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VI.

Von der See herüber brauste der eisige Novembersturm und fegte die letzten welken Blätter um die Zinnen von Hohen-Esp. Der Buchenwald, den Gräfin Gundula vor fünfundzwanzig Jahren an all den Stellen, die Friedrich Carl so schonungslos hatte abholzen lassen, nachgepflanzt hatte, war emporgewachsen und füllte schon wieder die Lücken aus, die ehemals das Auge der Burgherrin so schmerzlich verletzt hatten.

Noch waren sie den wundervoll hochstämmigen Riesen, die rings um den Hügel, der die Mauern von Hohen-Esp trug, Wache hielten, lange nicht gleichgekommen, aber sie waren ebenso gediehen und frisch und kräftig aufgewachsen wie der junge Sproß des alten Grafentums, der als blondlockiger Knabe unter ihnen gespielt, als Jüngling mit kräftigen Armen geschafft und nun als Mann sein Erbe in Empfang nehmen sollte.

Guntram Krafft war mündig geworden ohne besondere Zeremonie und Feierlichkeit, ohne von fremden Menschen in neuen Rechten anerkannt zu werden, denn das ehemalige Vermögen seines Vaters war in den Besitz seiner Mutter übergegangen, und nur von dem freien Willen der Gräfin hing es ab, ob der Sohn Herr sein sollte auf dem Besitz der Väter. In dem Willen Gundulas aber lag es, den jungen Mann selbständig zu machen. Voll stolzer Genugtuung sah sie, daß er zu einem Charakter ausgereift war, fest und zuverlässig, stark in allem Guten und Edeln und dennoch so rein an Herz und Sinn wie ein Kind.

Als er groß geworden war, um eine berechtigte Frage nach seinem Vater und dessen Leben zu stellen, hatte Gundula zum erstenmal seit langen Jahren von ihrem Gatten gesprochen. Da erst entspann sich ein inniges Wechselleben zwischen Mutter und Sohn. Da entrollte die Gräfin vor den weitoffenen Augen ihres Sohnes die traurigen Bilder der Vergangenheit, und waren dieselben schon an und für sich dunkel genug, so färbte sie die Erbitterung der einsamen Jahre noch düsterer. Es ist leicht verständlich, daß es Guntram Krafft nicht nach jenen Verhältnissen verlangte, die die Mutter ihm so unerquicklich geschildert hatte und von denen die jungen Fischer im Dorf nichts Gegenteiliges zu erzählen wußten.

Die meisten seiner Spielkameraden waren als Matrosen eingezogen worden, hatten ihre Jahre abgedient und Reisen in weite, ferne Wunderländer gemacht, von denen sie wohl einmal in ihrer wortkargen Weise erzählten, aber nach welchen sie doch nie zurückverlangten. Sie liebten ihre einsame, sturmumbrauste und meerumspülte Heimat mit der zähen Treue nordischen Blutes, sie kehrten heim, freiten und machten sich seßhaft, selten nur, daß der eine oder andere fernblieb in Hamburg oder Kuxhaven, wo ihn besserer Verdienst lockte.

Kam jemals eine heiße, leidenschaftliche Sehnsucht über Guntram Krafft, die herkulische Stärke seiner Arme zu prüfen, auch hinauszuziehen mit flinken, weißen Segeln, um jene heimlichen Wunder fremder Länder kennenzulernen, wollte sie ihn packen, die Wanderlust des Jünglings und der Tatendrang des Mannes, so genügte nur ein einziger Blick auf die schwarze Trauergestalt der Mutter, in ihr bleiches, gramgefurchtes Antlitz unter dem frühergrauten Scheitel, und er schüttelte voll stolzer Entsagung das Haupt und war sich voll bewußt, daß er die einsame Frau nicht verlassen durfte, deren einziges Glück er geblieben war.

Die rastlose Arbeit in Flur und Feld und sein eifriges Studium edler Wissenschaften gaben seinem Leben reichen Inhalt; und wenn er Freude und Zerstreuung suchte, so fuhr er voll jauchzenden Ungestüms hinaus in die See, mit Sturm und Wogen einen tollkühnen Kampf zu kämpfen, der geschickteste Segler, der furchtloseste Schwimmer, ein Seemann, zu dem die wetterharten Fischer voll staunender Bewunderung aufblickten und ihn den »Besten der ihren« nannten.

