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»Eine Mastkur kann man dies nicht gerade nennen«, sagte Horst tiefsinnig am anderen Morgen; es war ein Freitag. Er war eben im Begriff, sich nach dem Baden anzukleiden, das heißt Hose und die letzten Reste seines Hemdes anzuziehen. Er zog den Riemen fest um den Leib. Er war mager, braun und geschmeidig wie aus Stahl, ging den ganzen Tag barfuß und beobachtete mit Befriedigung, wie die Haut auf den Sohlen hornartig und dick wurde; gestern hatte er sich einen Splitter in den Fuß getreten und es fast nicht gespürt. »Zieh die Schuhe aus, Junge!« sagte er zu Klaus, der, sooft er barfuß ging, – wie ein kleines Mädchen trippelte, vorsichtig und behutsam.
Klaus lächelte, antwortete aber nicht. Er war eifrig dabei, sich ein Paar Sandalen zu machen – er mußte seine Schuhe schonen, die am Auseinanderbrechen waren. Eine wirklich schöne Schuhmacherarbeit waren diese Sandalen ja nicht, sie wurden, hergestellt aus Baumrinde und Bindfaden, aber fabelhaft interessant war es.
Gerd befaßte sich mit Köder und Angelgeräten – es war sehr wichtig, daß das alles in bester Ordnung war, wenn sie nicht hungern wollten. Wie er so dahockte, halbnackt und braun, erinnerte er in seiner grobknochigen, langgliedrigen Magerkeit an einen unbehaarten Affen. Sein Haar war gebleicht, die Augenbrauen fast farblos und die hellen Augen glänzten weiß in dem dunklen Gesicht. Klaus schien noch am wohlgenährtesten, man sah nicht, wie mager er eigentlich geworden war, er glich mehr als je einem Eichhörnchen, hurtig und munter, mit neugierigem Blick.
Jeder hatte nun einen Bogen, und alle drei machten gewaltige Fortschritte im Schießen. Aus ausgedienten, gradgebogenen Angelhaken verfertigten sie sich Pfeilspitzen, die ganz gefährlich wirkten. Horst hatte kürzlich eine Feldmaus erlegt, ein großes, ruppiges und häßliches Tier, das von dem Pfeil gerade ins Genick getroffen wurde und sofort tot war. Horst und Klaus hatten wegen der Jagd beständig Streit, Klaus brachte es nicht über das Herz, andere Tiere außer Fischen zu töten, selbst dem Wiesel, dem Erbfeind, hatte er nur durch Zufall den Garaus gemacht. Warum sollte man einem so friedlichen und freundlichen Tierchen wie der Feldmaus, die niemand etwas zu Leide tat, nach dem Leben trachten? Darauf meinte Horst voll Verachtung: Wie sollte Klaus jemals ein Jäger werden, wenn er nicht einmal eine Maus töten konnte? In ihrer Lage so zu sprechen! Da mußte jeder von ihnen hart sein – wie konnte man nur so ein Waschlappen sein! Gerd nickte und lächelte höhnisch. Klaus fühlte sich zwar sehr beschämt und gedemütigt, konnte aber dennoch nicht verstehen, wozu sie Feldmäuse töten müßten.
Wirklicher Kampf – offener Kampf war den Tieren der Insel noch nicht angesagt worden. Selbst mit den neuen, verbesserten Pfeilen und Bogen war die Gefahr für die Vogelwelt nicht groß, es war merkwürdig, wie schnell die Bedrohten die neue Lage erkannt hatten und sich in Sicherheit zu bringen wußten, und die Pfeile hatten eine mißliche Neigung vorbeizufliegen. Aber Horst war immer kampfbereit. Die Enten auf dem Wasser, besonders die fetten, schönen und scheuen Wildenten waren sein Ziel – Entenbraten mußten sie eines Tages haben. Das Ärgerliche war bloß, daß die Enten ihn nicht ernst nahmen, besonders die Wildenten, die mit den Köpfen ins Wasser flüchteten, wenn er kam, und ihm ihr breites Hinterteil zeigten, aber sofort über den Teich hinüberflatterten, wenn er sich zu nähern versuchte. Einmal hatte er nach ihnen geschossen, und als der erste kleine Schreck vorbei war, schwamm der Enterich ganz harmlos hin, biß in den Pfeil und stand dann wieder auf dem Kopf. Das mußte sich ein Jäger gefallen lassen! Er fühlte sich tief gekränkt.
