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In dem ovalen Zimmer mit den grünen Vorhängen war es stille geworden. Kleine Falter flatterten um die Lampe und fielen versengt mit heftigen kleinen Bewegungen auf das Tischtuch herab; das junge Mädchen sagte zu ihrem Bruder, der sich bemühte, sie vom Tisch zu streifen: »Nein, laß ... die armen Tiere!«
Der Mann, der zwischen beiden saß, sah sie erstaunt an. Er war nicht mehr jung, sein kurzes welliges Haar war leicht ergraut; ihm war das täuschende Gefühl gekommen, er müßte das, was er sah und hörte und was ihn umgab, schon einmal erlebt haben; und er sprach es aus. Alle gaben aus wiederholter Erfahrung die gleiche Täuschung zu, aber er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist wirklich so«, sagte er, indem er sich in dem Zimmer umsah und die um den Tisch Sitzenden der Reihe nach freundlich anblickte. »Ich könnte Ihnen eine Geschichte erzählen ...«
Er sprach indessen nicht weiter und versank in Nachdenken. Sohn und Tochter sahen einander an und füllten dem Gast das Glas; sie wußten, daß er dann gesprächiger wurde, und auch die Mutter wollte die Geschichte hören. Er aber warf dem jungen Mädchen einen eigentümlich liebevollen, lächelnd vertrauten Blick zu, der sie beinahe verwirrte, denn sie hatte den Mann erst wenige Male gesehen, und der ihr dennoch wohltat; dann sagte er:
»Mein Beruf bringt es mit sich, daß ich öfter den Ort wechseln muß, um in neuer Gegend die gleiche Arbeit zu verrichten; und so war ich auch dahin gekommen, wo das Haus stand, und die Dinge sich ereigneten, an die ich heute so lebhaft erinnert werde. Es ist sicherlich Zufall ... Lassen Sie mich nur erzählen. Ich ging dort im Walde spazieren und sah einen schlanken Mann vor mir auf dem gleichen Wege gehen, der sich beständig bückte und irgend etwas auf der Erde tat; und da er auffallend groß war, sah dies um so sonderbarer aus. Ich ging ein wenig schneller und bemerkte bald, daß kleine Schnecken in großer Zahl nach dem Regen auf dem feuchten Boden krochen, die er alle behutsam aufhob und in die Büsche tat, offenbar, damit sie nicht verletzt würden. Ich habe ihn später ebenso aufmerksam darauf achten, daß er keine Ameise zertrete, und die Falter an der Lampe schützen sehen.
Einige Tage später saß ich in meinem Gasthof beim Mittagessen, als derselbe Mann eintrat. Seine Kleidung sah, ohne es absichtlich zu sein, dennoch altertümlich aus. Sein Stehkragen war wohl besonders hoch und die dunkle Krawatte breit darumgeschlungen, weil sein Hals so lang war; der graue Gehrock war in den Hüften eingeschnitten und die Hosen enge. Das Gesicht, von schwarzem, schönem, an den Schläfen herabgestrichenem Haar umrahmt, und der kleine Backenbart erhöhten den altmodischen Eindruck.
Er grüßte mit einer leichten Verneigung und begab sich an seinen Platz und begann zunächst sein Besteck mit einem seidenen Tuche sorgfältig zu reinigen. Dann aß er, fast ohne sich umzusehen, und ging wieder fort.
Da hörte ich seinen Namen, denn meine Tischgenossen, Ingenieure der Bahn, wie ich, und einige Herren aus der Stadt, wunderten sich darüber, daß der Rat Dorenius im Gasthaus gespeist hatte.«
Unter den Zuhörern entstand eine gewisse Bewegung. Die Kinder sahen die Mutter und die andern beschwörend an. Der Erzähler stockte und fragte, ob ihnen der Name bekannt sei.
»Flüchtig,« antwortete der junge Mann, »und bitte, fahren Sie fort!«
»Es wurde mir gesagt, daß er ein sehr verschlossener stiller Mensch sei, der von irgendeinem Amt, das er nicht mehr ausübe, den Titel habe und bei seiner Mutter lebe. Wenig mehr.
Eines Abends ging ich an dem Hause vorüber, das man mir als das seine gezeigt hatte; es lag höher als die Straße, eine grüne Böschung ging bis zur Gartenhecke hinauf, dahinter lag es weiß und flach mit grünen Fensterläden; von unten konnte man nur das Dach sehen. Auf der anderen Seite der Straße gehend, hatte ich einen Lichtschein wahrgenommen; da ich nahe herangekommen war, hörte ich wundervoll die Violin« spielen. Ich blieb stehen und ging dann, fast ohne es zu wollen, den kleinen schmalen Weg über die Böschung hinauf, der zu einem kleinen Türchen im Zaun führte: an diesem Türchen blieb ich ganz stille stehen und lauschte. Das Fenster war offen und die Vorhänge geschlossen, so daß ich nur einen Lichtschimmer sehen, aber die Töne in nächster Nähe lieblich hören konnte.
