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Es war noch völlig dunkel, als er aus einem unangenehmen Traum erwachte: vier häßliche Affen waren in seinem Salon beim Kartenspiel gesessen, und als er ihnen wehren wollte, hatten sie ihm in unanständiger Weise die Gesäße zugekehrt: er wollte mit seinem Spazierstock nach ihnen schlagen, jedoch der Stock in seiner Hand bewegte sich gewichtslos und langsam durch die Luft, die Affen aber stoben auseinander und der größte unter ihnen kletterte an einem Schrank empor, erfaßte eine Flasche Chartreuse, schwang sie in die Luft, trank daraus und schrie dabei: »Hoch die Anarchie!«
Da er nicht wieder einschlafen konnte, drehte er den Knopf der elektrischen Lampe und schrieb einige Worte auf eines der beinernen Täfelchen, die auf dem Tische neben ihm lagen, so daß er dem Diener Befehle erteilen konnte, ohne durch seine Gegenwart belästigt zu werden; die beschriebene Tafel ließ er in den kleinen Spalt in der Wand am Kopfende seines Bettes fallen. Dann warf er einen Blick auf die Uhr; erstaunt sah er, daß sie auf elf wies. Gleichzeitig pochte es an seine Türe: geräuschlos trat der Diener ein, das Teebrett, auf dem auch die Post lag, in der Hand. Dann verschwand er, klopfte aber sogleich wieder und meldete:
»Herr von Kall.«
»Ich lasse bitten!«
Der Besucher war mittelgroß und schmal und hatte ein langes blasses Gesicht mit eingesunkenen Augen, die unter farblosen Brauen lagen; auch seine Arme und Hände waren lang; er war sehr elegant gekleidet, eine dunkle Krawatte umhüllte den dünnen Hals mit vielen Falten.
»Guten Morgen, Felix, wie geht es?« begann er; und sie sprachen lässig von gleichgültigen neuen Ereignissen unter ihren Bekannten. Herr von Kall zündete sich eine Zigarette an; als er sah, daß Felix halb unbewußt nach der Post griff, wobei seine Blicke an einer Traueranzeige haften blieben, sagte er: »Weißt du schon? Jessie ist gestorben!«
»Jessie!«
Felix hatte sich im Bett aufgesetzt. »Wann ist sie gestorben? Woher weißt du's?«
»Heute früh hat mir's der Ferdi gesagt. Freitag ist sie noch ausgeritten; am selben Abend hat sie ein Fieber bekommen, und war in drei Tagen tot.«
»Das ist ja furchtbar!« sagte Felix.
»Der Ferdi ist heute früh zurückgekommen. Ich bin ihm begegnet ...«
»Wie hat er ausgesehen?«
»Ein bißchen blaß von der Fahrt ...«
»Ja, natürlich; sie war doch seine Schwester ...« Er hatte das schwarzumränderte Papier entfaltet. »Im vierunddreißigsten Jahre ihres Lebens ...« sagte er. Er war sichtlich bemüht, sich zu beherrschen.
Immer noch hielt er die Traueranzeige in der Hand; der zierliche Kopf war gesenkt; der braune spitze Bart hob sich von dem zartgestickten russischen Nachthemd ab.
»Hat dir der Ferdi sonst etwas gesagt?«
»Was ich dir erzählt hab', sonst nichts.«
Beide schwiegen. »Du hast sie lange nicht gesehen?« fragte Herr von Kall.
»Lange nicht. Seitdem sie von Wien fort ist, nicht mehr.«
»So.« Kall schritt zum Bücherschrank in der Ecke und las, rauchend, die Titel, die er kannte. Hier und da warf er einen raschen Blick auf den Mann im Bett.
Dieser klingelte. »Machen Sie das Fenster auf!« sagte er zu dem eintretenden Diener. Neblige Winterluft drang von der Straße herein. Kall hüstelte.
