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Am nächsten Vormittag kommt Sören.
Es liegt wie eine Verklärung über seinem Gesicht, wenn er von Grenadina spricht.
Hubert beobachtet es und amüsiert sich über den Schwärmer.
»Du erzählst mir so viel von ihr, Sören« sagte er scherzend, »schade, daß ich mich nicht revanchieren und Dir ebenfalls alle Details über ihr Ergehen berichten kann.«
»Das könnten Herr Graf doch so leicht!«
»Wieso?«
»Nun, die Herrschaften lernen sich doch in den eleganten Salons fast alle kennen und die berühmten Künstler verkehren in den ersten Kreisen. Fräulein Nirsky hat wohl noch ein besonderes Recht dazu, denn sie entstammt einer erstklassigen Familie.«
»Du hast recht, es ist nicht unmöglich, daß ich ihr einmal begegne, Einladungen habe ich ja für die nächste Zeit genug.«
»Wie schön wäre das! – Ich weiß, es ist ein unbescheidener Wunsch, aber ich würde so gern alle Tage von ihr wissen, ob sie gesund ist oder nicht.«
»Du scheinst Dich um sie zu sorgen?«
»In Hamburg war sie viel krank; sie lag dann meistens auf dem Balkon oder in ihrem Salon auf einem Divan nahe am Fenster und es schnitt mir ins Herz, wenn ich ihr trauriges Gesichtchen sah.«
»Gestern Abend sah sie sehr heiter und glücklich aus.«
Hallwege nickte. »Bei einem solchen Erfolg! – Und dann vor den Menschen! Man weiß nie, ob solch ein Lächeln aufrichtig ist.«
»Hoffen wir es. Warum denkst Du so pessimistisch?«
»Ich hatte stets das Gefühl, sie sei trotz ihres Reichtums, Jugend und Schönheit unglücklich. Die Familienverhältnisse waren so traurig, und gestern Abend erzählte noch ein Mechaniker, welcher aus Hamburg kommt um einen neuen Benzwagen zu holen, die Ehe von den Eltern Nirsky sei geschieden.«
Der berühmte Flieger machte eine jähe Handbewegung.
»Das ist allerdings fatal. Armes Kind.«
»Von ihren Liedern habe ich nur das letzte, deutsche Wort für Wort verstanden, Herr Graf!« – Sören neigte sich geheimnisvoll näher: »Ist Ihnen nichts am Schlusse aufgefallen?«
Hubert zuckte unwillkürlich empor. »Wie meinst Du das?!«
Hallwege blickte träumerisch gradaus. »So viel Ausdruck in einer Stimme kann nicht gemacht sein, – die Sehnsucht, die aus jedem Ton zitterte, war echt.«
»Sehnsucht? nach wem?!« – Giöreczy fragte es mit wunderlichem Klang in der Stimme.
Sören zuckte die Achseln. »Wohl nach einem, den sie liebt, – mit dem sie so ganz allein inmitten dunkler Wälder Rauschen wohnen möchte!«
»Wäre er im Saal gewesen, hätte ihr Blick ihn fraglos gesucht.«
»Das wird er wohl auch getan haben, Herr Graf, – beobachtet hat es in diesem Augenblick wohl niemand.«
Der Aviatiker wandte sich kurz um, riß eine Schublade des Schreibtisches auf und nahm das silberne Zigarettenetuie heraus.
Er bot es Sören mit abgewandtem Gesicht an. »Rauch eine Queen! Und dann … ja ehe ich es vergesse … Du wolltest mir von einer neuen Sicherung für die Spanndrähte erzählen! Eine Idee von Dir?!«
Da hatte das Gespräch eine andere Wendung genommen.
Als der Monteur gegangen war, trat Hubert an das Fenster und blickte in die belebte Straße der Großstadt, in welcher seine Hotel-Wohnung lag, hinab. – Aber er sah nicht, was drunten vorging, seine Gedanken glichen aufgescheuchten Vögeln, welche unstät umherflattern, ehe sie wissen, wohin sie sich wenden wollen.