Es geigte mir die Seele fort; ich wußte nicht, wo ich war: ich fühlte mich in das kleine Zimmer, das süße weiße Haus hinein; ich sah die leisen Flammen im Kamin; Bilder von Frauen, Erinnerungen stiegen auf; ich stand, stand, lauschend und träumend, und wußte nicht, wohin die Zeit verrauscht war.
Auf einmal verstummte das Spiel, und ich sah wieder das schattenhafte dunkle Grün, das mich umgab, den Zaun, die sandigen Wege, und wenn ich mich umsah, in der Ferne den mattschimmernden Fluß. Aber jetzt fiel ein Schatten auf den Vorhang; er wurde auseinandergezogen und eine Stimme rief: ›Wer ist denn da?‹
Der Spieler konnte mich nicht gehört und noch weniger gesehen haben, – und doch mußte ich ihn durch irgendein leichtes Geräusch, das ich selbst nicht beachtet, gestört haben. Ich entschuldigte mich irgendwie: die Musik hätte mich bezwungen und zum Lauschen gebracht.
Der Mann im Fenster antwortete: ›Bitte, treten Sie doch ein, wenn Sie zuhören wollen; das Türchen ist nur eingeklinkt.‹
Die Einladung wurde so einfach liebenswürdig gesprochen, daß ich nicht widerstand. Die Haustüre ward geöffnet, und durch einen kleinen, fast leeren Vorsaal kam ich in ein Zimmer, ähnlich, wie ich es eben geträumt hatte: still, mit kleinen Flammen im Kamin trotz dem Frühlingsabend, mit geblümten Tapeten und hellen Vorhängen, mit alten Schränken und Bildern, und darin der lange feine Mensch, jetzt im Hauskleid, mit weichen Schuhen an den Füßen, vor dem Pult mit seiner Geige.
›Ich bin ganz allein‹, sagte er und sah mich mit seinen großen, merkwürdigen Augen an. ›Spielen Sie? ... Ja!‹
›Ich spiele ein wenig Cello‹ sagte ich, ›aber wenn Sie mich meine Zudringlichkeit vergessen machen wollen, so lassen Sie sich, bitte, nicht stören und mich weiter zuhören.‹
Er spielte fort. Ich saß vor ihm; in den Pausen sprachen wir über die gespielten Stücke. Nach einiger Zeit, in der ich ebenso hingenommen zugehört, legte er die Geige fort; eine Magd kam, die auf ein Tischchen kalte Speisen und Wein auftrug und zwei brennende Kerzen dazustellte. Wir redeten fast nur über Musik, dann sagte er: ›Nun muß ich fort, um meine Mutter und Schwester vom Bahnhof abzuholen.‹
Ich verstand diese Worte als eine Aufforderung, ihn zu verlassen, und ich ging. Aber es gab sich von selbst, daß wir wieder zusammen kamen; und in den Gesprächen, die wir führten, sagte er über die Gegend und die Natur, selbst über Wolken und Wetter, merkwürdige Dinge, wie ein Mensch, der sich ganz in Erde, Tiere und Pflanzen hineinleben konnte, bis zur Seltsamkeit, wie ich es ja bei dem ersten Zusammentreffen, von dem ich indessen nichts erwähnte, gesehen hatte. Aber am meisten redeten wir immer wieder über Musik. Ich hatte selbst Musiker werden wollen, und wenn ich mein Talent nicht groß genug geglaubt, um meinen Beruf daraus zu gründen, so war ich ein leidenschaftlicher Liebhaber geblieben. Das hatte ich ihm erzählt, und eines Tages forderte er mich auf, mit ihm zu spielen, und wir beredeten ein Trio, bei dem seine Schwester am Klavier begleitete. Ich war beiden nicht gleich, besonders dem Rat nicht, aber es ging, und es ward für uns alle, für mich zum mindesten ein unbeschreiblicher Genuß.
Ich hatte die Frauen schon vor den gemeinsamen Musikabenden kennengelernt; die Mutter, eine sehr blasse alte Dame mit weißem Haar, und des Rats Schwester, Claire Dorenius.
Sie war nicht, was man schön nennen konnte; aber sie war zart und schlank und hatte etwas Liebliches im Wesen; und sie sah unendlich rein und gut aus ... ich will gleich sagen, daß ich mich in sie verliebte, ohne es zu wissen, daß mir ihre Nähe, ihre Stimme, ihre feinen, ein wenig schüchternen Worte süß waren.
