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Hatte seinerzeit der jähe Tod des Grafen von Hohen-Esp in der Residenz viel Staub aufgewirbelt, so nahm seine Witwe das lebhafte Interesse der Gesellschaft beinahe noch mehr in Anspruch wie die Katastrophe selbst, die so viele schon lange vorher in ihrer ganzen Tragik prophezeit hatten. Was wird aus der unglücklichen Frau? Was wird aus dem armen Kind?
Die Antwort auf diese Frage war wiederum eine Überraschung. Mit Hilfe der Tante Agathe von Wahnfried hatte die Gräfin ihre zerrütteten Vermögensverhältnisse geordnet und dabei eine Energie und Umsicht bewiesen, die die Welt in Staunen setzte. Obwohl es ihr möglich gewesen wäre, das so bedeutend bequemer gelegene und hochherrschaftliche Walsleben für ihren Sohn zu erhalten, hatte sie seltsamerweise darauf verzichtet und statt dessen die alte Bärenhöhle Hohen-Esp aus dem Konkurs gerettet.
Der Herzog war der einzige, der die Wahl der Gräfin durchaus billigte.
»Hohen-Esp ist der älteste Besitz der Familie, von dem sie den Namen hat und der einst für den Sohn das größte Interesse haben muß«, sagte er, »und daß die Gräfin dieses kleine Gut dem größeren und bei weitem kostspieliger zu erhaltenden vorgezogen hat, zeugt von ihrer Umsicht und ihrem praktischen Sinn. Es wird ihr in ihrer bedrängten Lage sehr viel leichter fallen, den kleinen Grundbesitz heraufzuwirtschaften, als sich auf dem eleganten Walsleben zu halten. Gebe Gott, daß sie nach dieser tränenreichen Aussaat eine desto lohnendere Ernte hält! Ich hoffe, daß die ›Bärin von Hohen-Esp‹ sich nicht dauernd in ihrer Höhle vergräbt, sondern bald einmal in die Residenz zurückkehrt, damit wir Gelegenheit haben, ihr unsere vollsten Sympathien zu beweisen.«
Aber die Gräfin kam nicht. Das Trauerjahr verging, und weitere Jahre folgten ihm.
Man hatte versucht, sich der Gräfin zu nähern, aber bald erzählte man sich staunend in der Residenz, daß Gräfin Hohen-Esp keinerlei Besuch in ihrer verzauberten Burg empfange und jede Annäherung schroff zurückweise. Man hatte geforscht und erfahren, daß die Gräfin außerordentlich viel Glück mit der Selbstbewirtschaftung der Ländereien habe. Die Ernten seien großartig ausgefallen, der abgeholzte Forst sei neu angepflanzt, und die Gräfin beabsichtige sogar, in diesem schon größere bauliche Veränderungen vorzunehmen. Ställe und Scheunen seien in kläglichem Zustand gewesen; dem soll zuerst abgeholfen werden.
Die schöne Witwe sei der beste, tatkräftigste Inspektor, den man sich denken könne; kein Mensch werde die ehemalige sanfte, stille, resignierte Gräfin Hohen-Esp wiedererkennen. Keine Männerhand könne die Zügel einer Regierung eiserner führen als die schlanke Rechte der seltsamen Burgfrau.
Der einzige Gast, den sie empfängt, ist der Pastor des nahen Dorfes.
Über den Sohn wußte man nicht viel. Der Inspektor hatte erzählt, der junge Graf wüchse zu einem prächtigen, überaus kraftvollen und blühenden Knaben heran. Wie ein wandelndes Bild aus alter Zeit schreite er mit seinem langen blonden Haar und den leuchtenden blauen Augen umher. So klein er noch sei, er müsse jetzt schon tüchtig an die Arbeit. Müßiggang sei ihm ebenso unbekannt wie allen andern in der Burg Hohen-Esp. Seit seinem sechsten Jahr müsse er auch schon fleißig bei dem Herrn Pastor lernen, auch auf das Pferd sei er schon gesetzt worden, aber dafür zeige er weniger Passion wie für das Segeln auf dem Meer.
Das komme wohl daher, weil er an Sonn- und Festtagen mit den Knaben aus dem nahen Fischerdorf spielen dürfe, sie hätten natürlich schon einen halben Seemann aus ihm gemacht. Die Knaben wagten sich in ihrem Boot oft tollkühn auf die See hinaus, und als der Pastor der Gräfin einmal vorgestellt habe, wie gefährlich das doch für den einzigen Erben des alten Geschlechts sei, da habe die »Bärin« nur in ihrer herben, ernsten Weise nach einem Wappenschild gewiesen, auf dem der Wahlspruch der Hohen-Esps gestanden habe.