Armer Sören! Er scheint tatsächlich mit der ihm eigenen, treuen Schwärmerei an seinem ehemaligen vis à vis zu hängen. Wie gern möchte er dem guten Burschen die Freude machen und ihm von einer persönlichen Begegnung mit Grenadina erzählen. Vielleicht ließe es sich mal einrichten, daß er Sören mit einer Bestellung oder ein paar Blumen zu ihr schickt, – sie scheint Lilien zu lieben, aber rote Rosen würde sein verliebter Scherasmin In »Oberon« (1780), einem Versepos von Christoph Martin Wieland, das auch zur Vorlage für Carl Maria von Webers gleichnamige Oper (1826) diente, ist Scherasmin der Knappe des Helden Hüon, welcher sich in Rezia, die Tochter des Kalifen Harun al Raschid verliebt; in deren Vertraute Fatima wiederum verliebt sich Scherasmin. sicher noch lieber überreichen!! – Er hatte schon heute morgen eine kleine Kriegslist ersonnen, wie er Steinbach unauffällig veranlassen konnte, ihn zu dem Fünfuhrtee der Sängerin mit zu nehmen.
Er wird unter allen Umständen den kleinen Trik gebrauchen. –
Wie kam Sören auf die wunderliche Idee, daß Grenadina sich nach einem Geliebten sehnt, mit welchem sie in dunkler Wälder Rauschen so ganz allein wohnen möchte? Hat er womöglich beobachtet, daß ihr Blick ganz auffällig und unleugbar den Seinen suchte?
Unmöglich! Das kann kein Dritter bemerken, und außerdem war Hallwege vollkommen harmlos.
Er kennt Grenadina aber nicht, – sie kann ihn nicht lieben. –
Und doch … wie oft schon flammten ihm schöne Augen voll heißer Minne zu! Damen, die ihn oder sein Bild geschaut, die sich ein Ideal gebildet, die ihn anschwärmen, wie man eben berühmte Männer liebt um ihrer Kunst oder ihrer Taten willen!
Interessiert sich Fräulein Nirsky für die Aviatik?
Wer weiß es! Für was alles begeistern sich die sensiblen jungen Damen von heute. –
Je nun – wer lebt, wird sehen! sagt man und der Ungar behauptet: Seinem Schicksal entgeht man nicht! Wohl an, in seinen Adern rollt das Blut der Giöreczy! –
Es ist beschlossene Sache, daß Steinbach ihn bei Grenadina einführen muß. –
Um vier Uhr steht der noch recht jugendliche Kommerzienrat aus Habanna vor dem Spiegel und steckt die elegante Perlnadel in die Krawatte, als es an der Tür seines Hotelzimmers klopft und der Kellner die Karte des Grafen Giöreczy herein reicht.
Steinbach ist sehr erfreut, denn er ist eitel und mit dem berühmten Flieger bekannt, gar befreundet zu sein, gehört jetzt in Berlin zu dem guten Ton.
Auf der Schwelle steht Hubert, in tadellosem Gesellschaftsanzug, eine weiße Narzisse im Knopfloch.
Sehr charmante Begrüßung. –
»Ich sehe Sie im seriösen Schwarz? – Wollen Sie mich abholen?« ruft der sichtbar angenehm Überraschte.
Giöreczy ist erstaunt, mustert sein Gegenüber und seufzt: »Auch Du im Gehrock, mein Sohn Brutus? Ich hatte gehofft, während einer gemütlichen Plauderstunde meinen Tabak bei Ihnen rauchen zu können!« –
»Aber selbstverständlich können Sie das, Graf! erklären Sie nur, warum Sie so feierlich …«
Hubert läßt sich in einen Sessel fallen und stellt den Zylinder neben sich auf einen Spiegeltisch.