Noch heute verfolgt mich das Bild des schlanken, weißgekleideten Mädchens mit der roten oder grünen Schärpe, die sie wie einen Gürtel umgebunden trug. Damals begleitete es mich in meine tägliche Arbeit und machte mich froh und traurig. Es war jene Zeit, in der man jedes Zusammentreffen zählt, jedes Wiedersehen ungeduldig erwartet, eine Beklemmung, lang ehe ein Wort gesprochen, oder ein Blick etwas anzudeuten gewagt hat.
In diesen Tagen, die mir so viel versprachen, geschah mir etwas Überraschendes. Ich kam des Mittags durch die Stadt und begegnete Dorenius auf meinem Weg; ich schloß mich ihm an und ging mit ihm durch eine stille, staubige Straße dem Bahnhof zu; es war eine lange und langweilige Kleinstadtstraße, und wir waren die ganze Strecke auf der einen Seite an den Häusern fortgegangen, als Dorenius plötzlich vom Bürgersteig auf den Fahrdamm trat und auch mich mit sanftem Zwang nach der anderen Seite der Straße hinüberzog. Wir hätten an einem Neubau vorüber müssen, und ich dachte, – soweit ich mitten im Gespräch, das wir nicht unterbrachen, überhaupt dachte, – daß er in seiner peinlichen Reinlichkeit Staub oder spritzenden Mörtel für seinen Anzug fürchtete, und wollte ihm sagen, daß ja nicht gearbeitet würde und niemand auf dem Gerüst wäre, aber ich sagte es nicht, weil die Reden, die ich mit ihm führte, den Gedanken sogleich wieder zurückdrängten. All dies währte kaum Minuten, und wir gingen auf der anderen Seite der Straß« fort; da hörte ich das schwere Krachen, sah die fallenden Trümmer, Ziegel und Mauerstücke und aufwirbelnden Kalkstaub, als das Gerüst einstürzte. Wir wären unfehlbar darunter begraben worden, und betroffen sah ich den Mann an, den ein so wunderbarer Instinkt oder Zufall mit mir gerettet hatte. Er sagte ruhig: ›Wie gut, daß wir herübergegangen sind!‹
›Hören Sie,‹ sagte ich, ›ist Ihnen an dem Gerüst etwas aufgefallen?‹
›Ich weiß nicht ... mir war es so ...‹ erwiderte er ausweichend und setzte das frühere Gespräch fort.
Vor dem Bahnhof verließ ich ihn und ging zurück. Er hatte mir gesagt, daß er einen Besucher erwarte, und fuhr dann in der Tat mit einem wohlgekleideten jungen Mann an mir vorüber.
Bis dahin war ich nie in seinem Hause einem anderen Gast begegnet. Und obwohl es oft geschah, daß, wenn gespielt wurde, unten an der Straße Vorübergehende stehen blieben, um zuzuhören, war es doch nie wieder vorgekommen, daß der Rat einen davon aufgefordert hätte, ins Haus zu treten.
Als ich zwei Tage später zu Dorenius kam, sah ich den Fremden im Zimmer sitzen, ein Buch in der Hand; er stand auf und wir begrüßten einander. Er war groß, mit vornehmen Bewegungen; sein Haar war dunkel und seine Augen sehr schön; aber ihr Blick war mir nicht angenehm; es lag etwas Unstetes, ich möchte sagen, etwas Unwahres darin.
Es ergab sich, daß er in dem gleichen Gasthof wie ich wohnte, aber ich hatte ihn dort nicht gesehen, weil wir andere Stunden und Gewohnheiten hatten. Er blieb zwei bis drei Wochen da, und ich traf ihn, so oft ich zu Dorenius kam.
In all der Zeit, seitdem ich im Hause verkehrte, war nie von den Angelegenheiten oder Beziehungen der Familie gesprochen worden, so daß sie viel mehr über mich wußten, als ich über sie; nur von den Vorfahren auf den alten Bildern und Silhouetten an der Wand war hin und wieder erzählt worden, von den Lebenden nichts.
In diesen Tagen fühlte ich, daß etwas im Hause vorging. Ich muß auch sagen, dieser Fremde war so, daß man ihn nicht leicht übersehen noch vergessen, aber auch nicht leicht ertragen konnte. Er hatte etwas überlegen Spöttisches in seiner Art zu reden, obwohl er immer höflich war und nur über sich selbst oder über seine Landsleute zu spotten schien; er war Engländer von Geburt, obschon er tadellos Deutsch sprach. Er hieß Edward Loane. Wie nah oder wie ferne er meinen Freunden stand, konnte ich kaum erkennen, und Fragen waren in diesem Hause weniger angebracht denn irgendwo. Der Rat sprach immer gelassen, ja kühl mit ihm, Claire redete wenig, so daß er meist das Wort hatte, und seine scherzhaften Bemerkungen und seine Erzählungen hielten das Gespräch im Gang. Er war in Indien gewesen und sprach mit bitterem Tadel von der Herrschaft seiner Landsleute über die Eingeborenen; er sagte einmal, er würde am liebsten einen noch grausameren Aufstand anstiften und besonders alle Engländerinnen ausrotten. Sein Ernst ging immer in Spott über. Manchmal bemerkte ich, daß der Rat ihm entgegen und bisweilen belehrend sprach, was Loane stets mit überlegener Höflichkeit aufnahm. Einmal sah ich ihn sehr übermütig, so daß er über den gedeckten Gartentisch sprang, ohne daß er eine Kanne oder ein Glas umgestoßen hätte. Im nächsten Augenblick hatte er wieder seine kühlen lächelnden Formen.
