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XXVI.

Ein aufgeregtes, überhastiges Leben entwickelte sich am Strand.

Die Leute hatten in größter Eile ihre hochzeitlichen Kleider mit dem im Schuppen bereithängenden Ölzeug vertauscht und waren soeben, voll ausgerüstet, bereit, den Wagen, auf dem das Boot stand, durch den tiefen Sand bis an die See zu schieben. Eine schwierige, unsagbar mühselige Arbeit bei solchem Sturm!

Gabriele hatte sich in den Schutz des Gebäudes gegen die Mauer gedrückt und starrte mit stark klopfendem Herzen das fremdartige Treiben an.

Sie sah Guntram Kraffts herrliche Gestalt im Lotsenanzug, grell beschienen von den lodernden Fackeln, die von schwieligen Fäusten geschwungen wurden, sie sah, wie er mit Bärenkräften zufaßte und half und schaffte, der erste seiner Lotsen, ein ruhiger, besonnener, gewaltiger Kommandeur.

Eine leise Stimme klang neben Gabriele.

»Dat wir sneller kamen, as wie dachten!« seufzte Mike und knüpfte das wollene Tüchelchen fester um den zerzausten Brautkranz in ihrem Haar. Ihre hartgearbeiteten Hände griffen ein wenig unsicher zu, und ihr erst so blühend frisches Gesicht war blaß geworden.

»Ach, gnä Frölen, un dat ok grad an min Hochtid!«

Gabriele blickte voll tiefsten Mitleids in die traurigen Augen der Sprecherin.

»Arme Mike!« sagte sie weich, »ja, das ist eine traurige Hochzeit! Aber so Gott will, kehrt dein Schatz bald gesund und heil zurück, und dann kannst du doppelt stolz auf ihn sein.«

Mike schien nicht ehrgeizig. Sie wickelte die Hände in die geblümte Schürze und sagte resigniert: »Wenn he man wedder kümmt!« Dann entsann sie sich, daß ja das gnädige Fräulein nicht gut plattdeutsch versteht, und fuhr, nicht ganz ohne Mühe, fort: »Vielleicht kriegen sie die Mannschaft mit der Rettungsboje herüber und brauchen nicht selber hinaus. Sehen Sie dort? Da schaffen sie an dem Mörser! Der Graf schießt bannig gut, aber bei Dunkelheit ist es doch immer ein übles Ding damit, noch dazu bei dem Sturm heut, denn die Windrichtung und die Stärke desselben kommt gar sehr in Betracht dabei.«

»Man schießt nach dem Schiff?« wiederholte Gabriele überrascht. »Um alles in der Welt, warum das?«

Mike war zu traurig, sonst hätte sie wohl gelächelt. Sie strich wieder seufzend mit der verarbeiteten Hand über ihren Brautkranz und fuhr erklärend fort: »Das tut ja keinen Schaden nicht, gnädiges Fräulein, im Gegenteil! An der Kugel ist eine dünne Leine befestigt; sie wird über das Schiff hinübergeschossen, und die Leute müssen die Leine so rasch wie möglich auffangen und festhalten. Wenn das geglückt ist, muß als Zeichen dafür ein Blaufeuer angesteckt werden, oder man schwenkt auch nur eine Laterne, wie sie's auf so 'nem wracken Schiff noch grad möglich machen können; dann wissen die Unsern hier Bescheid. Jetzt gleich wird es mit dem Schießen losgehen. Der Krischan zeigt schon die rote Latern'.«

Eine immer größere Aufregung hatte Gabriele erfaßt. Die wundersame schaurige Poesie dieser nächtlichen Rettung wirkte wie berauschend auf ihr so leicht empfängliches Gemüt. All dieses fremdartige Hasten und Treiben, die drohende Gefahr, die Angst und Sorge um eigenes und fremdes Leben, die unbeschreiblich großartige Schönheit der wild entfesselten Elemente übten einen nie geahnten Zauber aus. Ihr Auge glänzte wie im Fieber.

Die Stimmen der Männer hallten wirr und zumeist unverstanden zu ihr her. Mit gewaltigem Krach entlud sich das Rettungsgeschoß, die Rakete zischte wie ein greller Feuerstreif empor, nahm die Richtung nach dem gestrandeten Schiff und verschwand im Dunkel der Nacht. Voll banger Spannung harrte man auf das Signal, daß die Leine getroffen habe.

Guntram Krafft stand hocherhobenen Hauptes, den adlerscharfen Blick seewärts gerichtet, als könne und müsse sein Blick die gähnende Finsternis durchdringen.