»Sie sehen in mir das Opfer einer Verwechslung, bester Steinbach. Bilde mir steif und fest ein, die Frühstückseinladung zu der Eschstruth sei für heute gewesen, und als ich, steif geputzt, vorhin antrete, macht sie eine Autotour Interessante Selbstbespiegelung der Autorin, die sich sonst nie in ihren Erzählungen persönlich einbringt, hier aber ihre Zeitgemäßheit (›Autotour‹) unmißverständlich unterstreicht. Dies gilt auch für die Erwähnung der Oper »Der Rosenkavalier« (1911) von Richard Strauss, deren Libretto von dem bedeutenden österreichischen Dichter Hugo von Hofmannsthal stammt. Bildungsnachweise der Autorin beziehen sich sonst in der Regel auf klassische Werke der Literatur und Musik. und das Essen findet erst morgen statt! – Natürlich ein Versehen meinerseits. Ich frühstücke also im Restaurant Dressel stilvoll für mich allein, und weil ich zu faul bin, mich umzuziehen, wollte ich Sie nun während einer Stunde heimsuchen, dann irgend einen Fünfuhrtee beehren und mir zum Schluß dieses verfehlten Tages den Rosenkavalier bei Lampenlicht besehen! – Aber ich sehe, Bester, Sie machen selber Toilette! Wo wollen Sie um diese Zeit hin!?«
Steinbach hat Zigarren auf den Tisch gestellt und schenkt soeben die kleinen Likörgläser voll Benedictiner.
»Sie gestatten, daß ich uns Kaffee bestelle, Graf?«
Hubert hielt seine Hand, welche sich nach dem Klingelknopf ausstreckte fest: »Nein! Ich bitte mir zuvor zu sagen, wo Sie hin wollen!«
Der Großindustrielle lacht: »Ganz und gar versäumen möchte ich den Tee bei Signorina Nirsky nicht, – aber eine …«
»Bei Grenadina Nirsky! Der Sängerin? Mensch – hat die etwa heute Empfangstag!?« –
Steinbach reichte ihm seiner Gewohnheit gemäß lächelnd die Hände: »Allerdings! keinen regelrechten, offiziellen Empfang, aber doch ein Stelldichein für ihre persönlichen Freunde und Bekannten.«
»Und Sie sind ihr persönlich bekannt, mein bester Steinbach? Woher das, wenn man es nicht indiskret ist zu fragen?« –
Der Kommerzienrat steckt die Zigarre in Brand: »Eine charmante Reminiscenz an meinem Aufenthalt in Sumatra, welchen ich unternahm um Geschäfte mit unserem Zweigunternehmen abzuwickeln. Ich lernte dort die Familie Nirsky kennen, welche im Begriff stand um der Töchter Willen dauernd nach Deutschland zurück zu gehen. Wie ich aber hörte, konnte die Kleine den Klimawechsel zwischen den Tropen und dem sibirischen Hamburg nicht vertragen!« –
»Ah – Sie Glückspilz! Und nun wollen Sie die junge Dame an die Zeit erinnern, wo Sie ihr in fernen Wunderlanden den Hof machten?«
Steinbach strich mit eigentümlichen Lächeln das dunkle gefärbte Bärtchen und seufzte: »Doch nicht, Graf! Ich hatte zuvor Gelegenheit genommen, die Familie im vergangenen Sommer in Hamburg aufzusuchen. – Seien wir ehrlich! Die Kleine ist meiner Ansicht nach etwas lungenleidend. Grenadina hatte es mir ehemals nicht angetan. Sie war hold und unschuldig wie ein weißes Lämmchen und das ist nicht mein Geschmack. Ihre Schwester Virginia stellt das Elfchen total in den Schatten!«
»Ah! – Noch eine Schwester – ? –«
»Und was für eine! – Kapitalweib! Echtes spanisches Vollblut – ganz die Mama! Schwarz, glutäugig – ein Temperament um selbst einen Schneemann verrückt zu machen! Ich fing Feuer!«
»Ernstlich?« –
»Mit reellsten Heiratsgedanken.« Wieder ein schmerzliches Aufseufzen.