Aber ich fühlte, daß etwas vorging; und es konnte nicht ausbleiben, daß ich eine gewisse Eifersucht auf ihn empfand, der immer Zeit hatte und die vollen Tage im Hause verbrachte, während ich nur des Abends und keineswegs täglich kam; um so mehr, als das Mädchen ja durch nichts an mich gebunden war. Dieser Besuch machte mir erst die Heftigkeit des eigenen Empfindens bewußt.
Als der Abend kam, der für das Trio bestimmt war, fand es wie sonst statt; er wendete höflich für Fräulein Dorenius die Notenblätter um. Die Musik schien ein Band zwischen uns, das ihn nicht in gleichem Maß umschlang; aber nachher, da wir über eine Stelle sprachen, die wir vorgetragen hatten, setzte er sich ans Klavier und spielte; und da wußte ich, daß er auch darin keinem nachstand.
Es kam von selbst, daß wir häufig miteinander nach Hause gingen, oft schweigend, manchmal in Gesprächen, die nicht viel sagen wollten. An diesem Abend bat er mich, da er nicht schlafen könnte, ihm Gesellschaft zu leisten. Er ließ trefflichen Wein bringen. Wenn er etwa – ich möchte ihm nicht unrecht tun – meine Gedanken über das Haus Dorenius erfahren wollte, so hütete ich mich; er selbst pries Adolf Dorenius sehr; das fiel mir damals auf und später noch mehr, als ich Grund hatte, anderes zu glauben.
Am folgenden Tage kam ich wieder und hielt mich, ohne ins Haus zu gehen oder meine Anwesenheit kundzutun, im Garten auf, um ein Wasserrohr zu untersuchen, das nach meinen Anweisungen gelegt worden war. Ich sah Edward Loane aus dem Hause treten, alle Zeichen unbändiger leidenschaftlicher Wut im Gesicht, und ich sah, wie er mit einem einzigen zornigen Fußstoß einen schönen blühenden Rosenstrauch umstieß und niedertrat; sein Zorn und das Zertreten der vollen, weichen Blumen wirkten in der heimlichen Stille dieses Hauses, des alten Gartens und des Abends noch erschreckender und barbarischer. Wenige Augenblicke später sah er mich und kam auf mich zu und begrüßte mich mit einem gewinnenden Lächeln, als ob ich nichts gesehen und er nichts getan hätte.
Das selbe Gesicht, das ich so wutzerrissen gesehen, sah ich von nicht verhehlter Freude erfüllt, wenige Tage später, da ich von der Baustrecke nach Hause in meinen Gasthof kam und er sich eben zur Abreise anschickte. Es war ein alter Gasthof, und die Schwalben, die unterm Gebälk ihre Nester hatten, flogen zwitschernd hin und wieder, während die Pferde angeschirrt wurden und die Leute sein Gepäck aufluden. Er gab kühle herrische Anweisungen; da sah er mich und wendete sich mir rasch zu, um sich mit einer beinahe herablassenden Höflichkeit zu verabschieden; er hoffte mich wiederzusehen. Ich sah den Wagen aus dem Torweg und die Straße hinabfahren mit einem wunderlichen Gefühl, halb von Befreiung und halb von schwerem, unbegriffenem Kummer.
Ich ging dann sogleich zu Dorenius, traf aber nur die Mutter zu Hause, die mir sagte, daß der Rat und Claire auf den Bahnhof gegangen wären, um von ihrem Freunde Abschied zu nehmen. Ich blieb bei der alten Dame sitzen, spielte ihr vor und plauderte mit ihr. Auch sie war eigentlich verschlossen und schien sonst zumeist gleichsam in sich hineinzusehen. An diesem Abend aber war sie sichtlich erregt, ohne daß ich erkennen konnte, ob diese Erregung eine frohe oder traurige war; einmal seufzte sie schwer und sagte, da ich sie ansah, nur: ›Die Kinder, lieber Freund, o die Kinder!‹ Als ich darauf eine Frage stellte, erwiderte sie ausweichend: ›Sie machen einer Mutter immer Sorge.‹
Die Kinder kamen erst spät zurück, da ich im Aufbrechen war, und Claire war sogleich auf ihr Zimmer gegangen und kam nicht zum Vorschein.
