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Willkommen auf der einsamen Insel!

Da saßen sie nun und blickten hinüber nach dem Hügelchen, hinter dem Horst verschwunden war, nach dem Boote, das regungslos in der Bucht lag, und über das Wasser, das dunkel wurde, da die Sonne fast untergegangen war. Verlassen und verloren kamen sie sich vor, sie waren weniger geworden, nur noch zu zweit!

»Es nützt ja nichts«, sagte Gerd in seiner verdrossenen Art, »er kann doch nicht splitternackt in bewohnte Gegenden laufen, das wäre auch wohl zu weit.«

»Er kann auch nicht ganz nackt im Freien über Nacht bleiben«, meinte Klaus und setzte als letzte Feststellung hinzu: »Hm – jetzt ist Horst also nicht mehr auf der Insel.«

»Kalt wird es auch heute nacht.« Gerd blickte nach dem Himmel hinauf. Es lag noch ein Abglanz der Sonne über dem Wasser, aber von allen Kuppen und Hügeln und Mulden kam die Nachtkälte gekrochen. Es dampfte schwach von dem Wasser und dem Moor, ein silbergrauer Rauch lag über allen Buchten, und der Himmel wurde hoch und bleich. Wo die Sonne untergegangen war, flimmerte noch ein heller Schein, bis auch dieses Licht erlosch wie ein Funke, der ausgeht.

Sie horchten hinüber nach dem Land – riefen noch einmal – warteten auf Antwort, aber Horst kam nicht zurück. Dann nahm Gerd Horsts Kleidung. »Es hat keinen Wert hierzusitzen und zu warten«, sagte er. »Ich gehe zurück nach der Hütte.« Klaus verspürte wenig Lust, alleinzubleiben. »Ich weiß nicht«, sagte er – »wenn er aber nun noch kommt?« – »Will er was von uns, soll er rufen. Ich möchte hier nicht frieren. Und übrigens können wir ab und zu herlaufen und nach ihm aussehen. Ich gehe in die Hütte und mache Feuer.«

Langsam gingen sie nach der Hütte zurück – blieben aber immer wieder stehen und horchten. Aber es war nichts zu hören. Wortlos machten sie sich auf dem Lagerplatz zu schaffen und schielten dabei nach der Hütte, die ihr Obdach gewesen war, als sie noch zu dritt waren. Dämmerung und Nacht senkten sich nun über Wasser und Land, und sahen sie hinauf nach dem blassen Himmel, konnten sie bloß einen einzigen Stern entdecken, schwach flimmernd, fast unsichtbar.

Während Klaus einen Fisch zubereitete, machte Gerd Feuer im Räucherofen an, ein großes Feuer mit einer gewaltigen Kienwurzel, die mit goldiger Flamme brannte und würzigen Duft gab. Ab und zu fing ein trockener Ast Feuer, und ein Funkenregen wirbelte empor und erlosch oben in der Luft. Heute wollten sie nicht schlafen gehen, sie konnten es nicht, es wäre gefühllos, zu Bett zu gehen, während Horst ihretwegen nackt herumirrte. Sie saßen still beisammen und starrten in die Flamme, und um sie her wuchs das Dunkel vor ihren Augen, die geblendet waren vom Feuerschein. Sie sprachen nichts, sie wollten nichts essen, sie rückten bloß dicht aneinander. Abwechselnd erhoben sie sich, taumelten, vom Feuer geblendet, hinaus in die Nacht und stiegen den Flaggenhügel hinauf – aber nie war etwas zu hören. Kein Wellenschlag verriet einen Schwimmer. Kein Ruf deutete darauf, daß jemand zurückkam.

Dann erinnerte sich Klaus daran, daß er die Uhr nicht aufgezogen hatte; er tat es – es war halb eins. Er war müde, die Augen wollten ihm zufallen, und sein Kopf sank auf die Brust, und dennoch lauschte er gespannt und hörte jeden Laut, jedes kleinste Geräusch, jeden Flügelschlag, jeden schwachen Schrei. Ein Nachtvogel kam aus dem Dunkel, flog auf weichen Schwingen tief über das Feuer und flatterte verwirrt weiter über den See. Dann schrie eine Eule, lang, jammervoll, und sie fuhren zusammen und spähten angestrengt über das Wasser.

