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Vor dem Richterstuhl des Gewissens

Pfarrer Kramer hatte gerade sein Gebet geschlossen, als Myntje das Haus betrat. Der Großvater hatte noch nicht Zeit gehabt, die Lampe anzuzünden, so daß es noch ganz dunkel in der Stube war.

»Was gibt's denn hier? Noch kein Licht?« rief das Mädchen unwillig. »Was soll das sein, so im Dunkeln zu sitzen!«

»Ist das die neue Art, wie du deine Großeltern begrüßest, Myntje?«

Das Mädchen erschrak, als sie die Stimme des Pfarrers erkannte. In der Dunkelheit hatte sie seine Anwesenheit nicht bemerkt. Als der Großvater das Zündholz anstrich, konnte man sehen, wie sie feuerrot geworden war und mit erschrockenen Augen nach der Richtung starrte, woher die Stimme des Geistlichen gekommen war. »Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer«, sagte sie mit unsicherer Stimme, »ich sah nicht, daß Sie da waren. Guten Abend miteinander!«

»Du kommst so spät, mein Kind! Ich bin schon ganz unruhig geworden«, sagte die Großmutter, indem sie mit ihren Augen die geliebte Enkelin suchte. »Stelle Kaffeewasser auf, und dann setze dich ruhig zu uns. Der Herr Pfarrer möchte gern mit dir reden.«

Myntje antwortete nichts.

Sie hatte sofort an den Gesichtern gemerkt, daß zwischen dem Pfarrer und ihren Großeltern Ernstes besprochen worden war und ahnte, daß der Pfarrer sie nun in die Hand nehmen werde wegen ihres Amsterdamer Planes. Und was konnte ihrer anderes warten als eine ernste Sittenpredigt?

Myntjes Blick verfinsterte sich. Was gingen den Pfarrer ihre Pläne an, diesen Pfarrer, der eine liebe, junge Frau, ein hübsches Pfarrhaus, ausreichendes Gehalt und eine ehrenvolle Stellung hatte? Sollte er beurteilen können, was einem Mädchen zukommt, das gern etwas mehr von der Welt sehen wollte als Pferde, Kühe, Schafe, Schweine? Oder war sie noch ein Kind, das von Vater und Mutter am Gängelband geführt und vom Lehrer oder Pfarrer einen Verweis bekommen muß, weil es ungezogen gewesen ist? Soll sie, die zukünftige Amsterdamer junge Dame mit der feinen Bildung und den guten Manieren, sich von so einem Pfarrer und ein paar rückständigen Alten plagen lassen, weil sie in der Welt vorwärtskommen will?

Alle diese Gedanken schossen Myntje durch den Kopf, während sie unwillig Hut und Handtasche auf einen Stuhl warf.

»Jetzt Kaffee?« waren die einzigen Worte, die über ihre Lippen kamen, aber die Art, wie sie gesprochen wurden, zeigte deutlich genug, wie es im Herzen des Mädchens aussah.

»Lassen Sie für mich keinen Kaffee machen, Frau Booyen«, sagte der Pfarrer. »Meine Frau wartet mit dem Tee auf mich. Bitte, setze dich, Myntje«, fuhr er mit so strenger Stimme fort, daß an Widerstand nicht zu denken war.

Mechanisch gehorchte Myntje, aber ohne den Pfarrer anzusehen und mit einer zur Schau getragenen Gleichgültigkeit, als ob sie sagen wollte: »Rede nur zu, ich tue doch, was ich will.«

»Ich bin gekommen, Myntje«, begann Pfarrer Kramer, »um einmal ernstlich von Herz zu Herz mit dir zu reden. Man hat mir gesagt, daß du nach Amsterdam willst, um dich als Putzmacherin auszubilden, und deine Großeltern erzählten mir soeben, daß du das wirklich im Sinne hast. Ich habe gar nichts einzuwenden, wenn ein Mädchen trachtet, sich ehrlich durchs Leben zu bringen, und Mittel und Wege sucht, um zu einer anständigen Lebensstellung zu kommen. Das ist gut und sogar Pflicht. Aber dann muß dieses Streben auf einer sauberen Grundlage ruhen, und es darf nicht, wie bei dir, der Hochmut die Triebfeder sein. Du hast bei deinen Großeltern alles, was du brauchst und darum absolut keinen Grund, sie zu verlassen. Ich bin im Gegenteil fest davon überzeugt, daß es deine Pflicht ist, daheim zu bleiben. Je älter dein Großvater und deine Großmutter werden, desto mehr werden sie der Hilfe bedürfen. Bedenke doch, was sie alles für dich getan haben und sage mir dann ehrlich, ob du mit gutem Gewissen von ihnen weggehen kannst. Rührt sich in deinem Innern keine Stimme, die dich der Undankbarkeit und Lieblosigkeit gegen deine Großeltern zeiht? Sage nur ruhig ›ja‹, denn ich bin überzeugt, daß du keine andere Antwort geben kannst. Nun?«