»Christe Kyrie –
Zu Land und See –
Ein Schirmherr der Not!«
»Eine eigenartige, wackere Frau«, nickte der Herzog voll warmer Anerkennung, als man ihm erzählte, wie die Erziehung des jungen Grafen gehandhabt werde, und nach kurzer Pause fragte er unvermittelt: »Wer ist eigentlich zum Vormund des Kindes bestellt?«
»Laut Testament die Mutter; sie ist ganz allein mit allen Rechten und Pflichten betraut.«
»So wäre es doppelt notwendig, der Vereinsamten ein Zeichen unseres Interesses und guten Willens zu geben. Ich werde ihr für den Sohn eine Freistelle auf unserer Ritterakademie anbieten.«
Das geschah, und man harrte voll großer Spannung der Antwort. Diese ließ nicht lange auf sich warten.
Als Gundula den Brief las, verschärfte sich der bittere, abweisende Zug in ihrem Antlitz.
»Mein Sohn auf die Ritterakademie, auf dieselbe vielleicht, wo einst sein Vater seine erste Weltweisheit eingesogen hat?«
»Wie liebenswürdig von dem Herzog, wie gnädig und gut gemeint«, sagte Tante Agathe, die neben die Lesende getreten war und mit in das Schreiben blickte.
Gundula nickte mit herb geschlossenen Lippen.
»Ja, er meint es gut, der Herzog.«
»Was antwortest du?«
»Solange meine Augen offenstehen und meine Hände Kraft haben, das Schicksal meines Kindes zu lenken, wird er nie die Welt kennenlernen!«
»Gundula! Hältst du es für möglich, einen jungen Mann im neunzehnten Jahrhundert noch zu erziehen wie einen Parsifal?«
»Das halte ich nicht nur für möglich, sondern das will ich beweisen!«
»Bedenke die Zukunft, das Glück deines Kindes!«
»Just dies will ich sichern, denn ich denke an die Vergangenheit seines Vaters.«
»Was soll aus Guntram Krafft werden?«
»Das, was mit seinem Vater verlorenging, ein echter Hohen-Esp, ein Herr auf seinem Gebiet, ein Schirmvogt der Not, ein Mann, der zurückerwirbt, was der Leichtsinn ihm vergeudet und die Welt ihm genommen hat.«
»Überlege es dir noch reiflich, ehe du das gnädige Anerbieten des Herzogs ablehnst!«
»Ich habe überlegt.«
Fräulein von Wahnfried kannte den Klang in der Stimme der Gräfin, sie kannte auch ihre grenzenlose Erbitterung gegen alles, was ihrer Ansicht nach den Leichtsinn Friedrich Carls gefördert hatte.
Dagegen war nicht mehr anzukämpfen, man konnte nur hoffen, daß die lindernde Zeit die Wunden heilen und Gundula vernünftiger über manche Notwendigkeit denken würde.
Gundula saß inzwischen an ihrem Schreibtisch und schrieb mit festen, großen Schriftzügen ihre Antwort an den Kammerherrn des Herzogs nieder. Sie dankte in schlichter, aber aufrichtiger Weise für das so überaus huldvolle und gnädige Anerbieten des hohen Herrn, das sie jedoch voll dankbarer Erkenntlichkeit ablehnen müsse, da sie nicht imstande sei, sich schon jetzt von ihrem Sohn zu trennen. Guntram Krafft sei das einzige Glück, das ihr das grausame Schicksal gelassen habe, und dasselbe noch so lange wie möglich ihr eigen zu nennen, sei der letzte Wunsch, den sie noch an das Leben habe.
Die Erziehung des Knaben zu leiten, für seine wissenschaftliche Ausbildung zu sorgen, werde ihr mit Gottes gnädiger Hilfe auch in Hohen-Esp gelingen, sie hoffe zuversichtlich, aus ihrem Sohn einen vollwertigen, braven und tugendhaften Mann zu machen.
Der Brief hatte in seiner starren und schmerzlichen Eigenwilligkeit etwas Rührendes. »Man hört aus jeder Zeile das leidenschaftliche Herz einer unglücklichen Mutter schlagen«, sagte der Herzog, und er nahm die Weigerung der Gräfin nicht ungnädig auf, sondern erhielt dem wunderlichen Bärennest im Wald sein volles Interesse.
*
Und abermals verging die Zeit. Guntram Krafft erhielt durch einen Erzieher und den Pastor eine vortreffliche Erziehung, wenngleich seine praktischen Fähigkeiten nicht darüber vernachlässigt wurden.