Als ich nach Hause ging, befiel mich wieder die schwere Traurigkeit, obwohl ich keinen Grund dafür gewußt hätte.
Der folgende Tag war ein Sonntag und ich war zum Mittagessen gebeten. Wir saßen in dem weißen Speisezimmer mit den grünen Vorhängen; es wurde nicht viel und jedenfalls nur Gleichgültiges gesprochen, alle schienen noch mehr in sich versunken als sonst, bis der Rat ein Wort über die Menschen im allgemeinen sagte, das sich doch auf etwas besonderes beziehen mochte, was mir unbekannt war; Claire bezog es jedenfalls auf sich, denn sie legte den kleinen Silberlöffel aus der Hand, – sie aß so zierlich, es war mir immer eine Freude, ihr dabei zuzusehen, – und gab ihrem Bruder eine Antwort: etwas von ›furchtlosem Leben‹ sagte sie, und er erwiderte: ›Auch dem Gewissen gegenüber?‹
›Es gibt nichts Gewisses!‹ rief Claire.
›So?‹ mehr sagte er nicht. Das Mädchen trug eben die Schüsseln ab. Er saß unbewegt da und blickte nach der Schwester hinüber. Eine ganze Weile schwiegen alle; Claire hatte die Arme gekreuzt und wendete das Gesicht bald zum Fenster und bald nach der Wand, wie um dem Blick des Bruders zu entgehen; die Mutter sah besorgt und unruhig von einem ihrer Kinder zum andern. Mir war befremdlich zumut.
Auf einmal schrie Claire auf: ›Was schaust du? Schau nicht! Du sollst nicht schauen!‹ und sie bewegte die Hand abwehrend vor sich und gegen ihn.
Und er erwiderte: ›Ich muß schauen!‹
›Was?! – Nein, ich will nichts wissend!‹ Ich sehe sie noch aufspringen und die Hände ringen und dann weinend aus dem Zimmer stürzen.
Eine Weile war Stille; Dorenius hatte die Hände ineinandergelegt und drehte sie hin und her, bis sie aus dem Nebenzimmer laut ›Adolf!‹ und noch einmal heftiger ›Adolf!‹ rief, und er aufstand und ihr folgte.
Das Mädchen brachte Kaffee und Früchte. Frau Dorenius blieb mit mir am Tisch: ›Sie müssen meine Kinder entschuldigen,‹ sagte sie zu mir, ›es ist Bitteres aus früherer Zeit, und jetzt wieder! ...‹
Ich sah wohl, daß sie nur aus strenger Pflicht der Gastfreundschaft und mir zuliebe sitzen blieb, während Tränen in ihren Augen standen und ihre Mundwinkel zuckten; ich brach daher unter irgendeinem Vorwand rasch auf, und sie hielt mich nicht zurück.
Ich kam am andern Tage wieder und traf nur Claire. Wir gingen durch den Garten, und zu meinem Staunen sah ich den Rosenstrauch, den Edward Loane umgestoßen hatte, noch an der gleichen Stelle im Grase liegen. Sie achtete nicht darauf.
Plaudernd traten wir ins Haus, und sie setzte sich an das Pianino, das in dem einen Gartenzimmer stand. Sie saß, mit bloßen zarten Armen, die Finger auf den Tasten, emporblickend, in dem abendlichen Zimmer, in dem aber keine Sonne mehr war; die Türe zum Garten war offen geblieben, und die grüne Wand draußen schloß uns ab. Was sie nicht aussprach, legte sie in ihr Spiel. Das Mitleid mit der Trauer, die über dem Hause war, die Qual und Schönheit des Mädchens, das sich mir so ohne Worte eröffnete, und auch der einsame Abend waren es ... an diesem Abend sagte ich ihr, daß ich sie liebte. Es war ein Augenblick brennender Nähe für unsere beiden Wesen, – denn sicherlich auch den, der uns nicht liebt, binden wir irgendwie an uns, sobald ihm klar ist, daß wir wirklich zu ihm gezwungen sind. Erst als ich ihre Hand ergriff, verstand sie mich, und zog sie zurück wie aus einem Brande, und wie am Tage zuvor, hob sie ringend ihre Hände.
›O Gott! auch das noch! auch das noch!‹ rief sie aus, ›Das sieht er nicht!‹
Sie sah mich verstört an, und blieb einen Augenblick, als müßte sie alles mögliche in Gedanken erfassen und vereinen, dann reichte sie mir sehr freundlich, aber wie jemand, der freundlich sein will, die Hand, und eilte fort.
