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Heimweh

Zwei Enten flogen in großem Bogen über das Wasser. Hoch in der blauen Luft, in engen Kreisen segelte ein Raubvogel, anscheinend ein Mäusebussard. Das Wasser war spiegelglatt. Ab und zu sprang ein Fisch hoch; dann zeichneten sich große Ringe auf der Stelle ab. Drüben im Wald rief ohne Unterlaß der Kuckuck.

Klaus saß an der Böschung des Flaggenhügels, er hatte hier ein geschütztes und behagliches Plätzchen gefunden, ein Plätzchen, das nur ihm allein gehörte. Draußen auf der Landzunge sah er Gerd stehen und angeln; sooft er einen Wurf tat, entstand im Wasser ein glitzernder Streifen. Und er sah Horst über das Moor springen, von Erdhügel zu Erdhügel, und im Walde verschwinden.

Klaus war also allein – und hatte Heimweh. Es war Samstagabend, zu Hause der traulichste aller Wochentage. Oh, diese Samstagabende im Sommer auf dem Lande, wenn es im Dorfe still und alle Arbeit getan war, und es überall nach Sauberkeit duftete und alles sich auf den Sonntag vorbereitete. Es war ja schön im Gebirge, aber gerade heute sehnte er sich so sehr nach der Beschaulichkeit da unten im Tal. Oh, auf dem Bauche liegen und in einem unterhaltenden Buche lesen können! Oder durch den Garten schlendern und Beeren naschen, die jetzt wohl reif sein mußten. Oder Fußball spielen auf dem Sportplatz – und dann Mutters gutes Essen verspeisen, wenn man Hunger hatte. An den Abenden allein draußen rudern – im Boot sitzen, wenn die Dämmerung über dem Wasser lag, die Berge und Felder sich in der schwarzen, spiegelglatten Flut spiegeln sehen. Oder mit den Erwachsenen auf der Landstraße bummeln und Bekannte begrüßen und ein paar Worte plaudern und weiterschlendern und überall sehen: es war heute Samstagabend und – ach ja, es war Sommer! Ob er das alles je wieder erleben würde! Wie wäre es, wenn sie nie gefunden würden, wenn sie krank würden, wenn einer von ihnen stürbe!

Ach, nur bald wieder heimkommen zu den Eltern, abends auf der Treppe sitzen und sich's wohl sein lassen, oder in der Dämmerung Verstecken spielen mit den Kameraden. Ja, wenn es sein mußte, wollte er auch gern in die Stadt, zur Schule zurückkehren – hu! die Schule mit ihren Aufgaben, mit dem Genörgel der Lehrer, mit den schlechten Noten – ausgenommen in Geographie und Geschichte. Uff, es schauderte ihn, wenn er bloß an die Schule dachte. Horst freilich, dem verschlug es nichts, der erledigte seine Aufgaben, er brauchte die Bücher bloß von außen anzusehen. Und Gerd auch, der so fleißig war und an nichts anderes dachte, und überdies der Stärkste in der Klasse war. Ja, für Horst und Gerd war die Schule nicht so schlimm. Aber für ihn, der nicht stark war, der nicht gern raufte, der beim Turnen ausgelacht wurde und immer schlecht abschnitt. – – Wann aber sollte er auch zum Lernen und Aufgabenmachen kommen, wo es doch so viel anderes für ihn zu tun gab: Lesen, Schreiben und Nachdenken! Mutter schalt wohl wegen der schlechten Noten. Aber wenn sie abends beisammensaßen und zusammen in einem guten Buch lasen, vergaß sie oft, ihn zu fragen, ob er auch alle seine Schulaufgaben richtig gemacht habe.

Trotz alledem – selbst wenn es hieß: zurück nach der Stadt und zur Schule – wie gern wäre er doch heute abend daheim! Das ganze Jahr sehnte er sich nach den Sommerferien, nach den Wanderungen im Gebirge und nach dem Angeln. Und nun saß er hier und sehnte sich dennoch heim – und hieße es auch zurück zur Stadt und zur Schule.