»Sechzehn Tage sind wir jetzt auf der Insel« – Gerd fing plötzlich an zu sprechen – »und warum sollten wir nicht noch sechzehn Tage hier bleiben? Wäre bloß Horst wieder hier! Aber nackt in der Gegend herumlaufen, selbst wenn's Sommer ist – das ist Unsinn. Hätten wir ihn nur wieder hier. Allein, nackt in den Bergen – hast du je etwas so Unsinniges gehört? Wenn ihm etwas zustößt, können wir ihm nicht helfen. Hier waren wir doch drei, hier haben wir uns bis jetzt gut durchbringen können. Ganz gemütlich haben wir's eigentlich gehabt, meine ich. Aber allein und nackt in der Nacht herumlaufen – wenn nun ein Unwetter kommt – du weißt selbst, wie schnell es sich wenden kann. Hätten wir ihn bloß nicht hinüberschwimmen lassen.«

Klaus kämpfte mit den Tränen. Was sollte er sagen, wenn schon Gerd verzagte! »Er kommt gewiß wieder zurück – du weißt doch, wie erfahren Horst ist. Er kann ja jeden Augenblick wieder hier sein. Vielleicht findet er eine Scheune, in der er übernachten kann. Dann ist er bestimmt morgen früh hier – horch – was war das?«

Sie lauschten – auch Gerd meinte, ein schwaches Geräusch gehört zu haben – aber jetzt war es wieder still. Klaus erhob sich vom Feuer, steif und lahm stolperte er hinab zum Ufer und blickte über das Wasser. Im Osten begann sich der Himmel heller zu färben, und ein feiner Nebel wogte über das Wasser.

Er kam bald zurück und setzte sich wieder ans Feuer. Eine Fledermaus schwebte lautlos, als falle sie, über das Feuer, warf sich in zackigem schwankendem Flug herum, flatterte hoch und kam wieder zurück.

»Ich würde mich gern damit abfinden, den ganzen Sommer hierbleiben zu müssen«, begann Gerd von neuem, »verhungern können wir ja nicht, solange wir Fische haben, und die gibt's hier immer, wäre bloß Horst gesund zurück. Die Nächte sind jetzt kalt – was war das?«

Diesmal hörten sie es deutlich. Ein schwacher Ton kam vom Wasser her, ein leises Knirschen.

»Es ist ein Boot«, rief Gerd und sprang auf. »Horst kommt mit dem Boot.«

.

Sie liefen, über die Steine stolpernd, fast geblendet nach dem langen Starren in die Flammen – sie liefen den Strand entlang bis zu einem kleinen Vorsprung. Da, im Wasser, von dem anderen Ufer her, kam ein Boot, langsam gerudert, förmlich tastend.

Sie schrien, sie brüllten. Das Boot hielt an. Ein Mann erhob sich und rief zurück. Der andere saß an den Rudern.

Das Herz klopfte ihnen bis zum Halse, ihre Zähne klapperten vor Spannung und Erregung, während das Boot jetzt sicher und langsam der Insel zusteuerte. Jetzt merkten sie erst, wie schwer das Warten war, es schien ihnen eine Ewigkeit zu dauern bis es näher kam. Dann stand der Mann, der achtern saß, auf und rief herüber:

»Jungens, seid ihr es –?«

»Ja, ja«, schrien sie zurück.

Nun war das Boot so nahe, daß sie die Insassen sehen konnten. Ein junger Bursch ruderte. Achtern stand ein großer Mann, den Klaus sofort erkannte: es war Horsts Oheim, Förster Reinhardt.

Das Boot stieß auf den Grund und der Förster sprang an Land, lachend wie ein Junge.

»Habt ihr Horst nicht gesehen?« rief Gerd.

»Ist Horst nicht hier?« Der Förster packte ihn fest bei der Schulter. »Seid ihr nicht alle drei beisammen?«

Gerd und Klaus sprachen durcheinander und erzählten von dem entdeckten Boote und von Horsts Schwimmtour und daß er splitternackt landeinwärts gelaufen sei.