»Lieber Max, sei mir nicht böse, aber ... laß mich jetzt allein ...«
Kall nickte. Seine halb geschlossenen Augen sahen aufmerksam nach dem Freunde. Dann drückte er ihm die Hand und ging mit schläfrigen Schritten. Als die Türe sich hinter ihm geschlossen hatte, legte Felix sich im Bett zurück und blickte nach der Decke des Zimmers. Aber sofort richtete er sich nervös auf und läutete dem Diener. »Bitte, machen Sie das Fenster zu! Ich will aufstehen!«
Hastig angekleidet, schritt er Zigaretten rauchend auf und ab. Immer heftiger wurden seine Schritte, immer gespannter der Ausdruck seiner Züge. Schließlich blieb er vor dem Spiegel stehen und entfernte ein Stäubchen von dem umgelegten grauen Tuch seiner Jacke. Im Spiegel fiel sein Blick auf eine dunkle Truhe, die wie ein langer Schatten an der Wand stand. Er suchte einen altertümlich geformten Schlüssel, öffnete die Truhe und stellte eine verschlossene Kassette auf den Tisch, der er Briefe und Bilder, kleine Kämme, Bänder und andere Fetische der Liebe entnahm. Lange las er und starrte die Bilder an. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und begann einen Brief, begann ihn nochmals und schrieb lange daran, aber als er fertig war, zerriß er ihn in ganz kleine Stücke, die er in den Ofen warf. Dann klingelte er.
»Ich will ausgehen.«
Der Diener stand im Vorzimmer, mit dem langen Überrock, mit Hut und Stock bereit.
Jenseits seiner Straße war die Mauer eines uralten Parks; die Bäume waren laublos; nur ihre feinsten Spitzen hatten zu blühen begonnen, aber der feuchte kalte Nebel wich nicht von der Erde und der Himmel blieb grau.
Er kehrte bald nach Hause zurück, ging noch im Überrock ins Zimmer, legte Hut und Stock neben sich auf den Schreibtisch, nahm das Höhrrohr auf und rief seinen Freund an. »Willst du mit mir frühstücken, Max? Ja! um zwei Uhr! ich bitte dich sehr darum!« »Herr von Kall kommt zum Frühstück«, wendete er sich zu dem eintretenden Diener. –
Er saß, den Kopf aufgestützt, nervös, nachdenklich in seinem Zimmer, als Kall eintrat.
»Du erlaubst ... auch vorher ...« sagte dieser und zündete eine Zigarette an.
»Ich brauche deinen Rat ...« begann Felix, aber er schwieg wieder und redete dann nicht von dem, was beide erwarteten.
Kall kam ihm zu Hilfe: »Du wolltest von ... Jessie reden ...«
»Ja ...« er sah auf und fuhr fort: »Es wird mir schwer, denn es rührt an heilige Dinge!«
»Heilige ...!« Die blassen Lippen in dem müden Gesicht bekamen einen zynischen Zug.
»Ja. Das Heilige und das Unheilige liegen oft nahe beisammen.«
»So. Ich dachte übrigens, ihr, du und Jessie, wäret längst auseinander.«
»Das ist nicht das richtige Wort. Ich habe mit ihr gebrochen – habe ein Ende gemacht. Aus vielen Gründen. Es eröffneten sich damals Aussichten für mich, die ich nicht von mir weisen durfte.«
»Ich weiß ...«
»Es war eine bittere Notwendigkeit ... Übrigens schien es mir auch besser. Ich wollte mich losmachen.«
Kall nickte lässig und blies den Rauch der Zigarette von sich.
»Und sie?« fragte er.
Da trat der Diener ein und meldete, daß serviert sei.
Sie gingen ins Speisezimmer, das klein und viereckig war; die Möbel waren neu, aus dunklem Holz, mit viereckigen Scheiben und schweren Beschlägen. Über den Fußboden war ein blaues Tuch gespannt, das die Schritte dämpfte. Durch dichte weiße Vorhänge fiel ein mattes trübes Licht. Der Diener zündete die Lampe an, die tief hing und durch den weißseidenen Umhang den Tisch behaglich erleuchtete.
Sie setzten sich und begannen zu essen; der Diener füllte ihre Gläser mit Wein.
»Dieser Tod ...« begann Felix, als die Türe sich geschlossen hatte, aber der Diener trat sogleich wieder ein, und er verstummte.