»Nun … und …? Sie kamen nach Hamburg?«
»Um noch rechtzeitig eine Einladung zu ihrer Hochzeit mit einem deutschen Husarenoffizier zu erhalten!«
»Infames Pech! – Erfuhren Sie das denn nicht vorher?«
»Nein, – obwohl wir korrespondierten! Virginia hatte, wie gesagt, spanisches Temperament! Sie hatte ihre Verlobung nicht für derart wichtig gehalten, um sie mir mitzuteilen. Nachher will ich Grenadina fragen, ob es wahr ist, daß sie sich scheiden lassen will, wie sie mir kürzlich einmal durch einen guten Freund bestellen ließ!«
Giöreczy lachte hell auf. »Scheiden! – nun, das ist doch selbstredend! Welche Ehe bleibt wohl heutzutage länger, wie ein Jahr bestehn!« – Der Sprecher starrte einen Moment vor sich nieder auf das bunte Teppichmuster, dann hob er jäh den Kopf: »Lieber Steinbach! Ich langweile mich heute unsagbar! Ich weiß nicht, was mit der Zeit bis zum Theater anfangen! Die Bekanntschaft der Nirsky würde mich interessieren! Bitte seien Sie human und nehmen Sie mich als Zugabe zu Ihrem Fünfuhrtee mit!« –
»Aber selbstredend! Ich rechne es mir zur Ehre, verehrtester Graf! Wie könnte ich mir besser für einen guten Empfang sorgen, als wie durch Ihre Visitenkarte!« Er hob das Likörglas sehr höflich und neigte es gegen dasjenige des Aviatikers: »Glück auf zur Fahrt! Ich werde alsdann meine Toilette beenden und eine Droschke rufen lassen, denn es wird Zeit sein, uns der Diva zu Füßen zu legen!« – –
In dem Salon Grenadinas brennen dir elektrischen Flammen hinter rosa Schleiern, die Blumen duften fast betäubend stark und eine erwählte kleine Gesellschaft von Herren und Damen sitzt plaudernd in den hellseidenen Sesselchen und trinken den Tee, welchen die junge Sängerin eigenhändig an dem kleinen, von Silbergeschirr blinkendem Tischchen einschenkt.
Die Türe öffnet sich und der Kellner überreicht zwei Karten. – »Herr Kommerzienrat Steinbach bittet um die Ehre!« sagt er dabei.
Grenadina lächelt höflich, sieht die Karten nicht noch einmal an, sondern legt sie in die Schale auf dem Flügel und wendet sich mit der ruhigen, fast unnahbaren Sicherheit einer Dame von Distinktion der Türe zu.
Diese öffnet sich und auf der Schwelle steht eine hohe, schlanke, Gestalt … Hinter ihr taucht der kleine, rundliche Großkaufmann auf.
Einen Augenblick starrte Fräulein Nirsky in die Augen des fremden Gastes. Alles Blut wich aus ihren Wangen um alsdann – gleich wie bei lebhaftem Schreck – desto heißer in dieselben zurück zu schießen.
Schon steht der Geschäftsfreund ihres Vaters neben ihr und küßt die fast mechanisch dargebotene Hand.
»Sie gestatten Signorina, daß ich Ihnen meinen sehr kunstliebenden Freund, den Grafen von Giöreczy, zuführe! Derselbe möchte Ihnen noch persönlich für den Genuß danken, welchen Sie uns gestern bereiteten! Einen Kommentar zu seiner Persönlichkeit zu geben, ist wohl in diesem Falle nicht nötig!« –
Grenadina ist ihrer Verwirrung Herr geworden. Sie kämpft gegen das letzte, so verräterische Beben ihrer Lippen und neigt lächelnd den Kopf, ohne dem Gast die Hand zu bieten.
Sehr förmlich und höflich, wie eine Fürstin Audienz erteilt.
»Bei diesem Namen ist freilich jeder Zusatz unnötig!« sagte sie voll Liebenswürdigkeit und kann es doch nicht hindern, daß die Worte ein wenig atemlos klingen. »Ich freue mich, einen Teil der Lorbeeren, welche mir die Nachsicht meiner Freunde gestern Abend bot, in berufenere Hände niederzulegen!«
»Das würde wenig menschenfreundlich geteilt sein, meine Gnädigste!« lachte Hubert sehr unbefangen »und Sie als Egoistin brandmarken!«
Alles hat sich erhoben und tritt höchlichst interessiert herzu.