Die Insel war groß genug, ihren Tieren Verstecke zu bieten, von denen aus sie jene zweibeinigen, immer lärmenden, herumlaufenden und schreienden Wesen beobachten konnten. Es gab da Hunderte von Schlupfwinkeln, und Zeit genug hatten sie immer noch, sich in Sicherheit zu bringen. Meister Lampe, dem lustigen und neugierigen, durchaus nicht so furchtsamen, begegnetem sie nur selten; er verschwand mit einem langen Satze, wenn sie sich gerade erst von ihrer Überraschung erholt hatten. Und an Stelle des einen getöteten Wiesels entdeckte Klaus zwei weitere, die harmlos auf dem Lagerplatz spielten und ihn anfauchten, ehe sie es für nötig fanden, zu verschwinden. Mit den Rebhühnern und ihren Kücken dagegen waren sie ganz vertraut, allerdings – wenn sie in dem kleinen Wäldchen auf sie stießen, schreckte die Henne auf, und die Kücken piepsten, aber das geschah mehr, weil es eben so sein mußte, die Jungen waren ja schon ziemlich groß, und die Mutter war nicht mehr so ängstlich. Sumpfvögel kamen und verschwanden, Schnepfen flogen rechtzeitig auf, langbeinig und langschnäblig, ihnen war nicht nahezukommen, und die Drossel war ein heiliger Vogel, nach dem nicht einmal Horst schoß – wenn auch der Vogel auf den Schuß gewartet hätte. Dem Taucherentchen, das außerhalb der Insel nistete, war auch nicht beizukommen, das tauchte schon, wenn es bloß ein Steinchen am Abhang rollen hörte. Von Zeit zu Zeit kündeten Geschrei und Unruhe bei den Tieren an, daß ein Raubvogel auf der Insel eingekehrt war. Der kleine Sperber kam tief über dem Weidengebüsch angesegelt, ferner eine weißfleckige Weihe, mitunter auch Eulen, deren Schrei nachts in weiter Runde hörbar war. Der häufigste Gast aber war der Mäusebussard, unbeweglich stand er in der Luft, sank tiefer und tiefer, bis er eine Beute erspäht hatte und sich fallen ließ. – Der Habicht war ein seltener Gast, und immer kreiste er sehr hoch über der Insel, sein Jagdgebiet reichte weit, und sein Horst war weit droben zwischen den Felsen.
Es war in der Mittagsstunde und heiß, so daß sie ins Innere der Insel gewandert waren und auf einer kleinen Böschung unter dem Flaggenhügel, gerade gegenüber dem Walde, ausruhten. Eine einzelne Föhre stand da, deren Wurzeln sich wie zu einem Lehnstuhl formten, und darin saß Horst behaglich und schnitzte an einem Speer. Unter ihm lag Gerd und versuchte zu schlafen. Klaus schrieb in sein Tagebuch und lachte von Zeit zu Zeit vor sich hin, er war eben mit einem herrlichen Epos vom Ententöter beschäftigt und schielte dann und wann zu Horst hinauf, im Zweifel, wie weit er sich mit seinem Spott wagen dürfe. Es war eine summende Stille über der Insel, die Mücken schwärmten dicht zwischen den Bäumen, von Zeit zu Zeit schlugen die Jungen ärgerlich nach der allerzudringlichsten, im übrigen waren sie schon unglaublich abgehärtet gegen Mückenstiche; zwischen den Büschen hörten sie die Birkhenne mit den Kücken plaudern, die aufgeregt nach ihr schrien.
Da schoß ein Schatten über sie hinweg, ein scharfes Pfeifen durchschnitt die Luft, ein Schwirren von Federn dicht an ihnen vorbei, ein Ast zitterte noch nach, und dort unten in den Büschen hörte man einen schweren Fall, etwas schlug im Dickicht nieder. Dann schrie es auf, es zischte erbittert, zu Tode erschreckt, es flatterte und piepte – und dann gab es einen gewaltigen Lärm, ein Knacken von Zweigen, ein lautes, erbittertes Geheul, einen schweren Aufschlag nach einem weiten Sprung. Horst hatte sich dem Räuber nachgeschwungen, mit einem weiten, federnden Satz rückte er ihm so nah wie nur möglich.