Zum Fisch tranken sie Haut Sauternes. Felix saß schwermütig da; Kall machte hie und da eine kurze Bemerkung. Erst als sie in den breiten tiefen Lederstühlen saßen, den schwarzen Kaffee und die Likörflaschen auf einem kleinen Tischchen zwischen sich, nahm er das Gespräch wieder auf: »Du sagtest, daß du ein Ende machtest, als du die kleine Schönhoff heiraten solltest ...«
»Ja, rechtzeitig, vorher, weil es nicht anders sein konnte ...«
»Ja, und was sagte sie, Jessie, dazu?«
»Sie war außerordentlich. Ihren Stolz, ihre Bewegungen, den seltsamen Schimmer in ihren Augen beim Sprechen werde ich nie vergessen. Diese metallischen Augen waren immer das Merkwürdigste an ihr. Ich glaube, wir haben uns beide gut gehalten.«
Von Kall machte eine ungeduldige Bewegung.
»Heute denke ich: sie war mir überlegen. Ich habe weiter gelebt, sie nicht. Sie hat diese eine große Liebe in die Mitte gestellt und eine Leere darum gezogen. Für sie war alles zu Ende.«
»Ja, wir haben uns alle gewundert,« sagte Kall, »die Jessie nicht mehr bei den Rennen, nicht mehr auf den Bällen ... die Jessie nicht mehr in Wien ...!«
»Ein halbes Jahr hat sie vielleicht noch gehofft; dann hat sie sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Sie hat wirklich ein Ende gemacht.«
Er schwieg und trank hastig ein Glas Chartreuse. Dabei fiel ihm der Traum von heute Nacht ein. Einen Augenblick fühlte er die Versuchung, ihn zu erzählen, dann wies er das Bild von sich.
»Und du hast die kleine Schönhoff nicht geheiratet«, sagte Herr von Kall.
Felix machte eine Bewegung. »Das ist jetzt so gleichgültig,« erwiderte er, »verschiedene Frauen treten in unser Leben und spielen eine ganz verschiedene Rolle darin. Und wenn ich die Kitty Schönhoff geheiratet hätte ... Jessie wäre doch das Erlebnis der Erlebnisse, die Frau der Frauen für mich geblieben. Und das ist es, was mich jetzt quält. Es war nicht zu Ende zwischen uns. Das Glas war nicht leergetrunken. Es mußte noch einmal an meine Lippen, es war mir heilig bestimmt. Und – heute trittst du ein und sagst mir, daß sie tot ist!« Kall schwieg; Felix sprach erregt weiter. »Bisher wußte ich sie lebend, an mich denkend in der Ferne. Es war eine geheime Verbindung zwischen uns, all die Zeit her, obwohl wir uns nicht geschrieben, nicht gesehen haben. Du kennst das nicht, Max, – du bist vielleicht nie so geliebt worden!«
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Herr von Kall und steckte eine neue Zigarette an.
»Lieber Kall, du lebst ein anderes Leben als ich. Du kennst diese tiefe Lust nicht. Du kennst Frauen wie Jessie nicht; so rein und stark und glühend; ... sie war wie ein wundervolles edles Pferd! Hast du sie je reiten sehen oder tanzen?«
Kall nickte. »Sie hat Rasse gehabt«, sagte er.
»Und ihr Witz! Dieser feine Geist!«
»Hatte sie Geist?«
»Du solltest ihre Briefe lesen!«
»Was soll bei einer Frau Geist?«
Felix schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Ich werde dir etwas zeigen!«
Er führte den Freund in sein Schlafzimmer und öffnete die Kassette: »Sieh dies an!«
Kall betrachtete die Photographie und nickte. Felix aber beugte sich über die Truhe und entnahm ihr einen kleinen Ebenholzkasten, der aufsprang: das Bild zeigte die schlanke Frau an die Lehne eines Empirelagers geschmiegt, ein paar gelbe Rosen in dem tiefen Ausschnitt des langen schwarzen Seidenkleides, dessen schleppende Falten unten wogten.
»Ja, das ist sie,« sagte Kall, »das ist sehr gut.«
»Nein, das ist nichts«, erwiderte Felix zitternd; der Ebenholzkasten hatte ein zweites Fach. »Sieh das an! Du bist diskret ... du schweigst ... sagt dir das genug?«
»Kandaules!« sagte Kall langsam, während er das Bild mit zugekniffenen Augen lange betrachtete. Als er es zuletzt aus der Hand legte und sich umwandte, sah er den Triumph in den Augen des Liebhabers und mußte lächeln.
Eine sonderbare Spannung war jetzt zwischen ihnen und ein Unbehagen, ein heimliches Schuldgefühl, als Felix das Bild wieder verschloß. Ein langes Schweigen folgte.
