlichen Erkundungen zeichnete Klaus einen Plan der Insel und suchte festzustellen, wie groß sie sei. Wahrhaftig, klein war sie nicht, zwei Kilometer lang und ungefähr einen Kilometer breit. Die höchste Erhebung, die Kuppe, auf der die Notflagge stand, mußte ihrer Schätzung nach fünfzig bis sechzig Meter über der Fläche des Sandsees liegen.

Jedoch das Schlimmste war ihr ewiger Hunger. Jetzt mußten sie wieder essen, es ging nicht anders. Eine Tasse Tee und etwas Brot dazu gebührte ihnen wohl als Belohnung für die Anstrengungen. Klaus, der barfuß umherging, während Schuhe und Strümpfe trockneten, war voll Bedenken – aber sehr hungrig war er auch. Also kam der Teekessel auf den Ofen.

Inzwischen legten sie sich nebeneinander auf den Rücken – Gerd hatte das Fischen aufgegeben –, ließen sich's wohl sein und warteten, bis das Teewasser kochte. Eine kreideweiße, große Sommerwolke stand über dem Berge und warf einen breiten, dunklen Schatten über die Gegend. Eine leichte Brise kräuselte weit draußen das Wasser. Ein Vogel piepste unruhig in den nahen Büschen. Und die Mücken waren sehr blutgierig – wahre Plagegeister von Mücken, großmächtig, boshaft und aufgeregt – die Jungen mußten unablässig mit den Händen in der Luft herumfuchteln; ohne Mücken wäre das Dasein bedeutend angenehmer gewesen.

»Jetzt wären wir schon auf dem Heimweg von den Bergseen«, sagte Horst. »Allerspätestens morgen ruft Onkel bei Vater an und fragt, was mit uns los ist, wo wir stecken.«

»Ja«, meinte Klaus nachdenklich, »und dann schickt er hinauf nach den Bergseen, um zu hören, ob wir noch dort sind.«

»Und dann fangen sie an, nach uns zu suchen –, aber niemand wird auch nur vermuten, daß wir hier sein könnten –«

»Ja, mit den Lebensmitteln müssen wir sehr sparsam umgehen. Wer weiß, wie lange es dauert, bis sie uns hier finden«, sagte der Küchenmeister und stand auf, um nach dem Vorratskeller zu gehen.

Gleich darauf hörten die beiden andern einen Schrei des Schreckens, der Verzweiflung. Sie sprangen auf. War Klaus etwa von einer Schlange gebissen worden oder war irgendein Unglück geschehen?

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Sie fanden Klaus vor dem Keller kniend, in Tränen aufgelöst. Drunten, in seiner neuausgegrabenen und wohlgeordneten Speisekammer war eine große Verheerung angerichtet worden. Von den Eiern lagen bloß noch ein paar Schalen da und die Spuren von etwas Eigelb. Die Fleischkuchen waren verschwunden bis auf zwei. Der Schinken war fort. Von dem Käse waren nur noch ein paar Krümelchen zu sehen. Die Wurst war weg. Und eine Butterdose war aufgerissen und der Inhalt angeknappert.

Fast der ganze Vorrat war entweder verschwunden oder verdorben. Glücklicherweise lagen Tee und Brot in der Hütte. Das Salz war unberührt.

Klaus schluchzte, daß es ihn schüttelte. Horst starrte blaß und erschrocken in die geleerte Vorratskammer – wie war das nur zugegangen, und woher sollten sie nun etwas zu essen bekommen? Gerd aber bückte sich und untersuchte genau die Überreste, die auf dem Boden lagen.

»Ich dachte mir's«, sagte er.

»Was dachtest du?« fragte Horst.

»Ein Wiesel – natürlich«, erwiderte Gerd.

Wie war dieses Raubtier trotz der Steinplatte in den Keller und wieder herausgekommen?

*


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