»Er soll alles lernen, was ein gebildeter Mann an Schulweisheit braucht«, sagte die Gräfin, »vor allen Dingen aber soll er ein tüchtiger Landwirt werden, denn er soll das Werk, das ich begonnen habe, zu Ende führen und den verlorenen Besitz seiner Väter zurückerwerben.«
Fast schien es, als wolle ihm die stolze, energische Frau wenig Arbeit übriglassen. In geradezu erstaunlicher Weise war es ihr gelungen, Hohen-Esp zu einem hochkultivierten Gut emporzubringen. Von Jahr zu Jahr konnte sie von dem angrenzenden Besitz Gottern Areal zurückkaufen, was ihr um so leichter wurde, als der Besitzer der Herrschaft selber in recht mißliche Lage gekommen und froh war, das Land wieder in Kapital verwandeln zu können.
So kam der Tag, an dem die überraschende Nachricht die Runde durch die Residenz machte, daß es der Bärin von Hohen-Esp in ganz unglaublicher Weise gelungen sei, die Herrschaft Gottern zu Hohen-Esp zurückzukaufen, daß es ihr auch durch ihre enorme Willenskraft, ihren Fleiß und ihre äußerste Sparsamkeit gelungen sei, ihren Sohn schon jetzt wieder zu einem sehr wohlhabenden Mann zu machen.
Der Wohnsitz solle aber nach wie vor Hohen-Esp bleiben. Graf Guntram Krafft, der nunmehr neunzehn Jahre zähle und seiner Militärpflicht genügen müsse, werde wohl zum erstenmal allein in die große, unbekannte Welt heraustreten.
Man erwartete voll Spannung das Erscheinen des schier sagenhaft gewordenen jungen Mannes, bis die enttäuschende Nachricht kam, daß der Graf wegen eines ganz unbedeutenden kleinen Fehlers – man sagte, daß ihm bei einer stürmischen Seefahrt im Boot, beim Überholen einer Teertonne, dieselbe zwei Zehen vom Fuß geschlagen – vom Militär freigekommen sei. Es sei ein Jammer darum! Der junge Mann verkörpere das Urbild aller blühenden Kraft und Lebensfrische, er sei in der Tat ein wahrer »Bär« von Hohen-Esp, so groß, so stark, so reckenhaft schön und ritterlich; ihm selber habe die Lust, Soldat zu werden, aus den Augen geblitzt, und er habe sofort gebeten, ihn der Marine zuzuweisen, da er so gut Bescheid mit dem Seefahren wisse; aber die Gräfin habe voll leidenschaftlicher Energie alle Hebel in Bewegung gesetzt, den Sohn freizubekommen. Da sie die Bestimmungen für sich gehabt habe und Graf Guntram Krafft ein durchaus gehorsamer Sohn sei, so sei leider nichts zu machen gewesen. Die »Bärin« habe ihr Junges in die Höhle zurückgeschleppt.
Da gab man es in der Residenz schulterzuckend auf, die interessanten Einwohner von Hohen-Esp jemals von Angesicht zu schauen, und weil die Mütter und Töchter sehr enttäuscht waren, so ärgerten sie sich darüber.
In einer der vornehmsten Villenstraßen lag das reizende Rokokoschlößchen »Monrepos«, in dem der Oberst und Kommandeur des Ulanenregiments, Freiherr von Sprendlingen, Wohnung genommen hatte. Seine elegante, lebenslustige Frau liebte es, ein großes Haus zu machen, eine Passion, der sie ohne Bedenken huldigen konnte, da die Vermögensverhältnisse des Obersten sehr gut waren und das Ehepaar nur ein einziges Töchterchen besaß, für das man zu sorgen hatte. Der Freiherr verwöhnte seine bezaubernde Frau in nur denkbarer Weise, Frau von Sprendlingen verzog und verhätschelte ihr Töchterchen dementsprechend, und so herrschte in dem Haus ein Luxus und ein Behagen, das keinen, auch den größten Wunsch, nicht unerfüllt läßt.
In den Salons der Hausfrau brannten nur einzelne verschleierte Lampen, da die Herrschaften zum Dinner gefahren waren; in dem lauschigen Boudoir des fünfzehnjährigen Töchterchens aber strahlten die Lichter festlich und hell, denn dort saßen die Mädchen, die zu Fräulein von Sprendlingen eingeladen waren, bei heimlichen Weihnachtsarbeiten, bei viel Kaffee und noch mehr Süßigkeiten und sprachen ebenso wie die Alten die Neuigkeiten des Tages durch. Da man schon mancherlei über den Hohen-Esper gehört und sich ebenfalls über den »Strich durch die Rechnung« ärgerte, so begannen sie über den doch allzu gutmütigen Zottelbär, der derart unselbständig an dem Rock der Mutter hänge, zu spotten.