»Es ist gleich fünf«, sagte Felix endlich, nach der Uhr sehend. »Ich muß zur Wilewska, es ist höchste Zeit.«
Er kleidete sich um und sie gingen zusammen fort. Eine müde Schwermut und Feierlichkeit lag auf Felix' Zügen und in seinen Bewegungen. Als er und Kall sich trennten, sah er ihm verstimmt und ärgerlich nach. Dann stieg er die Treppen empor und trat in die freundliche Wohnung. Die alte Dame entlockte dem Erregten ein Bekenntnis.
»Sie haben ganz recht: der Tod ist kein Ende,« sagte sie, »Sie können mit Ihrer Freundin auch weiter in Verbindung bleiben, wenn Sie nur wollen, Felix. Die Fäden brauchen nicht abzureißen.«
Beide sahen in das Feuer im Kamin; Dämmerung war im Zimmer; von einem glimmenden chinesischen Stäbchen stieg ein feines Wölkchen eines fremd duftenden zarten Weihrauchs empor.
Felix horchte auf. Die lebhafte Frau sprach, während die magern, sehr weißen Hände an ihrem Kleide hinabstrichen, mit überzeugendem Ernst fort: »Sie müssen nur mit allen Kräften Ihrer Seele wollen. Sie müssen sich Ihre tote Freundin vorstellen, bis Ihr Bild vor Ihnen steht: es wird aber nicht nur ihr Bild sein ...«
Felix sah ein Bild vor seinen Augen. Er sprach kein Wort. Die kleine Rauchwolke verschwebte um den Teekessel.
»In Träumen wird sie zuerst kommen. Sie träumen ja immer so lebhaft und interessant ...«
Irgendeine unbestimmte unangenehme Empfindung streifte Felix gleichsam, er wußte nicht warum. Frau von Wilewska sprach still fort: »Sie werden um so leichter in Verbindung kommen, als sie doch sicherlich mit dem Gedanken an Sie gestorben ist. Es ist, als ob sie aus dem Unsichtbaren eine Hand nach Ihnen ausstreckte, die Sie nur zu ergreifen brauchen ...«
»Ja,« sagte Felix lebhaft, »es müssen Tagebücher, vielleicht Briefe vorhanden sein, oder Worte, die für mich bestimmt waren; und ich kann doch ihren Bruder nicht fragen. Ist das nicht zum Verzweifeln? Wie soll ich es erfahren?«
»Durch sie selbst!« sagte die schöne weißhaarige Frau mit blitzenden Augen, »wir haben jetzt ein außerordentliches Medium, Miß Elga, Sie kennen sie ...«
Aber Felix schüttelte den Kopf.
»Sie wollen das Geheimnis nicht preisgeben. Sie sind ritterlich, Felix. Dann müssen Sie forschen. Ihre Freundin wird doch irgend jemand um sich gehabt haben, dem sie Vertrauen schenkte. Suchen Sie: Sie werden finden. Glauben Sie mir, Felix, Sie sind beneidenswert: nachdem Sie im Leben so geliebt wurden, wird die Tote für Sie eine unsichtbare, eine heilige Helferin sein!«
Die Worte drangen wie eine Melodie an sein Ohr.
Sie sprachen noch lange von Reinheit und von der Stimmung und von den andern Bedingungen des geheimnisvollsten Verkehrs; zuletzt küßte er ihr dankbar die Hand und ging eigentümlich bewegt und beglückt nach Hause.
Am andern Morgen ritt er in den Prater. Aber die nebligen Wiesen und laublosen Alleen stimmten ihn trüb, noch mehr die Erinnerung. Sie hatte Pferde so geliebt und jeden Ritt so genossen, so wild genossen, daß ihm schwere und traurige Gedanken kamen.
Stundenlang ging er in seinen Zimmern auf und nieder. Kalls Besuch lehnte er ab. Dann schrieb er eilig einige Karten, und um vier Uhr saß er in der Bahn. Es war nur fünf Stunden Fahrt; und er hatte seine Zigarren, Lektüre und den Speisewagen. Er las in einem Buch, das Frau von Wilewska ihm mitgegeben hatte, und das ihn in die gespannteste Stimmung, auf die sonderbarste Erwartung brachte.