Wie oft hatte Guntram Krafft sein Leben eingesetzt, wenn es galt, bedrohten Freunden Hilfe zu bringen, strandenden Schiffen in Nebel und Sturm ein tollkühner Lotse zu sein, sie sicher einzuholen an dieser Küste, die durch widrige Gegenströmungen und Untiefen schon manchem Fahrzeug und manch wackerem Seemann mit Tod und Verderben gedroht hatte.

Guntram Krafft fühlte sich in seiner so arbeitsreichen Einsamkeit unendlich glücklich und verlangte nicht hinaus in die Welt voll Zerstreuung, Pracht und Lustbarkeit, eine Welt, die ihm so fernlag wie jene anderen Welten, die ewig unerreichbar als leuchtende Sterne im endlosen Himmelsraum kreisen.

Und doch fiel es dem scharf beobachtenden Blick der Gräfin auf, daß es oft wie ein melancholischer Schatten auf dem freien, männlich schönen Antlitz lag, daß sein Blick oft sinnend und träumerisch in das Weite streifte, daß er oft ganz unerwartet sagte: »Nun hat Jochen Riem auch geheiratet, die kleine Anning, die er seit Kind auf so liebgehabt hat«, oder: »Weißt du's, Mutter, daß dem Göschen-Wulff in dieser Nacht ein Bub geboren ist? Ein prächtiger pausbackiger Kerl; kann schreien für zehn, und der Göschen ist so stolz, als sei er ein Kaiser geworden.« Und nach kurzer Pause: »Wie ist es doch so still und leer hier in Hohen-Esp! Wäre wohl nicht übel, Mutter, wenn auch hier mal ein wenig junges Leben einzöge und ein paar kleine Bärlein herumpurzelten!« Er lachte dazu, und dennoch blickten seine blauen Augen seltsam ernst.

Da war's, als ob Frau Gundula urplötzlich aus einem langen, langen Traum erwache, und sie nickte wie erschrocken vor sich hin und sprach leise: »Ja, es ist Zeit geworden!«

Nun stand sie an dem spitzen Bogenfenster mit den kleinen, bleigefaßten Scheiben und blickte starren Auges hinab auf die laublosen Buchenwipfel, die der Sturm wie brandende Flut gegen das graue Turmgemäuer peitschte.

Tage und Nächte lang hatte sie in schwerem Kampf gerungen, hatte gesonnen und überlegt, um das Rechte zu finden. Die Natur forderte ihr Recht; Guntram Krafft war ein Mann geworden, dessen Herz sich nach Liebe sehnte, dessen Wunsch es war, gleich seinen Gespielen ein Weib zu freien und glücklich zu sein.

Guntram Krafft mußte die Brautfahrt unternehmen, er mußte Ausschau halten unter den Töchtern des Landes, die von ihnen das Ideal verkörpern möchte, das sich der weltfremde Mann von seinem Weib gebildet hatte. Ihr Sohn mußte den Winter in der Residenz verleben und die Feste mitmachen, er mußte es! Es half da kein Weigern mehr! Kein anderer Ausweg wollte sich ihrem Sinn zeigen, ob sie noch so sehr grübelte.

Wird Guntram Krafft die rechte Wahl treffen? Ohne Zweifel! Ihre Ansichten sind auch die seinen geworden, der Geschmack der Mutter ist dem Sohn eingeimpft.

Gundula ist ihres Sohnes gewiß. Außerdem schickt sie ihn nicht völlig allein und haltlos in das bunte Leben hinaus. Der alte Kammerdiener ihres Mannes, der schon Gundula als Braut gekannt und auf dessen Armen auch Guntram Krafft aufgewachsen ist, der goldtreue, zuverlässige Anton, wird seinen jungen Gebieter in die Residenz begleiten.

Gräfin Gundula blickt in den Sturm hinaus und wartet auf den Sohn, und als sie endlich seinen schweren, stampfenden Schritt auf der gewundenen Stiege hört, da hebt sie wie mit letzter Selbstüberwindung das Haupt und schaut ihm festen Blicks entgegen. In der niederen, spitzgewölbten Tür, den hochgewachsenen Nacken beim Eintreten beugend, steht Guntram Krafft. Mächtige Wasserstiefel reichen bis über die Knie, eine Düffeljoppe läßt die breite Brust noch hünenhafter erscheinen, und ein aufgeschlagener Südwester sitzt fest auf den blonden, lockigen Haaren und umrahmt das frische, männlich schöne Antlitz mit den leuchtenden Blauaugen.

