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Der erste Tag, den Myntje in Frau Nielsens Hause zubrachte, war nach dem Frühstück ruhig verlaufen. Im Arbeitszimmer herrschte strenge Zucht, alles ging geregelt und ordentlich zu.
Während des Mittagessens suchte Friedrich die Neuangekommene über die Sehenswürdigkeiten Amsterdams zu unterrichten, und Myntje war ganz stolz, daß der feine, junge Herr sich mit ihr unterhielt. Freilich gefiel ihr nicht, daß er oft fluchte, aber offenbar war das Sitte in Amsterdam, auch die jungen Lehrmädchen mißbrauchten beständig den Namen Gottes.
Am Nachmittag war sie frei und konnte tun, was sie wollte, arbeiten oder nicht, zu Hause bleiben oder ausgehen. Auf dem Tisch lagen eine Anzahl Muster, die sie nachzeichnen sollte, und sie war damit reichlich beschäftigt gewesen, aber sie hatte augenblicklich wenig Lust zu arbeiten, sondern würde sich viel lieber ein wenig in der Stadt umgesehen haben, doch hatte sie niemand, der sie begleitete. Antonie war viel zu stolz, mit ihr zu gehen, und auf Frau Nielsens Anregung, sich den Abend etwas um »die Neue« zu kümmern, hatte sie mürrisch geantwortet, sie habe sich mit ihren Freundinnen verabredet.
Plötzlich hörte Myntje Schritte auf der Treppe; gleich darauf wurde bei ihr angeklopft, und Fräulein van Bel trat, zum Ausgehen angezogen, in ihr Zimmer.
»Guten Abend, Fräulein Kollart«, rief sie fröhlich. »Ich habe einige Besorgungen in der Stadt zu machen und wollte fragen, ob Sie nicht Lust haben, mich zu begleiten. Wir könnten dabei einen kleinen Umweg machen, damit Sie doch ein wenig von der Stadt sehen. Wollen Sie?«
»O sehr gern«, rief Myntje. Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie daran gedacht haben, mich abzuholen. Ich wäre so gern ausgegangen, aber ich fürchtete, mich zu verlaufen.«
»Nun, dann ist es gut, daß ich gekommen bin«, entgegnete Fräulein van Bel. »Aber einen Gefallen müssen Sie mir tun. Nennen Sie mich doch einfach Leentje.«
»Ja, aber nur, wenn Sie Myntje zu mir sagen.«
»Abgemacht. Es ist so viel heimeliger, als wenn wir so steif ›Fräulein‹ sagen.«
Wenige Minuten später waren sie auf dem Weg, und Myntje konnte sich nicht satt sehen an all den neuen Eindrücken, die auf sie einstürmten.
»Am Samstag wird im Atelier nicht gearbeitet«, sagte Fräulein van Bel, »dann sollten wir, wenn das Wetter schön ist, uns einmal einen richtigen Festtag machen und miteinander in den Zoologischen Garten gehen. Wir machen uns dann gleich nach dem Frühstück auf den Weg und nehmen uns ein paar Brötchen mit. Dann brauchen wir nicht zum zweiten Frühstück heimzukommen und haben den ganzen Tag vor uns. Wie gefällt dir der Plan?«
»Herrlich«, antwortete Myntje strahlend.
»Gut, dann hole ich dich am Samstag gleich nach dem Frühstück ab. Uebrigens habe ich dir jetzt den ersten Besuch gemacht; laß mich nicht lang auf deinen Gegenbesuch warten. Du kannst, so oft du willst, auf mein Zimmer kommen, und wenn du deine Arbeit mitbringst, können wir zusammen schaffen. Mittwochabend bin ich nicht zu Hause, da ich dann immer in den Jungfrauenverein gehe. Willst du mitkommen?«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Myntje verlegen.
Leentjes Augen ruhten forschend auf ihrer neuen Freundin, dann setzte sie sich wieder und sagte: »Höre, Myntje, ich bin ein aufrichtiger Mensch, und nenne die Dinge gern bei ihrem Namen. Ich habe den Eindruck, als ob du vor den Nielsens nicht Farbe zu bekennen wagst. Habe ich recht oder nicht?«
Myntje antwortete nicht. Sie spielte verlegen mit den Mustern und wagte nicht, Leentje anzusehen.
»Vielleicht denkst du«, fuhr diese fort, »ich mische mich in Dinge, die mich nichts angehen, darum laß mich dir vor allen Dingen sagen, daß ich mich in keiner Weise bei dir eindrängen möchte. Aber ich habe heute Morgen beim Frühstück tiefes Mitleid mit dir gehabt. Du hast keine Ahnung, was es mich gekostet hat, zum ersten Male bei den Mahlzeiten zu beten. Ich merkte gleich am ersten Tage, wie Nielsens standen. Ich war noch keine Stunde im Hause und packte meinen Koffer aus, da kam Antonie in mein Zimmer, um Bekanntschaft mit mir zu machen. Gleich als sie mich sah, schien sie schon genug von mir zu haben, denn sie sah mit einem unsagbar geringschätzigen Blick auf meine Kleider. Als sie aber den kleinen Wandspruch entdeckte, den ich aufgehängt hatte, rief sie mit einem Gesicht, als ob sie ein giftiges Tier an dem Spruch sähe: ›Lieber Himmel, Sie sind doch nicht etwa fromm?‹ Ich war so verblüfft, daß ich erst gar keine Antwort fand.
