Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kuhglocken in den Bergen

Nun folgten Tage mit schönem Wetter, mit Sonnenschein und frischem Wind. Schon bei den ersten Angelversuchen fingen sie reichlich Fische für mehrere Tage. Sie räucherten einen Teil, und während Klaus das Räuchern beaufsichtigte, sah er zwischen den Steinen jenseits des Lagerplatzes das bewußte Wiesel zum Vorschein kommen. Es machte wieder ein Männchen, schnupperte eifrig und betrachtete mit seinen listigen Äuglein die Räucherkammer, hüpfte dann näher, rollte sich lüstern zusammen und zuckte mit dem Schwanz. Es machte kleine, begehrliche Sprünge in die Luft, und erst, als Klaus mit einem Stein zum Werfen ausholte, verschwand es. Dann räucherte Klaus die Fische fertig und hing sie auf einem langen Stock unter der Decke der Hütte auf. Das machte förmlich den Eindruck von Reichtum und großen Vorräten.

Im übrigen aber war die Kost jetzt etwas einförmiger: Fische und wieder Fische. Sie hatten noch einen kleinen Rest Brot, hart wie Stein, auf jeden kam nur noch ein kleines Stückchen. Auch die Butter – die auf sonderbare Art mit Föhrennadeln, Tee und sonst allerlei Unbestimmbarem vermischt war – nahm bedenklich ab. Bald hatten sie dann auch kein Fett zum Braten mehr – wenn sie nicht gerade Horsts Schuhschmiere dazu verwenden wollten.

Aber die magere Kost machte ihnen keine großen Sorgen – außer wenn sie bei Tische saßen – solange nur Sonnenschein und gutes Wetter herrschten. Sie badeten fleißig in dem kalten Wasser, daß die Haut prickelte, und ließen sich von Wind und Sonne trocknen, daß ihre Körper braun wurden wie Kupfer. Wenn Horst sich ein paar Entenfedern in das schwarze Haar steckte, sah er aus wie ein leibhafter Sioux. Er hoffte noch immer, irgendeinen Vogel zu schießen oder zu fangen, um für Fleischkost zu sorgen, und beschlich krummgebückt und spähend mit Bogen und Pfeilen Enten und Schnepfen im Moor, auch die kleinen Strandläufer und die beiden Tauchenten, die beim »Kap der Enttäuschung« ihren Wohnsitz hatten. Besonderes Jagdglück hatte er aber nicht. Er konnte das richtige Holz für einen kräftigen Bogen nicht finden, – die Vögel waren aufgeflogen oder untergetaucht, ehe sie der Pfeil erreichte.

Von den dreien war Horst derjenige, der die Insel am besten kennenlernte, er hatte sie schon wiederholt kreuz und quer durchstreift, leichtfüßig wie er war, rastlos und ungestüm. Während die beiden anderen in der Sonne lagen, plauderten und sich's wohl sein ließen, sprang Horst oft ungeduldig auf und lief davon. Das Angeln machte ihm nur kurze Zeit Spaß und auch nur dann, wenn die Fische gut anbissen –, nein, er brauchte etwas Neues, er mußte umherschweifen, etwas erleben und etwas sehen. Bald stand er, schlank und geschmeidig gegen den Himmel abgehoben, oben auf dem Flaggenhügel, ins Weite spähend, bald sahen sie ihn in raschen Sprüngen über die Gerdhöhe rennen, bald tauchte er in der Nähe des Ufers, bald am Moor auf. Er war in der Woche, die sie jetzt von zu Hause weg waren, sehr mager geworden, schmal und dürr – mit dem kleinen Kopf auf dem langen Hals und den schwarzen, immer umherspähenden Augen glich er einem behenden Bergwild. Sein liebster Platz, wenn er ausnahmsweise einmal ausruhte, war ein schmaler Felsen am Ufer, von wo es jäh ins Wasser hinabging, eine unzugängliche Stelle, an die sich keiner der anderen wagte. Dorthin kletterte er, fast nackt, klammerte sich mit Zehen und Fingerspitzen fest, kauerte auf dem Felsenvorsprung und blickte nach dem Lande hinüber, während die Sonne ihn sengte und der Wind durch sein schwarzes Haar strich.

.

Er begegnete auf seinen Streifzügen vielerlei Tieren, und wenn er nicht auf die Jagd ging, kam er ihnen bisweilen verblüffend nahe. Dann stand er lautlos still, ohne jede Bewegung, er stand bloß da und schaute, seltsam ergriffen davon, wie nahe er ihnen war. Gerd und Klaus waren zumeist von ihren nahen Feinden in Anspruch genommen, dem Wiesel und der Bergmaus, und ihren Lieblingen, den Fischen. Horst aber begegnete vielen anderen Tieren. Eines Tages kam er, lautlos springend, ohne auch nur einen Zweig zu knicken oder zu brechen, an eine Lichtung im Wald. Plötzlich blieb er stehen. Dicht vor ihm saß ein Hase und sah ihn an. Das Häschen hielt die Löffel aufrecht und die Vorderpfoten fromm auf der Brust gefaltet, es mummelte mit dem Mäulchen, und als Horst sich etwas bewegte, stieß es einen schwach zischenden Laut aus und hoppelte davon – in kleinen Hopsern, ganz ruhig und friedlich. Nicht weit von ihm blieb es wieder stehen, setzte sich aufrecht und begann sich zu putzen. Da durchzuckte es Horst, eine nahrhafte Beute war hier zu erlegen. Er hob den Bogen und legte einen Pfeil auf – und in demselben Augenblick legte das Tier die Ohren zurück und machte einen unglaublich weiten Seitensprung, dann noch einen, er sah noch einen Schimmer der weißen Schwanzspitze, und fort war es – es zitterte bloß noch im Grase und in einem niedrigen Bäumchen, während sein Pfeil in das Weidengestrüpp hineinsauste. Seitdem gab er die Hasenjagd auf. Überhaupt – er mußte einsehen, daß seine Jagdwaffe zu unvollkommen war, und daher die Hoffnung, sich und die anderen mit Wild zu ernähren, als sehr unsicher aufgeben. Ja, hätte er eine Büchse gehabt, wenn auch bloß eine Zimmerflinte mit Munition, dann hätten sie Sommer und Winter auf der Insel leben können.