»Dag' ok, Mutting«, lacht er mit strahlendem Blick, reißt den Hut ab und hebt ihn in seemännischem Gruß hoch über das Haupt. »Hoffentlich hast du nicht zu lange auf mich gewartet? Aber bei diesem Wetter muß man auf dem Posten sein, damit kein Unglück am Hamelwaat passiert. Ich war draußen, aber eine Lustfahrt war's just nicht bei der heutigen Brise, und kalt genug hat's uns um die Ohren gepfiffen. Da hat dir dein Bär einen regelrechten Bärenhunger heimgebracht, und für ein Warmbier verkaufe ich heute auch das Recht der Erstgeburt.«

Er lachte, daß die weißen Zähne unter dem blonden Schnurrbart blitzten, legte zärtlich den Arm um die düstere Frauengestalt und küßte Frau Gundula herzhaft auf den Mund.

»Das steht bereit, du Wasserratte«, lachte diese, mit einem Blick unendlichen Wohlgefallens die blühende Schönheit ihres Sohnes umfassend, »willst du dich erst umkleiden oder erst durch einen Imbiß erwärmen? Du weißt, ich liebe es nicht allzusehr, dich in dieser Ausrüstung am Tisch zu sehen.«

»Weiß ich, Mamachen, ich werde nie dein Eßzimmer durch Teerjacke und Ölzeug entweihen. Auch ist's mir, ehrlich gestanden, selber zu unbequem. Aber, bitte, befiehl einstweilen alle Bierkannen und Schinkenbrote auf Deck, damit ich in zehn Minuten an ihnen zum Massenmörder werden kann.«

In sehr kurzer Zeit saßen Mutter und Sohn beim lodernden Kaminbrand in der Speisehalle zusammen, wo Guntram Krafft das Frühstück serviert war. Der Hausanzug des jungen Hohen-Esp war weder sehr elegant noch sehr modern, er war solide und zeugte von der Sparsamkeit, die in allen Dingen noch im Haus herrschte. Aber trotz seiner nicht allzu vorteilhaften Kleidung sah der junge Graf ganz vortrefflich aus, just so, wie es zu seiner bärenhaften und urwüchsigen Schönheit paßte. Man konnte es sich bei seinem Anblick kaum denken, daß diese Reckengestalt in Frack und Lackschuhe hineinpassen würde.

Frau Gundula musterte das Äußere des jungen Bären interessierter als je zuvor, und während er frisch und fröhlich dem kräftigen Mahl zusprach und dabei voll lebhaften Eifers über seine Seefahrt sprach, flogen ihre Gedanken weit voraus ...

»Unser Rettungsboot taugt nichts, Mutting«, bemerkte Guntram Krafft etwas unwillig, »es ist ganz unzweckmäßig gebaut. Über die äußerste Brandungslinie, wo sich die Wellen auf drei bis vier Faden brechen, kriegen wir's kaum noch hinaus. Ja, so ein gutes Peake-Boot, das sich aufrichtet wie ein Holundermännchen, mit einem schweren eisernen Kiel, und vorn und hinten hohe, gewölbte Luftkästen ... ja, das könnten wir brauchen, damit ließe sich etwas ausrichten!«

»Sicherlich«, nickte Gundula zerstreut und überlegte, daß sich der junge Graf am besten in der Residenz neu ausrüsten müsse. Anton verstand sich vorzüglich darauf, der muß ihn einkleiden.