Ein paar Augenblicke tiefer Stille, nur der Sturm heult über sie hinweg, und die See donnert und braust immer gewaltiger gegen den Strand.

Krischan Klaaden schüttelt den Kopf. »Dat helpt nich ... dor sin' keene Mast's miehr, de Brandungen gähn all öwer dat Schipp weg!«

»Denn man tau! Wi möten klor maken!« Der Bär von Hohen-Esp wandte sich in hoher Erregung zu seinen Lotsen.

»Vorwärts, Kinder! Es ist keine Minute mehr zu verlieren wir müssen hinaus!«

Ein leiser, sturmverwehter Schreckensschrei. Mike wirft sich an den Hals ihres Mannes und umklammert ihn sekundenlang mit den Armen.

Gabriele hat keinen Blick für die schluchzende Mike, sie folgt atemlos nach dem Boot, sie preßt die bebenden Hände gegen ins Herz, sie starrt mit weitoffenen Augen auf Guntram Krafft.

»Hohojohe! Remen los!«

Noch einmal wendet Guntram Krafft das Haupt. Sein Blick sucht Gabriele. Er hebt die Hand, er winkt ihr zu, und dann steigt das Boot hoch auf, weiße Gischtwogen scheinen es zu verschlingen. Es sinkt tief, tief, hebt sich. Wie furchtbare Wasserberge rollt es schwarz und grauenvoll gegen das winzige Fahrzeug heran. Gähnende Finsternis! Der Sturm heult, und die Brandung kocht wild auf.

»Laßt uns beten, meine Freunde!« ruft der Pastor, er entblößt sein Haupt. Die weißen Haare wehen um seine Stirn, um ihn her sinken die Frauen und Kinder auf die Knie, banges Seufzen und Schluchzen klingt durch seine Worte, die im Sturm verhallen. Auch Gabriele will niedersinken und die bebenden Hände zum Himmel heben – sie kann es nicht.

Sie muß stehen, hochaufgerichtet, sie muß hinausstarren aufs Meer, als könne sie dem kleinen Boot mit den Blicken folgen. Der Mond tritt hell aus den Wolken, mit Jubel und Dank gegen Gott begrüßt.

Ja, man sieht das Boot, man sieht das gestrandete Schiff.

Gabriele atmet fast keuchend. Ihre ganze Gestalt bebt und schüttert wie unter heißen Fieberschauern.

Ist jener heldenhafte, tollkühne Mann in dem gebrechlichen Fahrzeug wirklich der Bär von Hohen-Esp, der, der einst so linkisch und mädchenhaft errötend auf höfischem Parkett gestanden hatte? Ist dieser unerschrockene, verwegene Held wahrlich Guntram Krafft? Oh, wie gräbt sich sein Bild in dieser Stunde, wie mit feurigen Linien gezeichnet, so unauslöschlich in Gabrieles Herz! Wie in bangem, wonnig wehem Ahnen all dieser blendenden Erkenntnis hat es schon all die Tage vorher in ihrer Brust gezittert, aber sie hat sich gewehrt gegen diesen Gedanken wie gegen eine Unmöglichkeit. Noch vorhin, als er sie im Arm gehalten, als er sie in nimmer endendem Tanz heiß und heißer an die Brust gedrückt hatte, da ging es wie ein Morgendämmern der Liebe durch ihre Seele, da war es ihr, als müsse sie das Antlitz auf seine starken, kraftvollen Hände drücken und sagen: »Ich weiß, was sie Gutes tun und Edles schaffen, und ich bitte dir all das schwere Unrecht ab, du wackerer Mann, das ich dir ehemals so verblendet zugefügt habe.«

Wie ein eisiges Grauen will es Gabrieles Herz beschleichen, wenn sie hinaus in die Nacht, auf die finsteren, tosenden Wasser blickt.

Drüben liegt das Schiff! Mattes Mondlicht huscht gespenstisch darüber hin. Man sieht, wie schwere Seen über sein Deck schlagen, wie es sich immer mehr auf die Seite neigt, wie sich das Lotsenboot gegen die furchtbare Strömung näher und näher herankämpft.

Wird es gegen die Schiffswand geschleudert werden und zerschellen? Wird es durch das Zurückprallen der See vollschlagen und kentern?

Gabriele hört wie im Traum die Worte der Umstehenden.

»Wenn sie nur erst rankommen!«

Der Mond versteckt sich wieder, eine bange, lange Stille, leis gemurmelte Gebete, Seufzen und Schluchzen.