Ich blieb allein im Zimmer und starrte auf die grüne Wand draußen; ich suchte mich selbst zurechtzubekommen und biß mich auf die Lippen, daß ich nicht geschwiegen hatte; schmerzlicher davon berührt, – das glauben Sie mir, –, daß ich das arme Geschöpf noch mehr verstört hatte, als von der bittern Ernüchterung, die mich selber traf. Da hörte ich ein leichtes Geräusch und sah mich um: die lange, lange Gestalt Adolf Dorenius', stand im Zimmer. Ich hatte die Türe nicht gehen gehört: nie war er mir so schön und so unheimlich erschienen, wie jetzt bewegungslos in der Dämmerung, mit seinem blassen Gesicht, den zusammengepreßten dünnen Lippen, der Erscheinung aus einer vergangenen Zeit.
Aber er sprach freundlich und traurig: ›Gehen Sie noch nicht von uns fort. Gott wollte, Sie hätten mit Ihrer Werbung bei Claire Erfolg gehabt. Sie hat sich mit Loane verlobt, vor drei Tagen, – gegen meinen Wunsch, das weiß sie. In unserer Familie ist viel Unglück und Leid gewesen durch ein Verhängnis unglücklicher Verbindungen. Und ich weiß, daß auch aus dieser nur Unglück für Claire entstehen muß und für uns mit ihr, ich kann das sehen, – leider sehen, denn es nützt mir nichts.‹
Obwohl ich ja Beweise seiner unheimlichen Begabung hatte, war es mir fremd und peinlich und unglaubhaft. Viele Empfindungen kämpften in mir, als ich fragte: ›Was sehen Sie?‹
›Das, was Glück und Unglück bringt, die Erscheinungen, die dem Menschen folgen.‹
› ... folgen?‹
›Ja, die kann ich sehen; nicht immer, wenn ich will, – aber manchmal muß ich. Und diesem Mann folgen schaudervolle Fratzen und Ungetüme nach, Elemente, die sein Wesen erzeugt oder angezogen hat und die sein Schicksal werden. Und wenn Claire sich ihm verbindet, so kann sie ihnen ja nicht entgehen. Sie fühlt es irgendwie selber, sonst hätte sie nicht zwei Jahre gekämpft.‹
Er sprach ganz einfach und ruhig, obwohl sein Gesicht verändert war. Und denken Sie, während er sprach, war mir, als hätte ich jene Unholde gleichfalls mit einem unkörperlichen Auge gesehen oder gefühlt, damals, als der Mann die Blumen zertrat, und wieder an dem Abend, da er davongefahren war.
Er sagte noch: ›Ihnen folgt nichts Häßliches oder Unreines nach. Darum waren Sie mir gleich willkommen. Ich bitte Sie, kommen Sie wieder!‹
Ich ging verwirrt und aufgeregt fort, und in meine Dankbarkeit für seine freundlichen Worte drängte sich das Gefühl, daß ich mich durch meinen Verkehr in dem Hause in einen unheimlichen geistigen Dunstkreis begeben hatte, der mich anzustecken begann. Ein Vogel, der, als ich heimging, neben mir herzufliegen schien und immer wieder aus den Büschen und von den Bäumen schrie, ärgerte und verstimmte mich. Das Wohnen in dem Gasthof, in dem jener Mensch gewohnt hatte, war mir peinlich. Und doch wollte ich mir nicht so weit nachgeben.
Bis zum Winter hielt meine Arbeit mich am Orte fest. Ich ging nach wie vor zu Dorenius, wenn auch seltener, da das Vorübergehen am Hause und Sichmeiden in dem kleinen Orte noch quälender und sinnlos peinlich gewesen wäre. Claire kam nicht mehr so oft in den Garten oder in die Besuchszimmer, wenn ich kam, und an unseren Spielabenden nahm sie nicht mehr teil. Über jene seltsamen Dinge sprach ich nicht wieder. Ich wehrte mich dagegen, und doch, wenn ich in das stille weiße Haus ging, war ich in einer anderen Welt; die zitternde Musik, wenn Dorenius spielte, besonders wenn er allein im Zimmer spielte, und ich in einem andern Zimmer oder vom Garten aus zuhörte, wie an jenem ersten Abend, begann etwas Geisterhaftes für mich zu haben, und um die blasse alte Frau lag es wie eine sonderbare fremdartige Luftschicht, oder wie ich es nennen soll. Nur Claire erschien mir lieblich und natürlich wie immer.
Sie trug in diesen Tagen ein Kleid, gleichfalls wie auf alten Bildern: weiß-rosa, unter der Brust mit einem Bande gegürtet, mit ganz kurzen gebauschten Ärmeln, die Arme frei, – und ihre ein wenig tiefe Stimme höre ich noch. Etwas Gerades und Verläßliches klang aus dieser Stimme, und manchmal eine verborgene Leidenschaftlichkeit. In mir lebte nach den Worten des Bruders eine leise Hoffnung, und doch fühlte ich, daß sie zu denen gehörte, deren Empfindungen zu tief sind, um leicht zu wechseln.