Der Förster hörte aufmerksam zu, sein Gesicht hellte sich auf, und er nickte dem Ruderer zu. »Er kann nicht weit gekommen sein – ich denke, er hat die Hütte unten beim Wasserfall gefunden, wir ließen die Türe offenstehen. Wir haben heute abend flußaufwärts gesucht – aber auf der anderen Seite. – Rudere zurück, Peter«, wandte er sich wieder an den Burschen im Boot, »und sieh, ob du Horst in der Hütte am Wasserfall findest, und bring ihn her! – Solltest du ihn nicht finden –« er überlegte ein wenig, »bist du spätestens um neun Uhr mit dem Boot wieder hier.«

Peter ruderte über den See zurück – die Ruderschläge waren in der Stille lange zu hören. Der Förster wandte sich jetzt wieder den beiden Knaben zu. »Es freut mich, daß ich euch doch gefunden habe! Große Hoffnung hatten wir nicht mehr, Jungens. Aber warum habt ihr euch hier auf der Insel versteckt gehalten? Jetzt müßt ihr mir einmal alles von Anfang bis zum Ende erzählen.« Er sah sich um, sein Blick prüfte Hütte und Räucherherd: »Habt ihr noch Tee?«

»Echten Tee? Haben wir schon seit vielen Tagen nicht mehr.«

»Habt ihr Hunger? Was wollt ihr essen?«

»Alles, nur keine Fische«, sagte Gerd.

Der Förster lachte, daß es von allen Hügeln widerhallte.

»Nein, Fische braucht ihr nicht zu essen – aber vielleicht habt ihr ein bißchen Fisch für mich.«

Gerd nahm den großen Fisch aus dem Rucksack und sagte gleichgültig: »Da habe ich gestern einen kleinen gefangen.«

Wieder lachte der Förster, daß es Riesen hätte einschüchtern können, und er klopfte den Jungen freundschaftlich auf den Rücken, als wollte er ihnen alle Rippen entzweischlagen. Und während sie erzählten, bunt durcheinander und abgerissen, von dem Nebel, in dem sie sich verirrt hatten, und wie sie nach der Insel gekommen waren und von dem Boote, das verschwand, und wie es ihnen seither ergangen war, kochte der Förster Tee – ach, wie herrlich das roch – und holte Brot aus seinem Rucksack, man denke: weiches Brot, Butter, Schinken und Wurst. Beim Anblick dieser lang entbehrten Genüsse lief den Jungen das Wasser im Mund zusammen. Dann wurde der Fisch in der Pfanne der Jungen gebraten, und die Jungen brieten Speck in der des Försters, und ein verheißungsvoller Braten- und Teeduft verbreitete sich über den ganzen Lagerplatz.

Während sie schweigend und andächtig aßen, wurde es immer heller, die hochsegelnden Wolken wurden zuerst tiefrot, und dann leuchtete es über den Hügeln im Osten wie ein Feuerstreifen. Die Sonne ging auf. Und sie tranken Tee, und sie aßen Speck – »bloß hübsch mit Maß, Jungens«, mahnte der Förster – »nicht gleich zuviel – vergeßt nicht, ihr seid jetzt nicht mehr an solche Kost gewöhnt.« Aber sie hielten wenig Maß, sondern aßen, bis sie nicht mehr konnten. Aber immer wieder lauschten sie nach dem Wasser; wenn bloß Horst da wäre!

Dann erhoben sie sich, seit langem wieder einmal ordentlich gesättigt. Der Förster stopfte seine Pfeife und sagte: »Nun wollen wir uns eure Insel einmal etwas näher ansehen«, hielt aber sofort inne. Ein langer, ferner Ruf durchzitterte den Morgen.

»Horst«, schrien die Jungen und tanzten wie Indianer um den Förster herum, schrien und brüllten und rannten plötzlich wie zwei Wiesel den Flaggenhügel hinauf.

»Elende Wildfänge«, brummte der Förster und stapfte ihnen langsam nach.

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Vom Land herüber kam ein Boot – aber nicht das Boot, wegen dem Horst über das Wasser geschwommen war, das stellten sie gleich fest; achtern saß Horst und hatte Peters Jacke umgelegt und Peter ruderte, daß das Wasser um den Bug spritzte.

Eben hatte der Förster den Hügel erklommen, als die Jungen schon wieder herabgesaust kamen wie ein Bergsturz, um Horst zu empfangen. Der Förster machte kehrt und trottete brummend wieder bergab. Mit solchen Tollköpfen konnte er nicht Schritt halten.

Die Sonne schien jetzt über die ganze Insel, das Wasser blitzte und glitzerte, als das Boot am Ufer war. Aufrecht und nackt stand Horst darin, Peters Jacke hatte er abgelegt – jetzt sprang er ins Wasser und watete ans Land. Dann wandte er sich mit erhabener Miene an seinen Onkel und sagte feierlich:

»Willkommen auf der einsamen Insel!«

*


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