Gräfin Gundula ist nach dem Schuppen zurückgegangen. Sie hat dort einen Spiritusapparat entzündet, um starken, heißen Tee für die Heimkehrenden bereitzuhalten. Auch richtet sie alles vor, im Fall sie einem Verunglückten die erste Hilfe angedeihen lassen muß.

Ruhig und umsichtig waltet sie ihres Amtes. Ihr Sohn, ihr Liebling, ihr einziges Glück auf der Welt, wird auch heute von Gottes Vaterhand heimgeleitet werden wie in all jenen anderen schweren Stunden, in denen sie ihn hingeben mußte als einen Schirmherrn der Not, als einen treuen, opfermutigen Mann, der für fremdes Leben sein eigenes wagt.

Warum sollte Gott seine wunderbaren Wege selber durchkreuzen, nachdem er sie so herrlich und unfaßlich bis hierher geführt? Oh, Gräfin Gundula hat in den letzten Tagen im Herzen ihres Sohnes gelesen, und sie hat Gabrieles erglühende Wangen geschaut, sie weiß, welch ein Kampf in diesen beiden jungen Menschenherzen tobt, sie weiß, wie herrlich der Sieg sein wird, der schon jetzt seine leuchtenden Strahlen vorauswirft.

Ein lautes, jubelndes Schreien, Jauchzen und Rufen ertönt wie ein verworrenes Echo vom Strand empor.

Das Rettungsboot kehrt zurück!

Die Bärin von Hohen-Esp hebt inbrünstig die gefalteten Hände zum Himmel, ihre Lippen zittern und flüstern leise, ihre Augen glänzen feucht. Und ruhig, ernst und hoch aufgerichtet wie stets schreitet sie abermals über den losen, wehenden Sand hinab, den Sohn zu erwarten.

Alles drängt den Nahenden entgegen. Die Männer springen in das schäumende Wasser, das Fahrzeug mit hilfsbereiten Händen zu fassen, um es auf den Strand zu ziehen; aber die Stimme des Grafen klingt kräftig durch Wind und Wogengebraus: »Halt! Laßt ab! Wir müssen noch einmal zurück! Landet die Mannschaft! Es sind Norweger. Versorgt sie!«

Noch einmal zurück?

Der Jubel verstummt. Jähes Entsetzen malt sich auf allen Gesichtern.

Gott erbarm sich, noch einmal zurück! Noch sind nicht alle Gestrandeten geborgen!

Die fremden Seeleute springen über, bleich und ermattet, aber alle gesund und lebend, nur einen Schiffsjungen, der bewußtlos scheint, hält Guntram Krafft mit starken Armen und trägt ihn selber an Land.

»Es ist nichts, Mutter«, ruft er leuchtenden Auges, »als er über die Reling kam, ist er hart aufgeschlagen, das betäubte ihn. Den Kopf kühlen und einen Kognak! Sonst ist alles in Ordnung!«

Gundula schlingt die Arme um den Sohn und drückt ihn sekundenlang ans Herz.

»Noch einmal zurück willst du«, seufzt sie tief, » muß es sein, mein Sohn?«

Er küßt hastig ihre Hände.

»Ja, es muß sein, Mutter!«

Guntram Krafft wendet sich hastig um. Noch einmal drückt er seiner Mutter die Hände, dann trifft sein Blick Gabriele. Sie hat bisher stumm zur Seite gestanden. Jetzt plötzlich ist es, als ob ein Beben und Schüttern durch ihre schlanke Gestalt gehe. Sie will nicht, sie muß ihm entgegenwanken, ihm die Hände reichen, zu ihm aufblicken. Herr des Himmels, welch ein Blick! Welch ein Ausdruck in dem wunderholden Antlitz! Er zuckt zusammen, er starrt sie an.

»Gabriele!« murmelt er.

Ihre Lippen zittern, sie drückt seine Hände fester, krampfhafter zwischen den ihren.

»Sie sind jetzt erschöpft, Graf, Sie können, Sie dürfen das Furchtbare nicht zum zweitenmal wagen!« Wie ein Angstschrei klingt es zu ihm empor. Heiße Röte steigt in sein Antlitz.

»Ich weiß nur, was ich muß!« klingt es wie ein Aufjauchzen von seinen Lippen, sein strahlender Blick trifft noch einmal den ihren, dann gibt er ihre bebenden Hände frei und springt ins Boot zurück.

Und abermals bäumt sich das Boot hoch auf und schießt in die grauenvolle, schäumende Wildnis der Wasser, in die gähnende Finsternis hinein.