Gegen Abend pflegte der Wind meist abzuflauen. Dann schien der Himmel höher. Kleine, helle Wolken tauchten auf und es wurde merklich kühl. An einem solchen Abend, es war an einem Donnerstag, gingen sie alle drei auf den Flaggenhügel. Dort saßen sie stumm und blickten über das Wasser, während die Sonne wie eine erlösende Flamme hinter den Bergen auf dem Land versank.

Sie saßen beisammen, aneinandergelehnt, und blickten hinaus. Steinhügel, Flaggenstange und sie selbst warfen langgestreckte dunkle Schatten. Unten im Moor flötete eine Drossel.

Da – mit einem Male – sie hörten es alle drei zugleich – scholl ein ferner, metallischer Klang von dem südlichen Ufer herüber. Sie lauschten und sprangen auf. Horst stieg auf die Steine, und wiederum hörten sie den leisen, unendlich heimischen und vertrauten Klang drüben vom Strande.

»Glocken – Kuhglocken«, flüsterte Horst.

»Hier sind doch keine Kuhglocken«, sagte Gerd.

Aber es war kein Zweifel. Der leichte Wind trug ihnen das bekannte, trauliche Geläute zu von Kühen, die auf dem Heimweg waren.

»Dort, seht – dort!« schrie Horst mit einer Stimme, die vor Freude und Verzweiflung gellte.

Und nun sahen sie es alle. Ganz nahe dem Ufer, zwischen dem niederen Gestrüpp des jenseitigen Ufers unterschieden sie farbige Rücken, die gleichmäßig wiegenden Rücken von Kühen, die am Wasser entlang heimwärts zogen.

Die Jungen stimmten ein unbeschreibliches Geheul an.

Der Glockenklang hörte auf, es war, als seufze es in der Stille. Sie sahen, wie alle Kühe gleichzeitig stehenblieben und anscheinend zu ihnen herübersahen.

Die Jungen schrien wieder und winkten.

Die Kühe standen lange still und schienen herüberzusehen. Bloß die dunklen Rücken waren über dem Gestrüpp sichtbar – dann begann das Geläute wieder, leise und fern, und die Herde zog gemächlich weiter.

Noch einmal schrien die Jungen und schwangen ihre Jacken, und noch einmal. Aber niemand antwortete. Niemand kam zum Ufer gelaufen, um nach ihnen zu sehen. Noch einmal stand die Herde still. Eine Kuh brüllte laut. Dann zog sie langsam weiter, und das Geläute war bald nicht mehr zu hören.

Da standen nun die Jungen und starrten den Tieren nach. Sie konnten nicht begreifen, daß kein Mensch der Herde folgte und niemand ihren Ruf gehört hatte. Es zuckte bedenklich in Klausens Gesicht.

Lange, lange standen sie da und starrten hinüber. Dann spürten sie, daß sie froren – die Sonne war untergegangen und die Dämmerung senkte sich über Insel und Wasser.

Still, ohne ein Wort zu sprechen, gingen sie hinab zur Hütte. Unterwegs fand Gerd eine Kienwurzel, die er herausreißen und mitnehmen wollte. Horst half ihm. Klaus ging voran.

Traurig, mit hängendem Kopfe, kam er zuerst zur Hütte. Er hatte seine Angelrute außen stehen – gegen die Wand gelehnt – und wollte sie mit hineinnehmen, um sie zusammenzulegen. Dabei tat er durch Zufall einen Blick durch die kleine Fensterscheibe.

.

Ein seltsamer Anblick bot sich ihm. Dicht zusammengekrümmt auf dem Fußboden saß das Wiesel wie ein weißbraunes Knäuelchen und starrte auf die Räucherfische, die unter der Decke hingen. Der kleine Körper bebte, der Schwanz stand steif und die Ohren zitterten. Und plötzlich schnellte das Tier wie ein Stein aus einer Schleuder in die Luft empor, und zwar so hoch, daß es mit den Vorderpfoten den größten der Fische erreichte und sich mit seinen scharfen Krallen daran festhalten konnte.

Klaus stieß ein Wutgeheul aus, und mit erhobener Angelrute riß er die Tür auf und stürzte hinein. Es war nichts mehr zu sehen, bloß der Fisch zitterte noch ein bißchen an dem Stecken, an dem er hing. Sonst war nichts mehr zu sehen und zu hören – nicht einmal das schwächste Geräusch zwischen den Steinen hinter ihm.

Als die anderen mit der Kienwurzel ankamen, ging Klaus mit einem Stecken umher und stocherte überall zwischen den Steinen herum, hieb auf den Boden und schwur Rache.

*


 << zurück weiter >>