Er kam in ein kleines Städtchen in einer Gegend, in der er nie gewesen, und stieg in einem lächerlichen kleinen Hotel ab. Er saß ganz allein, von den Kellnern bestaunt, im Speisesaal, las, und fragte wie von ungefähr nach dem Schlößchen, nach dem es ihn trieb. Es lag im Wald, nicht weit von der Stadt; aber es war, wie man ihm sagte, verschlossen; die Frau Baronin war ja so plötzlich gestorben.
Man schien sie gut gekannt zu haben. Mühsam beherrscht, fragte er nach dem Friedhof. Aber man sagte ihm, hier sei nur eine kleine Feier im Schloß gewesen; der Graf Ferdinand hätte die Leiche der Schwester nach Ungarn ins Erbbegräbnis überführen lassen. Das hatte in der Todesanzeige gestanden und er hatte es völlig vergessen.
Traurig, enttäuscht und ärgerlich über sich selber ging er zur Ruhe, und schlief unruhig und schlecht.
Am andern Morgen ging ein trüber, rieselnder Regen nieder. Dennoch brach er auf und ging zu Fuß über die nassen Straßen: er hatte das grauweiße, nicht gar alte Gebäude schon von der Bahn aus gesehen; es lag jetzt stumm und unheimlich mit geschlossenen Fenstern und Läden hinter einem steilen alten schwarzen Gitter. Er ging rings um das Gitter und sah die triefenden Pflanzen, das Gewinde, das sich an den nassen Mauern zwischen den dunklen Fenstern emporzog. Nie hatte er etwas Trostloseres gesehen.
Hinter dem Hause lag ein Stallgebäude; aber kein Laut, kein Hufschlag tönte; es war offenbar leer.
Nach langem Zögern zog er die alte Klingel an der Gartentür und fuhr zusammen, als er die Glocke tönen hörte, als irgendwo eine Pforte ging und er Schritte vernahm. Ein alter verfallener Mann kam heraus, der ihn mit rotumränderten kranken Augen ansah und ihm unwirsch sagte, es sei niemand im Hause, die gnädige Frau sei tot, die Dienerschaft fort, er sei der Wächter, aber er könne niemanden einlassen, er habe die Schlüssel gar nicht, sie seien beim Notar in der Stadt.
Er ging zurück. Während er auf dem Wege war, heiterte sich der Himmel auf, und eine helle Frühlingsstimmung war über den Straßen, als er die Stadt wieder betrat.
Er ging geradewegs zum Notar und sagte ihm, obschon ein leichter Schauer ihn bei seinen eigenen Worten beschlich, daß er das Schlößchen mieten wollte.
Der Notar, ein dicker kleiner Mann, erwiderte, er habe keinen Auftrag in dieser Richtung und müsse erst bei dem Herrn Grafen anfragen.
Darauf begehrte Felix, das Haus wenigstens zu sehen, es seien ihm noch andere Wohnungen angetragen und er könne nicht warten, bis die Antwort aus Wien eingetroffen wäre.
Nach einigem Überlegen erklärte der Notar, das auf sich zu nehmen. Gegen Abend könne er mit dem Herrn hinausfahren: »Es ist schon alles desinfiziert worden«, fügte er, wie um sich selber zu beruhigen, hinzu.
Felix zuckte zusammen.
»Ja, es war eine schreckliche, eine schauerliche Krankheit, ein Zerfall in vier Tagen.«
Felix wand sich auf seinem Stuhl. Er sagte, daß er die Verstorbene flüchtig gekannt, und erkundigte sich, was mit ihren Leuten, ihren Sachen geschehen sei.
Die Kammerfrau und die andern weiblichen Dienstboten seien alle schon fort, sagte der Notar, nur der Kammerdiener der Frau Baronin sei noch in der Stadt.
»Der Fritz?« fragte Felix unwillkürlich.
»Nein, Franz.«
Felix merkte, daß der Notar aus irgendeinem Grunde ungern Rede stand und auf sein Fortgehen wartete. Er ging denn auch, nachdem sie die Stunde der Fahrt nach der Villa für den Abend vereinbart hatten.
Er fand gesprächigere Menschen in seinem Gasthof und erfuhr, daß die entlassenen Leute Schwierigkeiten gemacht und sich darüber beklagt hatten, daß der Graf ihnen viel weniger gegeben, als ihnen die verstorbene Herrin versprochen hätte; der Kammerdiener wolle sogar ans Gericht gehen.