In dem Augenblick, da er den Schatten über sich gemerkt und im Dickicht verschwinden gesehen hatte, wußte er, was das bedeutete, und setzte ohne Bedenken dem Räuber nach. Es war ein kühner Sprung, von dem kleinen Abhang hinab ins Dickicht, ein blinder Satz, der ihn ebensogut hätte auf einen Ast spießen können. Er landete unter Krachen gerade an der Stelle, wo der Räuber verschwunden war, schlug, behindert von den ihn ins Gesicht hängenden Zweigen, mit dem Speer nach zwei ausgebreiteten Flügeln, hörte einen heiseren Schrei und sah den Hühnerhabicht dicht vor sich hochgehen, mit den schweren Flügeln schlagend, aber mit leeren Fängen, überrascht, erschreckt. Wütend und enttäuscht arbeitete er sich langsam an dem Berghang empor und setzte sich mit hängenden Schwingen auf den Flaggenhügel; aber da er sich auch hier verfolgt sah – Gerd rannte hinauf, die Hände voll Steine – erhob er sich abermals, stumm und wutentbrannt, und flog mit schweren Flügelschlägen über das Wasser und verschwand.
Unten im Gestrüpp standen Klaus und Horst und hörten die Birkhenne gackern. Immer noch in Todesangst, lief sie im Kreise herum und suchte ihre Jungen zusammen und einen Ort, wo sie sich mit ihnen verstecken konnte. Die Kücken piepten und tauchten von allen Seiten auf, liefen der Mutter zwischen die Beine, und plötzlich rannten sie alle dem Walde zu und die Henne ihnen mit rauschendem Flügelschlag nach. – Horst war nicht ganz unversehrt aus dem Kampf hervorgegangen, ein Zweig hatte ihm eine tiefe Schramme in das Bein gerissen und ein anderer ein rotes Ehrenzeichen über seine Stirn gezogen. Klaus wischte ihm das Blut mit einem von seinem Hemd gerissenen Zipfel ab und reinigte die Stirn von Föhrennadeln und Reisig, während er sich im stillen schwor, das ganze Gedicht vom Ententöter zu streichen, und statt dessen ein Heldengedicht über den Raubvogeljäger zu schreiben. Auf keinen Fall sollte ein anderer das Gedicht vom Ententöter zu sehen bekommen.
Nach dem heißen Tage wurde es ein ruhiger Abend, die Jungen blieben im Lager. Die Sonne stand tief am Himmel, als Gerd die Angelrute nahm und die Abendfliege befestigte – er konnte einfach den Anblick der auf der Wasserfläche spielenden Fische nicht ertragen. Es war so ungeheuer spannend, die Schnur nach dem großen Fisch auszuwerfen, der sich da oben tummelte.
Langsam schritt er längs des Ufers dahin. Die Mücken summten in Wolken um ihn herum, die Fische spielten überall, es war ein Gewimmel von kleinen, aber ab und zu war auch ein großer darunter, er warf die Angel nach ihnen aus, aber sie schienen nicht anbeißen zu wollen.
Jetzt stand er draußen auf einem kleinen Stein und warf die Schnur schräg ins Wasser nach irgendeinem Gras, das er unter Wasser sah. Da wo die Fliege einfiel, entstand ein kleines Gekräusel auf der Wasserfläche, ein leise schlürfender Laut, er zog an und schon kreischte die Rolle – oho, wie die Schnur herausfuhr, zuerst tief hinab und dann hinaus in den See – das war kein Spaß mehr, die Rute war stark gekrümmt.
Vorsichtig watete er von dem Stein zurück ans Land und zog den Fisch, nachdem er sich müde gezappelt hatte, dem Ufer entlang in eine seichte Bucht. Krummgebückt vor Spannung, mit zusammengekniffenen Augen und aufgerissenen Nasenlöchern folgte er dem Weg des Fisches, begegnete seinen Schlichen, wandte List gegen List; jetzt lag er auf der Oberfläche des Wassers auf der Seite und zuckte ermattet. Vorsichtig, aber mit sicherer Hand brachte er ihn ans Ufer und zog ihn über die Steine hinauf ins Gras. Oh, er stöhnte fast vor Freude, als er jetzt nach ihm griff. Es war ein mächtiger Fisch, der größte, den er in seinem Leben gefangen hatte, er wog ihn in der Hand, er war sicherlich seine drei Pfund schwer – ach, wie breit und fett er war! Er schrie einen Triumphruf hinaus – und dachte gleichzeitig: wann sollen wir den bloß aufessen!
Da blieb ihm der Triumphruf im Halse stecken – er stand und starrte! Während des Fischens hatte er beständig nach Westen geblickt, jetzt stand er, das Gesicht nach Osten – und starrte mit runden Augen und vorgebeugtem Körper.
Jenseits des Wassers, ungefähr gegenüber dem »Kap der Enttäuschung«, lag halb ans Land gezogen – ein Boot.
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