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So schweigsam, wie Graf Hohen-Esp bei Tisch war, so sprudelnd heiter und amüsant war seine Nachbarin. Die kleine Ecke der langen Tafel war bald eine recht fidele, und Thea beobachtete es voll Genugtuung, daß Guntram Krafft energisch seine Mißstimmung bezwang und, wenn auch nicht fröhlich, so doch etwas gesprächiger wurde.
Als Komtesse Sevarille das Thema sehr geschickt auf die See lenkte und die umsitzenden Damen aufs eifrigste in ihr schwärmerisches Entzücken einstimmten, leuchtete es sogar in Guntram Kraffts ernsten Augen wie heiße Sehnsucht auf, und als man gar anfing, ihn um seemännische Dinge zu befragen und seinen Bemühungen, die Damen und Herren für das Rettungswesen Schiffbrüchiger zu interessieren, ein lebhaftes Verständnis entgegenbrachte, da bemächtigte sich seiner sogar eine gewisse freudige Erregung, die für einen Augenblick die Schatten von seiner Stirn scheuchte.
Dieses Gespräch währte freilich nicht lange, dazu war die Jugend zu übermütig gestimmt.
Die letzten Worte der Unterhaltung verklangen bereits im Lärm, den das Zurückschieben der Stühle und die lebhaftere Konversation beim Aufheben der Tafel verursachten; der Graf von Hohen-Esp schwieg und verneigte sich vor seiner Dame, sie in den Saal zurückzuführen.
Er sah seltsam verändert aus, er hatte so gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem ehedem so linkischen, bei jedem Wort errötenden Jüngling, den die Spottlust der Großstädter den modernen Parsifal genannt hatte.
Er neigte flüchtig den Kopf.
»Ich tanze keinen Walzer, Komtesse, gestatten Sie, daß ich Ihnen einen zuverlässigen Tänzer besorge.«
»O nicht doch! Ich möchte tausendmal lieber mit Ihnen plaudern, Graf.«
Er schien ihre Worte zu überhören, wandte sich zu einem seiner Tischnachbarn, der keine Dame geführt hatte, und bat ihn, bei Komtesse Sevarille zum Tischwalzer für ihn einzutreten, da er nicht tanze.
»Selbstverständlich, mit größtem Vergnügen!« versicherte der Angeredete, nachdem er den Grafen ein wenig erstaunt gemustert hatte, verneigte sich vor der jungen Dame und flog mit Thea davon.
Guntram Krafft aber wandte sich kurz um und schritt dem Ausgang zu.
Er nahm hastig Pelz und Hut und trat in die kalte, stürmische Winternacht hinaus. Seine Verpflichtungen gegen Thea hatte er erfüllt, und nun hielt ihn nichts mehr. Wie ein Verdürstender atmete er die klare, kalte Luft; sein gequältes Herz hämmerte, und seine Augen brannten so heiß, als glühten ungeweinte Tränen darin. Welch eine Beherrschung hatte die letzte Stunde von ihm verlangt!
Wie ein Feuer brannte der kleine Zettel auf seiner Brust, wie verzehrendes Feuer glühte ihm das Leid im Herzen. Jetzt erst, nachdem er Gabriele für immer verloren hatte, begriff er es, wie voll, wie ganz und innig er sein Herz an sie gehängt hatte. So auf den ersten Blick! So gläubig und vertrauend wie ein Kind, das die Schönheit in seinem Märchenbuch liebgewonnen und voll sehnenden Entzückens die Arme nach ihr ausbreitet, wenn sie ihm im Leben unverhofft begegnet. Welch ein schwerer, tosender Kampf in seinem Innern nach all dem friedlichen Glück vergangener Jahre! Dazu kam die herbe Enttäuschung, die er in der Angelegenheit seiner ersehnten Rettungsstation erfahren mußte. Dieser Mißerfolg allein hatte schon etwas sehr Niederdrückendes für ihn und trug auch noch dazu bei, seine Stimmung zu verdüstern.
Da überkommt ihn ein wildes, unbändiges Heimweh, ein übermächtiges Sehnen nach der stillen Heimat, nach allem, was er liebt und was ihm in treuer, schlichter Liebe ergeben ist.