Im September war im Gebirge reichlich Schnee gefallen, dann kamen heftige Regengüsse und zuletzt sehr warmes Wetter. Überall schwollen die Gewässer; auch bei uns trat der Fluß aus. Unten überschwemmte er die Wiesen, und die Büsche sahen wie Inseln aus dem Wasser. Von Dorenius' Fenstern sah man ihn in geringer Entfernung vorüberwirbeln; Zweige und Sträucher, Balken, Zauntrümmer und Holztreppen schossen ewig gedreht auf seinen grauen stürmischen Wellen vorbei. Weit oben war ein guter Teil unsrer Arbeit zerstört; eilige Schutzvorrichtungen wurden getroffen; ich hatte Tag und Nacht zu tun. Wenn ich todmüde nach Hause konnte, ging ich den kürzesten Weg an einem alten Hause am Wasser vorüber; ein Brettergang mit einem Gitter, der sonst eine Art Balkon bildete, jetzt aber dicht über dem Flutspiegel lag, war durch einen rasch gelegten Steg mit der Straße verbunden worden und ersparte uns einen langen Umweg. Eine Laterne war dort aufgehängt, aber in einer Nacht blies der Wind sie aus.
Während ich in der Dunkelheit dem Gitter entlang halb tastend den Weg suchte, dicht neben und unter mir das weite schwarze Wasser, das zu den Brettern heraufspritzte und drüben am Wehr brüllte, da faßte mich plötzlich eine Art Beklemmung oder sonst ein Gefühl, das ich nicht erklären kann: ich mußte umkehren. Ich ging ein ganzes Stück zurück, bis ich einen unserer Wächter traf und wir mit einer Pechfackel an die Stelle gingen: der letzte Teil des Steges war weggerissen, und ich wäre in den Tod gegangen.
Ich kam ziemlich erregt nach Hause und stand eine Weile in meinem dunklen Zimmer, ehe ich Licht machte. Dann öffnete ich das Fenster. Sogleich rief unten eine Stimme meinen Namen; ich beugte mich hinaus: ein langer Schatten stand unten.
›Dorenius?‹ rief ich hinab.
›Ja! – Sie gehen heute nacht nicht mehr fort?‹
›Dann ist es schon gut. Gute Nacht! Ich war in Unruhe um Sie!‹
Er hatte die Gefahr gesehen und war gekommen! Als ich ihm am andern Tage die Begebenheit erzählte, war er nicht verwundert und sagte nicht viel; dagegen fiel mir auf, daß Claire überaus aufgeregt war.
Es trat dann bald schlechtes Wetter und früher Frost ein. Anfangs November wurden die Arbeiten eingestellt und ich zu anderer Verwendung abberufen.
Viele Kerzen brannten und viele Blumen standen in dem weißen Zimmer mit den grünen Vorhängen auf dem Tisch, als ich zu einem Abschiedsessen kam. Adolf Dorenius und ich spielten eine feierliche alte Musik miteinander. Die Gespräche bei Tisch waren oft stockend, aber voll tiefer Herzlichkeit.
Dorenius erhob sein Glas und trank mir zu: ›Auf Wiedersehen und Immerwiedersehen!‹ sagte er, ›Etwas in uns bleibt ungetrennt!‹
›Sie sind uns ein lieber Freund geworden, den wir nicht vergessen werden‹, sagte die alte Dame, als ich ihr die Hand küßte. Nur Claire, die sehr blaß war, sagte kein Wort, als sie mir die ihre reichte. Ich hatte bei Tisch bemerkt, daß sie mich oft ansah; oft auch waren ihre Gedanken fern gewesen.
Dieser Sommer und seine Ereignisse hatten mich diesen Menschen im tiefsten verbunden. Dennoch schrieben wir uns nicht oft, und sahen uns nur noch zweimal im Leben. Ich erfuhr später, daß Claire, nachdem sie sich mit allen möglichen Gründen von dem Glauben an das unheimliche Vorgesicht ihres Bruders befreit hatte, durch jenes Abenteuer, das mich bedrohte und das er von ferne gefühlt, wieder vollkommen erschüttert wurde. Die stumme Warnung ihres Bruders war ewig vor ihr; Briefe und neue Zusammenkünfte waren die Folge; sie mochte auch Schlimmes über Loane erfahren haben, er war jedenfalls zuletzt in den heftigsten Zorn gegen ihren Bruder und was er seinen schädlichen Wahnsinn und Eigensucht nannte, ausgebrochen: irgendeine Szene zwischen den dreien fand statt, die Claire verletzte und etwas in ihr abstieß, und sie hatte die Verlobung gelöst.