»Ich finde, es ist eine Schande, daß gerade hier für unsere Küstenstrecke so gar nichts geschieht. Die nächste Rettungsstation hat gar keinen Wert für uns, denn wir können sie einfach nicht erreichen, wenn plötzlich Not am Mann ist. Es muß hier etwas geschehen, das Hamelwaat ist auch solch ein Brunnen, der erst zugeschüttet wird, wenn das Kind ertrunken ist. Mir geht es schon so lang im Kopf herum, mich an die zuständige Behörde zu wenden, daß sie uns eine regelrechte Rettungsstation bauen läßt. Was meinst du, Mutter, was ich dazu tun könnte?«

Die Gräfin blickte auf, legte entschlossen die Hand auf den Tisch und sagte: »Du wirst in der Residenz am besten Gelegenheit haben, maßgebende Persönlichkeiten für deine Pläne und Absichten zu interessieren.«

»In der Residenz?«

»Ich möchte dir heute eine Eröffnung machen, Guntram Krafft, dir einen Wunsch mitteilen, den du mir hoffentlich erfüllst.«

Er blickte erstaunt auf, nahm ihre Hand und küßte sie als stumme Antwort.

»Es ist Zeit, daß du, als jetzt großjähriger Mann, deinem Herzog vorgestellt wirst. Ich habe mich diesbezüglich mit einer Anfrage an das Hofmarschallamt gewandt und eine sehr huldvolle und gnädige Antwort des Herzogs erhalten. Man sieht deinem Besuch in der Residenz mit liebenswürdigstem Interesse entgegen und ist bereit, dich bei Hof zu empfangen. Dein Aufenthalt wird sich über die Saison erstrecken, du wirst die Feste im herzoglichen Schloß und, falls es dir Freude macht, auch die der Hofgesellschaft mitmachen.«

Guntram Krafft sah weder erfreut noch erregt bei dieser Eröffnung aus, er blickte die Sprecherin nur erstaunt an und sagte beinahe bedauernd: »Gerade im Winter bin ich am wenigsten abkömmlich hier. Denk an die Sturmflut vom 13. und 14. Februar vorigen Jahres! Wie gut war es, daß ich da auf dem Posten war! Aber so Gott will, haben wir gutes Wetter in diesem Winter, und wenn du sagst, daß ich die Verpflichtung habe, mich meinem Landesherrn vorzustellen, gut, so gehe ich.«

»Du wirst gleichzeitig Gelegenheit haben, eine Menge der hübschesten, liebenswürdigsten und vornehmsten jungen Damen kennenzulernen.«

Der junge Graf richtete sich höher auf, sein Blick haftete wie in starrem Forschen auf dem Antlitz der Sprecherin, über das ein müdes, flüchtiges Lächeln glitt. Flammende Glut stieg in die Wangen, ein Ausdruck von Verlegenheit lag plötzlich auf dem schönen Antlitz, und langsam nach dem Bierglas greifend, fragte er zögernd: »Was meinst du damit, Mutter?«

»Ich meine und hoffe, daß mir mein Sohn vielleicht eine schöne, liebenswürdige Tochter aus der Residenz mitbringt, eine junge Bärin für das alte Nest, die all das frohe, frische Leben in Hohen-Esp aufblühen läßt, das du seit einiger Zeit so sehr hier vermißt hast.«

Einen Augenblick sanken die dunklen Wimpern tief über Guntram Kraffts Augen, dann schlug er sie voll auf und lachte die Gräfin mit strahlendem Blick an.

»Das würdest du gutheißen?«

»Es ist meine sehnliche Hoffnung und mein dringender Wunsch, daß du heiratest, mein Sohn. Deine finanzielle Lage ist durch Gottes gnädige Hilfe eine derartige geworden, daß du auch ein armes Mädchen heimführen kannst, vorausgesetzt, daß sie solid und anspruchslos genug ist, jetzt und für die Zukunft mit dir in unsrer lieben Waldeinsamkeit hier zu leben. Ein genußsüchtiges, eitles und oberflächliches Weib paßt nicht in die Bärenhöhle von Hohen-Esp, sie würde dein Unglück sein. Ich habe dich durch fünfundzwanzig Jahre hindurch gelehrt, mit meinen Augen zu sehen. Gebe der barmherzige Gott, daß du in dem wichtigsten und entscheidendsten Augenblick deines Lebens nicht mit Blindheit geschlagen sein mögest!«

Die Gräfin hatte sich erhoben, sie breitete die Arme aus und zog ihren Sohn an die Brust, und als sie in seine großen, klaren Augen sah, die aus dem kühnen, wettergebräunten Männerantlitz noch so offen, ehrlich, treu und wahr leuchteten wie Kinderaugen, da wußte sie, daß sie seiner immer sicher sein konnte.


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