»Ein forscher, echter Mann hätte bei dieser Gelegenheit doch wohl etwas mehr Eigenwillen und Schneid bewiesen und das Gängelband abgestreift«, spottete Gabriele, die Tochter des Hauses, und ließ ihre Stickerei sinken. »Aber vielleicht ist er zu feige und freut sich, daß er daheim bleiben kann! Hätte er Mut, würde er sich das idealste Glück eines Mannes, Soldat zu werden, unter allen Umständen erzwungen haben.«
»Feige? Nein, das ist er wohl nicht«, schüttelte ihre Freundin Trautchen gutmütig den hellblonden Kopf. »Denk doch, er wagt sich bei Sturm und Wetter auf die See hinaus!«
Gabriele lachte spöttisch und rümpfte die entzückende kleine Nase. »Was will es heißen, sich auf die See zu wagen? Gar nichts! Kippt das Boot um, so schwimmt man! Wie weit fährt denn der Herr Graf? Sicher nicht zehn Schritt entfernt vom Ufer weg. Auf den Ozean hinaus ist er noch nie gelangt, und die Schiff- und Bootfahrt an der Küste stellt überhaupt keine Anforderungen an den Mut eines Mannes!« Gabriele schüttelte die krauslockigen, lichtbraunen Haare aus der Stirn und machte ein geradezu verächtliches Gesicht. »Ein Mann, der nicht Soldat ist, kann mir niemals imponieren, und Graf Guntram Krafft ist kein kühner, stolzer Bär wie seine Vorfahren, sondern ein ganz lappiger Waschbär! Er sollte nur einmal meinen Weg kreuzen, ich wollte es ihm schon zeigen, wie ich über ihn denke!«
Und Gabrieles Augen, die wundersam hellen, schillernden Nixenaugen, blitzten gar trotzig in dem süßen Gesicht, und sie wiederholte nachdrücklich: »Glaub mir's! Ich würde es ihm zeigen!«
Die schwarzlockige kleine Gräfin Sevarille verzog das Mündchen etwas ironisch. »Solche Dinge klingen in der Theorie ganz poetisch und schön, aber in der Praxis kommt die Sache doch oft anders. Wenn zum Beispiel der geschmähte Waschbär hier auftauchte als schöner Mann und reicher Erbe und er machte dir eine Liebeserklärung, Gabriele, du heiratetest den tatenlosen Gutsbesitzer, ohne dich zu besinnen!«
Heiße Röte stieg in das Gesicht der Genannten, die Nixenaugen schillerten wie die See, ehe sie in hohen, verderbenden Wogen aufbrauste. »Ich wünsche mir einen Heiratsantrag von ihm, lediglich um dir zu beweisen, daß ich keine leeren Phrasen geredet, sondern Wort halten würde, so wahr ich Gabriele von Sprendlingen bin! Und wäre er schön wie ein Gott und reich wie Krösus, wenn er kein Held ist und dieses Heldentum als Soldat beweist, ich würde nie sein Weib, nie! Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!«
Thekla setzte ihr Schnitzmesser zu einem tiefen Kerbschnitt an und sagte mit einem wunderlich scharfen Lächeln: »Gut, wir haben deinen Schwur gehört und werden nicht verfehlen, dich zu guter Zeit daran zu erinnern! Aber mündlich ist schon mancher Schwur getan und leichtfertig gebrochen worden. Auch du gibst deine stolze Versicherung nur mit den Lippen, aber schriftlich? Haha! Schriftlich verzichtest du nicht auf den Grafen von Hohen-Esp!«
Gabriele griff mit nervös bebender Hand nach den Zetteln und Bleistiften, die, für ein Schreibspiel zurechtgelegt, bereits auf einer Marmorschale seitwärts des Tisches standen.
»Und warum nicht?« spottete sie mit gefurchter Stirn. »Wenn dir ein geschriebenes Wort sicherer ist als ein gesprochenes, dann sollst du es haben!«
Gabriele setzte den Bleistift an und schrieb, ohne zu überlegen, mit festen, schwungvollen Schriftzügen auf einen der Zettel: »Da meine Freundin Thekla meine Ansicht über den Grafen von Hohen-Esp schriftlich wünscht, so erkläre ich hiermit noch einmal, daß ich denselben nie und nimmermehr heiraten werde, weil er kein Held ist und mir nicht imponiert.«
Mit leisem Auflachen faltete sie den inhaltsschweren Zettel zusammen und warf ihn Komtesse Sevarille zu, die hastig nach dem Papier griff und es mit spöttischem Lächeln einsteckte.