Aber damit hatte sie auch etwas in sich zerrissen und ihre Seele erschöpft.
Als ich wiederkam, sah ich ein blasses und abgezehrtes Gesicht; sie trug ein strenges einfaches dunkles Kleid ohne den geringsten Schmuck oder irgendeine Zier. Ihr Bruder sagte mir: ›Claire vernichtet sich in mystischen Andachten. Sie verströmt ihre Kraft und verblutet.‹
Da es mir furchtbar war, sie in diesem fremden dunkeln Meer versinken zu sehen, die ich so liebte, machte ich einen Versuch, sie dem Leben zurückzugewinnen; aber es war hoffnungslos. ›Ich weiß, Sie meinen es gut,‹ sagte sie mit einer gewissen Strenge zu mir, ›aber Sie sind mir ganz fern. Und Sie kennen die Süße jener Welt nicht, die mich aufnimmt.‹
Sie hatte Gesichte und Erscheinungen, und ich erfuhr zuletzt, daß sie in ein Kloster gegangen war. Die Dorenius waren katholisch. Es war vielleicht ein Glück: ich fürchte, es wäre sonst ein anderes Haus geworden.
Auch Adolf Dorenius lebt nicht mehr. Die Mutter war lange vorher gestorben. Aber es gibt Zeiten, in denen ich sonderbar an diese Menschen erinnert werde. Einmal hörte ich irgendwo ein Musikstück spielen, das nur Dorenius in einer Handschrift besaß; der Zusammenhang hat sich ganz natürlich aufgeklärt: aber jedesmal, wenn es geschieht, geht auch irgend etwas mit mir vor; und es ist mir wie damals, da ich lauschend am Garten stand, und als ob eine Stimme aus einem andern Leben mich riefe, an dem ich doch vorbeigehen muß.
Ich weiß jetzt auch genau, was mich heute so sehr daran erinnert hat, daß ich Ihnen die Geschichte erzählen mußte, die ich noch niemandem erzählt habe.« Der Erzähler sah sich um; alle schwiegen. »Es ist nicht genau dasselbe Zimmer, denn das in dem Hause auf dem kleinen Hügel war nicht oval, aber es hatte doch merkwürdig gerundete Ecken; auch das Getäfel unten war ganz ähnlich, nur die Leiste verschieden. Aber die grünen Möbel und Vorhänge sind genau die gleichen! Und Sie sitzen da, Bruder und Schwester, neben der Mutter wie jene, und Sie haben die Falter geschont, wie es dort immer geschah! Es ist mir sehr erstaunlich!«
Er schwieg; die Zuhörer sahen einander an; der Sohn wollte heftig bewegt sprechen, aber die Mutter kam ihm zuvor: »Darf ich Ihnen, noch ehe Sie anderes sagen, das erklären? Der Zusammenhang ist wieder ein vollkommen natürlicher. Ich bin eine Dorenius. Der Vater Ihrer Freunde und der meine waren Vettern. Und die Möbel und Vorhänge sind die gleichen, sind, die Sie in dem Hause des Rats Dorenius gesehen und berührt haben! Wir haben sie geerbt. Meine Tochter heißt Claire, wenn sie auch nicht so genannt wird, ihre Taufnamen sind Claire Elisabeth, aber ...«, sie lächelte, »wir haben kein zweites Gesicht!«
»Nein! Sie sitzen in freudiger Gesundheit da, – Gott sei Dank!« Er sah in seltsamer Rührung auf das junge Mädchen, das tief rot wurde. Es war nur ein Augenblick. Er strich sich durch das Haar: »Sie sehen, das Gefühl, ich hätte das alles schon erlebt, war nicht so falsch«, sagte er mit leichtem Zittern der Erregung.
»Wir sind Ihnen sehr dankbar für Ihre Erzählung«, sagte der junge Mann, und der Gast, der die Absicht wohlzutun fühlte, lächelte ihm zu.
»Haben Sie Bilder von den andern?« fragte er.
»Ja, wir werden sie Ihnen zeigen, wenn Sie wiederkommen.«
Das Mädchen brachte ihm Früchte und der Sohn füllte sein Glas. Alle bemühten sich um ihn wie um einen alten Freund. Als er fortgegangen war, sprachen sie noch lange über ihn selbst und seine Geschichte, und in der Nacht weinte Claire Elisabeth bittere Tränen, ohne ihre Erregung begreifen zu können. Ihr Bruder erwartete gespannt und freudig die nächste Begegnung.
Aber der Ingenieur kam nicht wieder. Er hatte auf dem Heimweg sein graues Haar bedacht und wie jung Claire Elisabeth noch war.
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