Die Gräfin legt die Arme um Gabriele und neigt sekundenlang das Antlitz auf die Schulter des jungen Mädchens.

»Beten Sie für ihn, Gabriele! Beten Sie! Diese zweite Fahrt ist schlimmer, viel schlimmer als die erste!«

Und dann richtet sich die Schirmvogtin von Hohen-Esp energisch auf und folgt festen Schritts den Männern, die den bewußtlosen Schiffsjungen nach dem Rettungsschuppen tragen. Nun gilt es auch für sie, treu und umsichtig ihres Amtes zu walten. Sie muß dem Kranken die erste Pflege angedeihen lassen, für seine Überführung nach Hohen-Esp sorgen und an das Unterkommen der gestrandeten Mannschaft denken.

*

Es ist stiller als zuvor um Gabriele. Die Männer bergen die Rettungsgeschosse, die überflüssig geworden sind, die Frauen und Kinder üben Samariterdienste an den Schiffbrüchigen.

Boten müssen nach der Burg gesandt werden, das Gesinde hat Frau Gundula heimgeschickt, alles für die Ankunft des Kranken und der Mannschaft, die in der »blauen Woge« kein Unterkommen mehr findet, vorzubereiten. Nun beginnt das Hasten und Treiben nach Dorf und Burg zu, und nur wenige sturmzerzauste Gestalten stehen wie dunkle Schatten am Strand bereit, die Heimkehr des Bootes rechtzeitig zu künden.

Still und einsam ist es um Gabriele. Die hohe, leidenschaftliche Aufregung, die sich ihrer zuvor bemächtigt hat, ist gewichen. Alles, was sie bisher empfunden hatte, war eine glühende Begeisterung gewesen, das namenlose Entzücken, endlich das Bild ihrer Träume verkörpert zu sehen, den todesmutigen Helden zu schauen, der seit Jahren zum Inbegriff all ihres schwärmerischen Sehnens geworden war.

Jetzt plötzlich rieselt es eiskalt durch ihre Adern, zitternde Todesangst kriecht ihr an das Herz, und die bleichen Lippen möchten aufschreien in bitterer Not um den Geliebten.

Wie ein Gespenst taucht plötzlich das Bildnis Wulffhardts vor ihr auf, das entsetzliche Wort »ertrunken« starrt sie mit grellen Buchstaben aus der schwarzwogenden See an. Sie hebt in qualvollem Entsetzen die Hände, sie bricht nieder auf die Knie. Der Sturm weht über sie hin und reißt das Tuch von ihrem Haar.

Wie aus dem geöffneten Rachen eines Ungeheuers brüllt die See, die ehemals bespöttelte, so verächtlich belächelte See, und Gabriele fühlt, wie das Grauen sie schüttelt angesichts dieser Zürnenden, furchtbar Gewaltigen!

Ertrunken! Herr des Himmels, erbarme dich!

Diese Worte des Predigers klingen ihr plötzlich im Herzen, hell und zuversichtlich. »Das Gebet seines treuen Weibes ist des Seemanns sicherster Anker, ist der Mast, der nicht brechen kann, ist das Segel, das in Sturm und Wetter nicht verlorengeht. Das Gebet der gläubigen Liebe ist die Engelsschwinge, die sein Schifflein durch Sturm und hohe Flut sicher in den Heimathafen zurückführt.«

Das Gebet der gläubigen Liebe! Gabriele ist nicht das Weib des Schirmvogts von Hohen-Esp, sie hat nicht das Recht wie Mike, die junge, bräutliche Frau, den Geliebten mit Engelsschwingen sorgender Fürbitte zu umgeben, aber Liebe, gläubige Liebe. Ja, die flammt ihr heiß im Herzen, eine Liebe, die die Angst und Qual dieser finsteren Nachtstunde geboren hat.

Wo bleibt er? Die Minuten schleichen dahin. Wie lang, wie entsetzlich lang währt diesmal die Fahrt! Dort drüben liegt das Wrack. Schwarze, undurchdringliche Nacht umgibt es. Werden es die kühnen Retter sehen und finden? Wird die tosende Flut ihr Boot gegen die Schiffswand schleudern, daß es zerschellt, daß alles junge Leben, alle süße, junge Liebe ein kaltes und tiefes Grab auf dem Meeresgrund findet?

Herrgott, erbarme dich!

Fernher vom Strand gellt nun ein Jubelschrei: »Sie kommen! Sie kommen!«


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