Myntje zauderte. Es war wohl wahr, was der Pfarrer sagte. Gerade die unbequeme Stimme des Gewissens verdarb ihre Freude. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie die unbequeme Anklägerin in ihrem Herzen, die unaufhörlich mahnte, hätte zum Schweigen bringen können! Es gab ja wohl Mittel, die Stimme zu unterdrücken, indem man allerhand Gegengründe vorbrachte. Aber das waren nur Augenblicksmittelchen, und später mahnte die lästige Stimme des Gewissens nur um so lauter und eindringlicher. Pfarrer Kramer traf den Nagel gerade auf den Kopf, als er sagte, daß er sicher wisse, ihr Gewissen könne bei den Amsterdamer Plänen nicht zur Ruhe kommen. Ebenso hatte er recht, wenn er sagte, daß Hochmut die Triebfeder zu ihrem Tun sei.

Was sollte sie nur antworten? Schließlich nahm sie ihre Zuflucht zu der ebenso unhöflichen wie nichtssagenden Bemerkung: »Ja, das können Sie wohl denken.«

Eine Wolke des Unmuts und Zorns verfinsterte einen Augenblick das Gesicht des Pfarrers, aber er hielt sich noch zurück.

»Ich sage dir, daß ich es weiß«, wiederholte er. »Du suchst wohl gleichgültig zu scheinen, aber für mich ist das dasselbe wie ein Bekenntnis. So weit ist es doch noch nicht mit dir gekommen, daß dein Gewissen ganz abgestumpft wäre, obgleich es dazu kommen wird, wenn du nicht aus dem eingeschlagenen Wege innehältst. Du fühlst sehr gut, daß du deinen Großeltern gegenüber unrecht handelst, und daß deine Beweggründe nichts taugen.

Und selbst wenn dich dein Gewissen nicht verklagen sollte, und du setzest deinen Kopf durch, so versündigst du dich in erster Linie gegen Gott, der dir hier im Hause deiner Großeltern eine Aufgabe gegeben hat. Es ist sein Wille, daß du ihnen hilfst, sie pflegst und alles tust, was in deinen Kräften steht, um ihnen ihre letzten Tage so angenehm wie möglich zu machen. Er verlangt von dir, daß du deinen Großeltern untertan bist bis zu ihrem Lebensende. Sie sind an die Stelle deiner Eltern getreten, und du stehst zu ihnen in dem gleichen Verhältnis wie ein Kind zu seinen Eltern. Darum gehst du des Segens des vierten Gebotes verlustig, wenn du deinen Großeltern nicht die schuldige Ehrerbietung erweisest und ihnen Kummer machst.

Es scheint mir, daß du keinen Begriff hast, wie viel du deinen Großeltern Dank schuldig bist. Mit welcher Innigkeit und Liebe haben sie dich versorgt und erzogen. Du warst immer ihr Augapfel, und sie brachten dir alles, was sie besaßen, zum Opfer. Ich weiß, daß sie die jeden Wunsch erfüllten und mehr getan haben, als sie vermochten, nur um dich zufriedenzustellen. Und wie lohnst du es ihnen? Indem du unfreundlich gegen sie bist und sie an ihrem Lebensabend im Stiche läßt. Mädchen, ich warne dich! Gottes Mißfallen wird dich auf deinen selbstgewählten Wegen begleiten, wenn du deinen Plan nicht aufgibst. Sei überzeugt, daß ein Tag kommen wird, wo dein schmählicher Undank schwer auf deiner Seele lasten wird! Dann wird es jedenfalls zu spät sein, dein Unrecht wieder gutzumachen.

Schließlich versündigst du dich auch gegen dich selbst. Hochmut ist der Vater aller Sünden, und wer sich von ihm beherrschen läßt, kommt früher oder später zu Fall. Soll ich dir sagen, was geschehen wird, wenn du nach Amsterdam gehst? Du wirst merken, daß die Damen in der Stadt schöner gekleidet sind als du, und dann wirst du alles daransetzen, sogar Schulden machen, um auch solche Kleider tragen zu können. Du wirst sehen, in welchen Vergnügungen die Massen sich ergötzen, und es werden sich sogenannte Freunde finden, die dich ermuntern werden, mit zu genießen. Du wirst den Lockstimmen gern Gehör geben, und ehe du dich versiehst, wirst du in den Netzen der Eitelkeit und Weltlust verstrickt und den Eindrücken einer christlichen Erziehung entfremdet. Merke dir, was ich sage!