»Dieses harte Wort müssen Sie begründen, Graf!«
»Mit dem größten Vergnügen! Den bitteren Lorbeer, auf welchem es sich bekanntlich sehr schlecht ruht, will Fräulein Nirsky auf gute Manier los sein. – Die Rosen und Vergißmeinnicht aber, welche für mich tausendmal begehrenswerter sein würden, behält Sie selbstredend für sich!«
Helles Lachen. – Der Graf bittet, ihn den anwesenden Damen bekannt zu machen. Frau Finanzrätin von Flammenberg-Baadt, eine sehr voluminöse Fünfzigerin und bekannte Frauenrechtlerin, drückte ihr feistes Doppelkinn kampfesfroh gegen den kragenlosen Hals zurück und machte eine energische Handbewegung.
»Verkennen Sie meine junge Freundin nicht. Hinter den Seraphschwingen ihres äußeren Menschen versteckt sie alle Reklameplakate revolutionären Fortschritts! Der bittere Lorbeer hat für uns moderne Frauen einen sehr süßen Beigeschmack bekommen, denn seit auch wir ihn erringen können, verkörpert er uns eine Wünschelrute, die nicht nur Bonbons, sondern noch viele andere Genüsse herbeizaubert!«
»Hört! Hört! Es lebe der bittersüße Lorbeer!«
»Fräulein Nirsky, ziehen Sie sofort Ihr genereuses Geschenk an den Grafen zurück!«
»Behalten Sie ihn wenigstens so lange, bis er für mich noch eine Tasse Tee und etliche Biskuits hervorgewünschelt hat.«
»Selbstredend! Da grüßt er noch unverändert in allen Facons und Bindungen.«
Grenadina reichte mit graziösen Händen die Tassen und süßen kleinen Kuchen, dieweil sich von den Sesseln und Stühlen ein größerer Kreis um das Ecksofa bildete.
Dort nahm die streitbare Kämpferin für moderne Weltanschauungen Platz und schien sich ungeheuer für den Grafen zu interessieren.
Zuerst sprach Giöreczy noch über das Konzert und bekannte mit besonderem Nachdruck, daß ihm das letzte Lied, die so reizende Zugabe von Lassen, am meisten entzückt habe. »Natürlich. Sie hörten nur, Graf, daß einer der Sonne zuflog – und von lustigen Fittigen, oder besser gesagt ›Tragflächen‹, getragen wurde. Das regte sofort die ehrgeizigsten Gedanken bei Ihnen an, – Sie träumten sich auf den Flugplatz und während Signora sang, stellten Sie in aller Eile einen Rekord von noch tausend Metern mehr Höhe auf.« –
»Unmöglich, meine Gnädigste. Man hätte mit einer Narkose arbeiten müssen, um ihn derart der Wirklichkeit zu entrücken!« lachte ein ausländischer Konsul galant. »Bei normalem Gedankenflug, wäre gestern Abend wohl jeder Aviatiker an dem höchsten Felsgestein hängen geblieben, wo der Falk sein Liebesnest gebaut hatte.«
»Bravo! Ganz meine Ansicht!«
»Auch die Ihre, Graf?«
Giöreczy lächelte. »Ich spreche stets und prinzipiell nur im Allgemeinen.« –
» Auch dann hören wir voll Interesse.«
»Zuerst bezweifle ich, daß selbst ein Falkenweibchen, wenn es modern erzogen wurde, für die Einsamkeit in dunklen Wäldern schwärmt. Es soll dort außer dem kleinen Nestchen keine amüsanten Bauten geben, wie sie die Dame des zwanzigsten Jahrhunderts zu ihrem Glück unbedingt nötig hat. Keine Theater, Ballsäle, Autogaragen, Kaufhäuser und Ateliers für elegante Konfektionen!!«
Helles Lachen. Frau von Flammenberg-Baadt nickt wohlgefällig. »Ich sehe Graf, Sie haben viel liebenswürdiges Verständnis für die Ansprüche, welche das moderne Weib stellt und stellen kann. Für meinen Geschmack wäre Waldeseinsamkeit ohne Wahllokal, Rednertribühne und eine gute Konditorei geradezu gräßlich.«
»Auch für Sie, Fräulein Nirsky?« fragte Hubert sich ganz unvermittelt an sein Gegenüber wendend.