Guntram Krafft breitet die Arme aus und stöhnt aus tief verwundetem Herzen: »Heim! Ich will heim!« Und er stürmt mit hämmernden Pulsen in das Hotel und kündet dem äußerst betroffenen Anton an, daß er die Koffer packen soll; am nächsten Tag kehre er nach Hohen-Esp zurück.
Anton hörte es dem halberstickten Klang der Stimme an, daß es kein Widersprechen gibt. Was mag geschehen sein?
»Haben der Herr Graf daran gedacht, daß wir zuvor Abschiedsbesuche machen müssen?«
»Ja; ich bestellte bereits bei dem Portier den Wagen. Wir werfen nur Karten ab; einzig bei der Gräfin Sevarille wünsche ich gemeldet zu sein. Ich werde jetzt noch die neu eingelaufenen Einladungen beantworten.«
Am nächsten Morgen wurden in großer Eile die Besuche abgefahren.
Da es eine ungewöhnlich frühe Stunde war, nahm Gräfin Sevarille noch keine Besuche an.
»Frau Gräfin sind bei der Toilette, und Komtesse schlafen noch.«
Guntram Krafft nickte. »Weiter!« befahl er kurz. »Zum Bahnhof! Fort! Fort von hier!« Er stirbt vor Sehnsucht nach der Heimat.
Der Zug setzt sich langsam in Bewegung und fährt in den kalten, nebligen Wintermorgen hinein, und als die Häuser und Türme der Stadt hinter dem modernen Parsifal versinken, da atmet er tief auf, wie erlöst von einer unseligen Last.
Da wird es allmählich still und ruhig in seinem Herzen, und als er endlich im Schlitten sitzt und durch die heimatlichen Wälder dahinjagt, als er mit aufleuchtendem Blick und weitgeöffneten Armen das bleigrau rollende Meer begrüßt, da schaut er plötzlich um sich wie ein Mensch, der aus tiefem Schlaf erwacht, wie ein Mensch, den ein böser, quälender Traum gefangenhielt.
*
Gräfin Thea war nie so aufgeregt, so übellaunig und nervös von einem Ball heimgekehrt wie von dem Tanzfest im Hotel St. Petersburg.
Ihre Augen brannten wie im Fieber, mit unsicheren Händen riß sie den Kranz aus ihrem Haar. Warum hatte der Graf das Fest so unvermittelt hastig und ohne ein Wort des Abschieds verlassen? Wohin ging er? Wird er tatsächlich verschwiegen sein?
Fieberhaft rasen neue Gedanken, neue Pläne durch ihr Hirn. Wenn jede Schuld ihre Strafe in sich schließt, so erleidet sie Gräfin Thea in dieser dunklen, endlosen Nacht. Erst spät am Morgen, als das Mädchen schon im Ofen Feuer anzündet, schläft sie ein.
Und als sie erwacht, erhält sie die Nachricht, daß Graf Hohen-Esp bereits dagewesen sei. Sie starrt die Sprecherin an wie eine Vision.
»Er war hier?« Das klingt wie ein heiserer jubelnder Aufschrei.
Sie preßt die Hände gegen die Schläfen und lacht freudig auf, wie aus Todesängsten erlöst. Dann macht sie in rasender Eile Toilette, frühstückt und geht in sehr gehobener Stimmung auf das Eis.
Als sie wiederkommt, sieht sie trotz der Kälte blaß und verstört aus. Um ihre Augen liegen tiefe Schatten, und der Mund zeigt die Linien, die man im ganzen Haus fürchtet; sie zeigen an, daß sich die Komtesse in höchst gereizter Stimmung befindet.
Sie bringt zwei Neuigkeiten mit nach Hause. Die erste ist die, daß Fräulein von Sprendlingen persönlich sehr wohl und gesund ist, daß aber ihr Vater, gerade als er im Begriff stand, für das Tanzfest im Hotel St. Petersburg Toilette zu machen, von einem Schlaganfall getroffen wurde.
Und die zweite Neuigkeit: Graf Hohen-Esp ist Knall und Fall abgereist. Kein Mensch weiß, warum. Man vermutet, daß er Nachrichten von zu Hause erhielt.
Ob er wiederkommen wird?
Viele behaupten ja, manche nein. Gräfin Thea weiß es genau: Nein, er kommt nicht wieder!