›Sagen Sie es nur!‹ rief Antonie und lachte hell auf. Sie lacht immer so schrill wie heute beim Frühstück, wenn sie böse ist. ›Ich kann Ihnen sagen, daß Sie bei meiner Mutter schön ankommen werden. Und was wird erst Fritz dazu sagen?‹ Wie eine Wahnsinnige sich gebärdend, lief sie aus meiner Stube, und ich hörte sie auf der Treppe noch rufen: ›Mutter, Mutter, wir haben eine Fromme ins Haus bekommen!‹
Was danach geschah, weiß ich nicht. Aber ich fiel mitten unter meinen ausgepackten Kleidern auf die Knie und bat in meiner Herzensangst den Herrn, mir doch recht nahe zu sein und mir Mut und Kraft zu verleihen, meinen Glauben in dieser offenbar so feindseligen Umgebung zu bekennen. In der ersten Nacht habe ich mehr geweint als geschlafen, denn es kam eines zum andern. Ich war zum ersten Male von meiner Mutter getrennt, mein Vater war vor noch nicht acht Monaten gestorben, und nun dieser Empfang in der Fremde! Niemals werde ich diese Nacht vergessen.
Klopfenden Herzens ging ich am folgenden Morgen zum Frühstück. Ich merkte sofort, daß Antonie ihrer Mutter und ihrem Bruder ihre Entdeckung mitgeteilt hatte, denn es herrschte eine peinliche Spannung im Zimmer. Bei Beginn des Frühstücks richteten sich alle Blicke auf mich, um zu sehen, ob ich den Mut haben würde, zu beten. Ich kann nicht beschreiben, wie ängstlich mir zumute war, und ich glaube, sie haben alle meine Aengstlichkeit gemerkt. Aber Gott gab mir Kraft. Ich faltete die Hände und betete. Da war plötzlich alle Angst verschwunden. Ich hätte Gott vor Lob und Dank ein Lied singen mögen, weil er mich so wunderbar unterstützt hat, als ich in Gefahr stand, zu wanken.
Es würde zu weit führen, alles zu erzählen. Nielsens und vor allem Antonie haben von diesem Morgen an keine Gelegenheit vorübergehen lassen, mich zu quälen und zu kränken. Heute früh hast du ja ein Pröbchen davon gesehen. In der letzten Zeit haben sie mich ja bei den Mahlzeiten ziemlich in Ruhe gelassen; aber heute wollten sie, scheint es, wieder ihr Mütchen kühlen, weil du dabei warst. Gewöhnlich gebe ich auf ihre Gehässigkeiten gar keine Antwort mehr; ich bin schon ganz daran gewöhnt und empfinde sie kaum mehr. Aber hin und wieder, wenn sie es zu toll treiben, ist es doch wohl angebracht, ein Wort zu sagen.
Anfangs überlegte ich sehr, ob ich mich nicht nach einem andern Kosthaus umsehen sollte; aber ich gewann nie recht die Freudigkeit zum Ausziehen, und ich frage mich sogar manchmal, ob ich hier nicht vielleicht von Nutzen sein kann. Gott kann, wenn er will, auch das schwache Zeugnis eines einfachen Mädchens segnen.«
Einen Augenblick hielt Leentje inne und sah nachdenklich vor sich hin. Dann fuhr sie fort: »Ich sagte vorhin, daß ich beim Frühstück so großes Mitleid mit dir gehabt hätte. Und weißt du, warum, Myntje? Weil ich an deinem ganzen Benehmen sehen konnte, daß du aus einer Familie kommst, wo gebetet wird vor dem Essen, und weil ich dich wanken sah.«
Die ernsten Worte trafen Myntje. Was würde Leentje wohl sagen, wenn sie alles wüßte. Den Kummer ihrer Großeltern, ihre Schulden bei Jenny Davids, ihr Mißachten von Pfarrer Kramers Warnungen, all ihr Lügen und Vertuscheln. Erriet etwa Leentje, was im Herzen des armen jungen Mädchens vorging? Fast schien es so.
»Du hast offenbar schon mehr preisgegeben, als ich weiß«, fuhr Leentje fort. »Es ist leicht möglich, daß du aus Angst vor Antonie oder den andern verheimlicht hast, daß du aus gläubigem Hause kommst. Wenn dem so ist, dann macht dir sicher der Teufel weis, nun sei es unmöglich für dich, wieder umzukehren und Farbe zu bekennen. Aber ich möchte dich herzlich bitten, laß dich durch diese Einflüsterungen nicht abhalten, je eher desto besser deine Schuld Gott zu bekennen und deiner Umgebung deine wahre Stellung zu zeigen. Wenn du den Herrn um Kraft bittest, wird er dir helfen. Du darfst überzeugt sein, daß du Schritt für Schritt weiter vom rechten Weg abgezogen wirst, wenn du dich nicht weigerst, nach den Augen der Nielsens zu sehen.«
Betjes Klopfen an der Tür, um Myntje Tee zu bringen, ließ Leentje erst merken, wie lange sie sich aufgehalten hatte. Schnell stand sie auf; aber ehe sie das Zimmer verließ, flüsterte sie Myntje zu: »Denke über das nach, was ich dir gesagt habe, und vergiß vor allem nicht, zu beten. Vielleicht beten wir dann beide morgen beim Frühstück! Schlafe gut, Myntje!«
»Schlafe gut, Leentje!« antwortete Myntje.