Möglicherweise begegnest du noch jemand, der auf deine verkehrten Neigungen spekuliert und dich in seine Macht bekommt. Es gibt in den großen Städten Menschen ohne Herz und Gewissen, aber mit einer gefüllten Geldbörse, die die teuflische Kunst verstehen, das Vertrauen argloser Mädchen zu gewinnen in der Absicht, sie zu verderben und sie für Zeit und Ewigkeit zu schädigen. Du denkst vielleicht, daß ich übertreibe; aber ich spreche die Wahrheit, wenn ich dir versichere, daß solche Leute nicht zu Hunderten, sondern zu Tausenden unsere Städte gefährlich machen. Daß sie ihr schnödes Handwerk mit Erfolg betreiben, beweisen Scharen von Mädchen, die durch sie Ehre und Zukunft verloren haben, immer tiefer sinken und schließlich elend zugrunde gehen.

Nachdem ich dir nun das Verkehrte deines Planes und seine Gefahren gezeigt habe, frage ich dich auf dein Gewissen: Myntje, kannst du nun nach reiflicher Ueberlegung mit mir die Knie beugen und Gottes Segen über dein Vorhaben erflehen?«

Das Mädchen sah vor sich hin. Sie mußte zugeben, daß Pastor Kramer mit seinen Warnungen recht hatte. Sie war ja schon viel weitergegangen, als er oder die Großeltern nur wußten. Hatte sie doch schon bei Jenny Davids ein Kostüm für fünfzig und einen Hut für fünfzehn Gulden auf Borg genommen. Hatte ihr Herz nicht verlangend geklopft, als sie Jenny von den Herrlichkeiten Amsterdams erzählen hörte, und hatte sie nicht schon den festen Vorsatz gefaßt, sich in den Kreisen eiteln Genusses zu bewegen, los von allen einengenden Banden? Freute sie sich nicht schon, endlich ungehemmt den Reizen ihres hochmütigen und leichtsinnigen Herzens zu folgen? Und dazu sollte sie den Segen Gottes erflehen? Myntje fühlte, daß das Gottes spotten hieße.

»Du schweigst«, fuhr der Geistliche fort, »und in diesem Falle ist Schweigen Bekennen. Du darfst mit deinen Plänen nicht vor Gott treten! Das heißt, du willst einen Weg wählen, den du ohne Gott gehen mußt. Damit brichst du mit dem Herrn und verwirfst die Lehren, in denen du von Kindesbeinen an aufgezogen worden bist. Hast du dir von dieser Tatsache auch wirklich Rechenschaft gegeben?

Pfarrer Kramers Stimme zitterte, und indem er die Hand auf Myntjes Schulter legte, fragte er leise: »Was würden wohl deine im Herrn entschlafenen Eltern sagen, wenn sie das Kind ihrer Gebete in einer solchen Verfassung sehen müßten? Und was muß in den Herzen deiner Großeltern vorgehen, wenn du alle, beinahe zwanzig Jahre an dich gewandte Liebe also vergiltst?«

Bei diesen Worten konnte die alte Großmutter nicht mehr an sich halten und brach in heftiges Schluchzen aus. Der Großvater trat an ihre Seite und faßte ihre Hand, dieselbe Hand, die er vor fünfzig Jahren in der Dorfkirche so fest umklammert hatte, als sie ihren Ehebund schlossen. Zusammen hatten die beiden Alten seit jener Stunde die Segnungen des Himmels genossen und die vielen Nöte und Schwierigkeiten überstanden, sich gegenseitig ermuntert und gestützt. Auch diesem neuen Sturm wollten sie in Seeleneinheit die Stirn bieten. Darum erfaßte der Großvater die Hand seiner greisen Gattin, da der Schmerz sie übermannen wollte, als müsse er ihr einen Teil der Last abnehmen und ihr in seiner Treue neuen Trost spenden. Darum flüsterte er ihr mit gedämpfter Stimme zu: »Sei nur stille, Frau, der Herr wird zu seiner Zeit alles recht machen, wenn auch jetzt sein Weg für uns durch tiefe Wasser geht.«

Es konnte nicht anders sein, dieses Bild mußte auch auf Myntje Eindruck machen. Sie fing an, laut zu weinen, und ohne auf des Pfarrers Frage zu antworten, flog sie auf die Großmutter zu, schlug beide Arme um ihren Hals und bedeckte die Stirne mit Küssen, als ob sie mit Gewalt die Kummerfalten verwischen wollte. Dann lief sie zur Tür hinaus, die Treppe hinauf in ihr Dachzimmerchen. Es kostete den beiden zurückbleibenden Männern Mühe, die alte Frau einigermaßen zu beruhigen. Als es endlich geglückt war, verabschiedete sich der Pfarrer und versprach, am folgenden Tage wiederzukommen. »Es freut mich«, sagte er, »daß Myntje offenbar noch sehr an Euch hängt. Es ist ein gutes Zeichen, und vielleicht siegt die Kindesliebe doch noch über den Hochmut. Laßt sie jetzt ganz in Ruhe, damit die Eindrücke nachwirken können. Unterdessen tröstet Ihr Euch mit der Gewißheit, daß der Herr auch mit dieser Prüfung seine weisen Absichten hat und daß er nicht über Vermögen versuchen läßt.«


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