Er mußte statt des Taschentuches die Finger zu Hilfe nehmen – es war ganz merkwürdig, sie hatten ihre Taschentücher verloren. Er blickte an sich hinab – wie scheußlich zerlumpt er aussah! Und die Schuhe waren fast am Auseinanderfallen – sicherlich kam es daher, daß er beim Angeln so viel im Wasser watete.

Ach – wie schön wäre es, wieder in einem Bett zu liegen – in einem Bett mit Kissen und Decke – und ganz heimlich, ohne daß jemand es sah, bis tief in die Nacht zu lesen. Wenn er vielleicht niemals wieder – –? Wie lang wohl konnten Menschen überhaupt nur von Fischnahrung leben? Und wenn die Fische nicht mehr anbissen? Daß es auch niemand einfiel, sie hier auf der Insel zu suchen – unglaublich! Ob man sie schon für tot hielt und das Suchen aufgegeben hatte? O Gott, wenn Mutter nun glaubte, er sei tot – –!

Heute war es der zwölfte Tag, seit sie von daheim fortgegangen waren. Jedenfalls hatte man lange nach ihnen gesucht. Im Gebirge, längs des Flusses und in den Mooren; und da sie nirgends gefunden wurde, hatten sie vielleicht die Hoffnung aufgegeben.

Seine Mutter glaubte gewiß, sie sähe ihn niemals wieder. Und wer konnte wissen, wie es ihnen hier noch ergehen würde!

»Hallo – bist du hier!« Horst setzte mit einem langen Sprung über einen Stein, der neben Klaus lag, und hockte sich neben ihn.

»Bläst du etwa Trübsal bei so schönem Wetter? Weshalb läßt du die Nase so hängen? Was willst du eigentlich mehr: frische Luft und jeden Tag frische Fische – und Preiselbeeren zum Nachtisch, und bald sind die Heidelbeeren auch reif.«

Klaus mußte jetzt doch lachen und sah den Vetter bewundernd an. Horst war fast schwarzgebrannt im Gesicht, an Hals und Händen. Heute hatte er nichts an als Hose und Hemd – was für eine Farbe dieses Hemd einmal gehabt hatte, war nicht mehr mit Sicherheit zu erkennen. Und der Hosenboden hatte einen großen Riß.

»Du siehst aus wie ein gefährlicher Räuber«, bemerkte Klaus.

.

Horst lachte mit blitzenden Zähnen. »Du siehst nicht viel besser aus«, sagte er. »Um die Kleider mache ich mir keine Sorgen. Und jetzt habe ich einen fabelhaft harten Stein gefunden, den will ich zu einer Axt zurechtfeilen, dann werde ich Holzfäller und zimmere ein Floß; ich binde die Stämme mit unseren Angelschnüren zusammen, weißt du«, seine Augen funkelten vor Eifer, »dann können wir davonrudern, wenn wir die Insel satt haben. Du hast wohl Heimweh, Muttersöhnchen du?« Er klopfte Klaus herablassend auf den Rücken.

»Nein, nein«, Klaus zwinkerte mit den Augen. »Glaubst du denn gar nicht mehr, daß sie hier nach uns suchen werden, Horst?«

»Doch, freilich, wenn sie uns sonst nirgends finden. Es denkt eben niemand daran, daß wir hier auf der Insel sein könnten, und eigentlich kann uns hier doch nichts passieren. Du mußt bloß den Mut nicht sinken lassen, Klaus, und nicht den Kopf hängen lassen.« Horst hatte die Hand auf Klaus' Schulter gelegt. »Denn davon wird es für uns nicht besser. Bloß durchhalten, heißt es. Zuerst sucht man jedenfalls überall gen Norden nach uns, sie müssen ja annehmen, daß uns etwas zugestoßen sei, da wir auch jetzt bei dem guten Wetter nicht heimkommen. Denn wie falsch wir auch gegangen sind, bei klarem Wetter wäre es nicht schwierig, zu den Bergseen oder nach Hause zurückzufinden. Sie glauben also natürlich, es sei uns ein Unglück zugestoßen.«

»Ja, ja.«

»Na also, das ist doch klar«, fuhr Horst eifrig fort, »wo wir auch wären in der ganzen Umgebung, außer gerade ausgerechnet auf dieser Insel – müßten wir mit Leichtigkeit den Weg zurückfinden. Und wer denkt auch daran, daß wir auf einer Insel festsitzen! Erinnerst du dich an die Sümpfe auf dem Weg nach den Bergseen? Vor nicht langer Zeit versanken dort im Nebel zwei Mann und ein Pferd.«

Es zuckte wieder in Klausens Gesicht.