Grenadina schaute auf, aber nur sekundenlang, dann lächelte sie. »Habe ich so schlecht gesungen, daß Sie danach fragen müssen?«
»Bravo! – Meiner Ansicht nach sprachen direkt Neid und Eifersucht auf das Falkenweibchen aus der Signorina Stimme,« scherzte Steinbach und rührte Sturm in seiner Teetasse. »Der Geschmack ist ja so verschieden, und wer keine Wahllokale und Kaufhäuser liebt, schwärmt für die Lenzidylle am steilsten Felsgestein.«
»Liebt!! – was und wie liebt denn die Tochter des zwanzigsten Jahrhunderts!!!« spottete die Fortschrittlerin. »Eine so selbständige Sängerin wie Grenadina kann unmöglich schwärmen wie ein Backfisch, wenn sie sentimentale deutsche Lieder auch noch so ausdrucksvoll singt! – Jedenfalls kann sie die Ehe als Endziel ihrer Liebe nie als ihr höchstes Ideal angeben!« –
»Lassen Sie sich das gefallen gnädiges Fräulein? Darf ich mich Ihnen als Sekundanten anbieten und Ihre Karte überbringen?«
Die Genannte schraubte gerade das Spiritusflämmchen unter dem Teekessel höher. Sie beugte sich herab und man sah nicht den Ausdruck ihres Gesichtes. Aber sie rief mit heiterer Stimme: »Warum soll ich meine Hände in Suffragettenblut tauchen? Madame ist Menschenkennerin, wenn sie mich für so aufgeklärt taxiert, muß es wohl sein!« –
»Tatsächlich? Sie schätzen die Ehe nicht hoch ein?« –
»Wenn ich ein Mann wäre, gewiß nicht!«
»Halten Sie den Mann für egoistischer?« –
»Das nicht. Aber was einem Weibe das Leben ausfüllt, bedeutet für ihn nur eine Episode! Für den Mann wird Liebe und Ehe bald Gewohnheit, etwas Alltägliches und Enttäuschendes, am steilsten Felsgestein wohl am schnellsten. Er kennt keine Ideale, darum fehlt seinem Glück die stärkste Verbündete, die Phantasie.«
»Und das Weib hat noch Ideale?!« –
Frau von Flammenberg-Baadt lachte beinah mitleidig.
»Liebste Grenadina – wenn Sie das behaupten, sprechen Sie von Zeiten, die vergangen sind! Oder von bleichsüchtigen Backfischen, die noch für alles Romantische, Geheimnisvolle, für große Taten oder absonderliche Schicksale schwärmen und in einem Entführer den Inbegriff heißester Liebe sehen! – Der Mann mit der Strickleiter, der ›kühne Sänger – Mädchenfänger‹ Stradella Bezieht sich auf die romantische Oper »Alessandro Stradella« (1844) von Friedrich von Flotow. ist ihnen tausendmal sympathischer, wie der normale Freier, welcher mit Zylinderhut und weißen Glace's bei Mama anhält! – Aber solche kindische Überspanntheit können Sie doch nicht als Norm aufstellen!!«
Grenadina trat näher, schlank und zart wie ein Hauch stand sie der Sprecherin gegenüber. Ihr süßes Gesicht lächelte.
»Ich habe mich wenig mit den Seelenregungen meiner Mitmenschen beschäftigt, aber meine eigenen Geschmacksansichten dafür gebildet. Überspannte Vorstellungen über Liebe und Ehe kenne ich selbstverständlich, aber ich glaube, daß die vielen unglücklichen Ehen heut zu Tage darin begründet sind, daß sich die Mädchen eben gar keine Ideale mehr bilden und darum nicht mehr auf die Verkörperung ihrer tiefinnersten Herzenssehnsucht warten, sondern ohne Wahl darauf losheiraten. Der Erste ist der Beste! Da muß die Enttäuschung im Alltäglichen, die Entfremdung, die Unduldsamkeit und Grausamkeit bald nachkommen.«
Hubert Giöreczy richtete die großen dunklen Augen nachdenklich auf die Sprecherin.
