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Die schwebende Kugel

. Das gelbe Lampenlicht kämpfte schon längst mit dem fahlen Morgenschimmer, und noch immer saß Jens Peter am Schreibtisch und wühlte mechanisch in den Papierfetzen, die einmal ihre Briefe gewesen waren.

Endlich erhob er sich, öffnete die Ofentüre, warf alles hinein und zündete es an. Mit einem Lineal schürte er die Glut.

Er kauerte davor und sah großen, starren Auges zu, wie da alles verbrannte. Ab und zu half er nach, steckte einige widerstrebende Papierstückchen an und schob andere in die Flamme.

Nun war alles vernichtet – – – –

Er kehrte zum Schreibtisch zurück und entnahm einer Schublade einen Stoß loser Blätter. Auf der ersten Seite stand in großen Rundschriftbuchstaben:

 

»Die schwebende Kugel.«
»Meine Rechtfertigung. Mein
Testament an die Menschheit.«

 

Weit ausholend, mit vielen Beispielen aus Geschichte und Literatur, mit unzähligen Zitaten aus Philosophen von Mark Aurel über die christlichen Welthasser hinweg bis zu den Wahrheitssuchern dieser Zeiten bewies er, daß der freie Tod, der selbstgewählte, etwas Begehrenswertes sei. Mit vielem Scharfsinn wies er die Zufälligkeit des Lebens und seiner Erscheinungen nach, das Unwürdige, das für den aufrechten Menschen darin lag, Gesetze zu heucheln und zu befolgen, die keiner glaubte, und die aus dieser Erkenntnis resultierende Pflicht, sich davon frei zu machen.

Ja. Es war gut.

All sein Schaffen, gleichviel auf welchem Gebiet, war nichts wert gewesen. Nichts. Keine Zeile, keine Szene, die nicht von irgendwo »angeflogen«, angelernt war. Ein Satz des sonst tiefverachteten Schiller flog einen Moment vorüber: »Wenn dir ein Vers gelang in einer gebildeten Sprache, die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein??«

Nein, nein. Das war nichts. Aber dies würde bleiben! Sein Testament an die Menschheit, die sich noch die Mühe gab, weiter zu leben!! Das würde seinen Namen in die Ewigkeit heben.

Noch einmal überflog er die letzten Seiten:

»Wir haben also gesehen, daß alles, was wir denken, tun, haben, sind, wollen und können, einem blinden, unberechenbaren X unterworfen ist, das wir ›Zufall‹ nennen. Alles schwankt, oszilliert und schwebt frei, wie die Kugel, auf der wir wandern, und alles zerstiebt in Atome, in ein Nichts, wenn dies X, dieser Zufall, seine bärenhaft täppische Hand ausstreckt, wie diese Weltkugel einst zersplittert, in Atome, in ein Nichts, wenn es etwa einem stärker auftretenden Kometenschwarm von größerer Dichtigkeit als die bisher beobachteten gefallen wird, in ihren Weg zu laufen und sie in Gase zu verwandeln.

Also es gibt nichts Festes? Nichts, wo der schwankende Fuß einen Boden fände? Nichts, wo der Wille des Menschen sagen dürfte: ›Hier ist mein Reich, mein absolutistisches, durch keine Formel, durch keine unsichtbare Gewalt, durch kein X geschmälertes Reich‹? Keine feste Insel in dem Ozean wirr durcheinanderwogender Gewalten?? Ja, eine ist da!!! Ja, ja, ja! Betritt die Insel, der du entsetzt auf die Ungeheuer der Tiefe starrst, die mit ihren dummen Krakenarmen nach dir langen! Zittere nicht! Beuge dich nicht unter eine dunkle, unsichtbare, unfaßbare, also undenkbare Gewalt – auch nicht unter Idole, die man nach ihr fabriziert, wie kundige Betrüger einst nach dem Schmerzensausdruck des großen Fanatikers Jesu das Schweißtuch der Veronika fabrizierten! Steh aufrecht da! Hier prägst du Münzen, die dein Bild tragen. Hier pflanzst du die Standarte mit deinen Farben ein. Und alles, was dich sonst zerkleinern, zerstören wollte, wagt nicht einmal, – nach dir zu begehren.

Dies Eiland der Seligen heißt: Das Land des Sich-Selbst-Auslöschens!

Hier ist kein Zufall, kein Schwanken, kein Tasten.

Gewiß – die Hand kann fehl gehen, und die Kugel zerstört dein Augenlicht. Dann tust du es eben mit umflorten Augen noch einmal. Das feine Gewebe deines Gehirns kann zerrissen werden – gewiß. Aber dann bist du ja schon tot, wenn auch die Muskeln noch arbeiten und das Blut seinen nimmermüden Kreislauf fortsetzt.

Hier fallen die Götter vor dir auf die Knie und beten zu dir. Auch die schlimmste Göttin: Ananke, Fatum, Kismet, Notwendigkeit!

Ja das ist des großen Mysteriums größere Lösung: daß dich von dieser schwebenden Kugel, die wir Erde nennen, die andere schwebende Kugel erlöst, die aus der Mündung der Waffe gleitet!

Ist es nicht wie ein Ring, der sich schließt?

Ist es nicht, als wenn Sklaven ihre Ketten abgenommen würden? Hört ihr nicht das Jauchzen? Ich höre, ich höre es und begehre dereinst also mitzujauchzen!!!«

* * *

Beim Fortgehen vergaß er die Fenster zu schließen, und der Zugwind, der beim Türschließen entstand, stob durch die Stube, über den Schreibtisch fort und griff nach den losen Blättern des Manuskripts und wehte sie dahin.

Als eine Stunde später Frau Kuhnert hereinkam, um die Stube zu reinigen, sah sie ärgerlich auf die Verwüstung, die im Zimmer angerichtet war. Da die anderen Sachen ihres Mieters fertig gepackt zum Fortholen da standen, hielt sie diese Blätter für vergessenes, überflüssiges Zeug und stopfte sie in den Mülleimer, um sie später in der Küche beim Feueranmachen zu verwenden.


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