Erst war es ihm, als könnte er den häßlichen und gemeinen Dingen nicht entkommen, die ihm das Bild der Toten und die Stimmung zerstörten, dann begriff er, daß dieser Gekränkte am ehesten gesprächig sein würde, erkundigte sich und fand nach kurzem Suchen die kleine Gastwirtschaft, in der der Mann wohnen sollte. –
»Franz, bring dem Herrn ein Bier!« sagte der Wirt zu dem blassen blonden Kellner, der mit einer schmutzigen Schürze in der Türe erschien.
»Sind Sie der Franz, der bei der Frau Baronin in Diensten war?« fragte Felix, indem er die Plakate an den Wänden betrachtete.
»Nein«, sagte der Kellner. »Sie meinen den Herrn Eichinger: da kommt er!«
Ein stattlicher Mensch mit militärischem Schnurrbart stand vor Felix. Scharfe stahlblaue Augen musterten den Fragenden. Irgendwie war die Sache Felix unangenehm. Aber er hatte recht gehabt: der Mann sprach unumwunden: Vier Jahre sei er in den Diensten der Verstorbenen gestanden, und sie habe ihm eine Pension und ein Kapital versprochen, damit er, wie sein Wunsch war, eine kleine Reitschule in der Stadt eröffnen könnte, und der Herr Graf Ferdinand wolle das nicht anerkennen; aber er könne es beschwören.
Felix hörte seine Klagen an und gab ihm recht, dann begann er vorsichtig zu fragen, wie die Tote gelebt, ob sie Besuche empfangen ...
Aber der andere war ganz mit sich beschäftigt. »Die Baronin ist täglich ausgeritten,« sagte er, »oh, sie ist gut geritten, und weil ich auch gut reite, hat sie mich immer mitgenommen. Ich hab' ihr noch manches gezeigt.«
Felix erkannte Jessie.
»Was sie sonst getan? gelesen? ja, auch! Briefe habe sie geschrieben und bekommen, natürlich. Besuche selten.«
»Nein, nein, gar nicht. Und mit allen Leuten war sie freundlich. Lieb war die Frau Baronin, wie sie schön war.«
Die Schwärmerei des Dieners für seine Herrin wurde Felix unangenehm. Aber es war immer so gewesen. Wer ihr nahekam ... Der Mann hatte Tränen in den Augen. Felix ward gerührt.
»Sie hat mir Bücher zum Lesen gegeben, damit ich mich bilden soll,« sagte er, »so hat sie sich für mich interessiert, und da will der Herr Graf mir nicht glauben ...!«
Wieder kam er auf seine Ansprüche zu reden, und um sie ganz zu begründen, sagte er zu Felix herübergebeugt, mit leiserer Stimme: »Ich ... ja, wie soll ich mich ausdrücken? Man hat die Ehre gehabt ... der Herr interessieren sich ja für alles von der Frau Baronin ... um offen zu reden ... der Herr werden mich ja nicht weiter verraten ... man hat die Ehre gehabt, der Frau Baronin zu gefallen ... als Mann ...«
Ein glückliches Lachen kam in die Augen des Menschen; er sah nicht, daß Felix ihn erst fassungslos blöde, dann entsetzt anstarrte.
»... Man hat ja schon mancher Herrschaft gefallen ... aber so wie die Baronin war keine Dame ... keine! Die vergißt man nie!«
Das Lächeln glücklicher Erinnerungen wich aus seinen Augen, als er Felix' Gesicht weiß sah vor besinnungslosem Zorn. Und jetzt sprang Felix auf und schlug mit seinem Stock nach dem andern: »Was erlauben Sie sich ...« begann er. Aber der parierte sicher. »Vielleicht ein Herr Rivale?« fragte er höhnisch, und »Vor dem ewig Weiblichen sind wir alle gleich!« fuhr er frech fort.
Ein paar Sekunden sahen sie einander in die Augen, dann besann Felix sich und ging.
Um elf Uhr nachts fuhr sein Zug unter strömendem Regen in Wien ein. Todmüde, durchfroren und elend kam er in seine Wohnung; er hatte nicht telegraphiert, und seine Zimmer waren ungeheizt. Im Salon stand noch die Flasche Chartreuse; er leerte rasch ein paar Gläser. Dann sah er sein fahles Gesicht im Spiegel. Hinter ihm auf den Stühlen schienen die grinsenden Affen zu hocken.
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