»Und wenn sie sich ein Bild von ihrem Zukünftigen formt und auf seine Verwirklichung wartet?«
Feine Röte stieg in die Wangen der Sängerin.
Aber sie sagte ruhig: »So muß die Ehe nach meiner Überzeugung glücklich werden!«
»Die Phantasie des Weibes stellt aber meistens sehr hohe Anforderungen?« fuhr Hubert fort.
Fräulein Nirsky nickte. – »Ist das ein Fehler? Wartet sie auf einen Helden, – einen leuchtenden Siegfried, einen Lohengrin – oder Herkules und er kommt tatsächlich …«
»Heut zu Tage?! –« Steinbach rang lachend die Hände. »Dann wird sie rettungslos alte Jungfer! –«
Grenadina's Auge leuchtete seltsam auf, aber sie blieb sehr gelassen.
»Man muß als modernes Weib die Heldensagen auch modernisieren und die Drachen und Riesen mit anderen Namen belegen!« –
»Bravo! Zum Beispiel? –«
Die junge Sängerin zuckte die Achseln. »Das eben bleibt jeder Geschmacksrichtung überlassen, wohin der Wirkungskreis des Helden verlegt werden soll!« –
»Feuer … Wasser … Luft und Erde!!« –
Die Frau Finanzrätin und Präsidentin des Frauenklubs lachte sehr animiert.
»Die Erde dem Bergmann – das Wasser dem Marineoffizier – die Luft dem Aviatiker! – Graf Giöreczy! – Die Mädchen, welche für den Ikarus erglühten, werden fraglos die Verkörperung ihres Ideales in Ihnen finden!« –
»Danke schön! Wollen Sie damit andeuten, daß ich noch ebenso kläglich auf die Nase falle, wie der verblendete Sonnenstürmer?!«
»Das verhüte Gott! Ich nahm nur den Helden des gleichen Elementes an!«
»Also ›los dafür‹, Graf! Sie wissen nun, wie Sie die Zeitungsannonce abzufassen haben. ›Gesucht für sofort oder später, als bescheidene und einsiedlerische Hausfrau eine Ikarusschwärmerin, welche gewillt ist, mit einem modernen Flieger auf dem Abendstern oder Jupiter ein glückliches Heim zu gründen‹.«
»Sehr gut! Setzen Sie noch hinzu: ›astronomische Kenntnisse nicht unbedingt erforderlich, aber erwünscht‹!«
»Halt! Noch etwas: ›Schwindelfreies Benehmen in jeder Aero-Lebenslage Bedingung‹!«
»Wir kommen alle und helfen die gefälligen Offerten sortieren, und auf eventuell Brauchbares zu sichten!«
»Kommen auch alle zur Hochzeit, Graf!«
»Kann ich mich nicht mit einem Frühstück frei kaufen?« –
»Ah … Sie verweigern die Ehe?!«
»Ich schmeichle mir, mein Leben lang die personifizierte Rücksicht gegen die Damen gewesen zu sein!«
»Oh Sie Heuchler! – So zieht man den Kopf aus der Schlinge!!«
Der Konsul hatte mit forschendem Blick auf Grenadina ein paarmal das dünne Haupthaar glatt gestrichen, er klemmte jetzt mit nervös zuckender Hand das Monocle ein und sagte im ernsten Ton: »Meine Herrschaften, Scherz bei Seite. Ich habe schon oft das Thema: ob ein Aviatiker heiraten soll, oder nicht, variieren hören, aber noch niemals von einem berufsmäßigen Flieger selbst. – Die Gelegenheit ist günstig, wir haben den kompetentesten Mann dafür in unserer Mitte. – Nun wollen wir ihm einmal die Pistole auf die Brust setzen, daß er unverblümt Antwort gibt. Frau von Flammenberg, erteilen Sie ihm als Vorsitzende das Wort!! – Redefreiheit in weitgehendster Form zugesichert. Courtoisie gegen die anwesenden Damen in diesem Falle ausgeschlossen! – Graf Hubert von Giöreczy äußern Sie sich Ihrer vollsten Überzeugung gemäß zur Sache!«