»Keinen Pieps mehr«, sagte Horst streng; »wir sind eben nicht untergesunken – vergiß das gefälligst nicht!«

»Ja«, erwiderte Klaus und schluckte, »ich vergesse es ja nicht. Ich dachte nur an Mutter, die – die es vielleicht glaubt.«

»So wird sie sich um so mehr freuen, wenn sie dich wiedersieht«, sagte Horst und schwang seinen Bogen. Dann setzte er feierlich hinzu: »Ich verspreche dir, Klaus, – du sollst wieder hübsch heimkommen zu deiner Mutter. Ich denke mir gerade einen Plan aus – ich habe einen großen Plan, und ich hoffe, er wird gelingen. Du darfst mich meinetwegen plattschlagen, wenn du nicht wieder heimkommst.«

Klaus trocknete sich die Nase – wenn Horst solche Versprechen gab, dann – –

Sie trotteten still hinab zur Hütte und kamen zugleich mit Gerd an, der eine Anzahl Fische abwarf. »Wenn man sie bloß nicht essen müßte«, sagte er.

Nach dem Vorschlag von Klaus hielten sie am Nachmittag große Kleiderwäsche, wuschen, schwenkten und breiteten das Gewaschene zum Trocknen in der Sonne auf dem Boden aus, »Es ist nicht allein der Reinlichkeit wegen, das könnt ihr mir glauben«, meinte Gerd, »aber die Zeit vergeht dabei.«

Später räucherte Gerd wieder Fische – sie wurden ihrer weniger überdrüssig, wenn sie sie ab und zu geräuchert aßen. Horst unternahm eine lange Schwimmtour und kam mit einem sehr nachdenklichen Gesicht aus dem Wasser heraus. »Die vornehme Welt macht jetzt Toilette«, sagte er und zog das reingewaschene Hemd an.

Am Abend verspeisten sie die letzten Brotscheiben und scharrten die letzte Butter zusammen. Tee – er war von Tag zu Tag dünner geworden – hatten sie nur noch für ein einziges Mal. Sie kauten und kauten an dem harten Brot herum. Es war ordentlich schwer, es hinunterzubekommen, wenn sie daran dachten, daß es die letzten Bissen seien – jetzt hatten sie bloß noch Fische und Wasser.

»Und Beeren«, sagte Horst.

Nach dem Essen gingen sie wie gewöhnlich zum Flaggenhügel, standen dort und blickten hinüber nach dem Land. Das Wasser schien hell im Widerschein des gelblichen Abendhimmels – es war still, nicht ein Windhauch war zu spüren.

Da sahen sie drüben in dem Einschnitt, in dem, wie sie vermuteten, der Bach floß, von wo sie zuweilen das Brausen eines Wasserfalls schwach herüberzuhören meinten – ganz unten, da wo der Wald begann, einen dünnen, blassen Rauch aufsteigen. Bloß wie ein zitternder Schatten war er zu sehen. Aber sie täuschten sich nicht. Es war Rauch. Rauch von einem Holzfeuer. Dort mußten Menschen sein.

Zuerst riefen sie laut. Aber Gerd sagte, es sei nutzlos, die Entfernung sei zu groß, und dann störte das Brausen des Wasserfalls. Da zündeten sie selbst ein großes Feuer an – wer weiß, vielleicht sahen die da drüben gerade herüber und entdeckten das Feuer bei ihnen. Lange saßen sie am brennenden Holzstoß und blickten gespannt hinüber nach dem Land. Bald aber war dort kein Rauch mehr zu sehen.

Dennoch blieben sie noch lange auf ihrem Ausguck sitzen, spähten hinüber und lauschten hinaus in die Stille, bis ihr eigenes Feuer her abgebrannt war und es so kalt wurde, daß sie in die Hütte gingen.

*


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