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Die Reise

Brausend und schnaubend donnerte der Schnellzug aus dem Süden in den Hauptbahnhof Amsterdam ein. Mit einem gewaltigen Stoß blieb die wie ein Ungetüm fauchende Lokomotive in der gedeckten Halle stehen; der ganzen Länge des Zuges nach wurden die Wagentüren aufgerissen, und in aller Hast strömten die Reisenden der Treppe zu, die zum Ausgang führt. Nur einige schienen zu phlegmatisch veranlagt zu sein, sich von dem Strome mittreiben zu lassen. Sie hielten sich beiseite, um nach dem ärgsten Gedränge bedächtigen Schrittes folgen zu können. Es waren hauptsächlich Leute, die auf dem Lande wohnen, selten reisen und vielleicht noch nie in Amsterdam waren.

Die Allerletzte, die die Tunneltreppe herabkommt, ist Myntje Kollart. Mühsam schleppt sie einen Schirm, eine Hutschachtel und einen ziemlich großen Handkoffer mit sich, während sie sich langsam, zögernd und durch den betäubenden Lärm der ankommenden und abfahrenden Züge eingeschüchtert, in der Richtung fortbewegt, die ihre Mitreisenden genommen haben.

Myntje ist in nichts weniger als fröhlicher Stimmung. Nicht nur war ihr die Fahrt entsetzlich lang vorgekommen und hatte sie ermüdet, vielmehr hatte auch der plötzliche Umschlag von der gewohnten stillen Ruhe des Landlebens in das Getriebe eines Brennpunktes des Verkehrs ihre Nerven so aufgeregt, daß ihr Kopf heftig schmerzte. Was war auch seit dem Morgen alles durch Kopf und Herz gegangen! In ihrem ganzen Leben würde sie nicht das tränenüberströmte Gesicht der Großmutter vergessen, das sie beim letzten Winken von der Brücke erblickte. Was weder die Ermahnungen des Pfarrers noch die liebevollen Ratschläge des Großvaters vermocht hatten, das brachte der hilflose, beinahe flehende Ausdruck auf Großmutters seltsam gealtertem Gesicht hervor; Myntje zauderte einen Augenblick. Es fehlte nicht viel, und sie wäre der lieben Großmutter in die Arme geflogen mit den Worten: »Ich gehe nicht fort! Ich kann nicht! Ich bleibe bei dir!«

Aber selbst bei dieser ernsten Mahnung schwieg die unverschämte Stimme des Hochmuts nicht, die ihr zuraunte: »Benimm dich doch nicht so lächerlich kindisch vor Jenny Davids und Frau Nielsen! Denk an deinen Hut und dein Kostüm für 65 Gulden.«

Und Myntje gab der falschen Lockung Gehör. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und war schnell in den bereitstehenden Wagen gestiegen, der sie ins nächste Städtchen bringen sollte. Ehe der Wagen um die Ecke gebogen war, hatte Myntje noch durchs Fenster gesehen, wie der Großvater seine schluchzende Frau liebevoll ins Haus führte und die Tür schloß.

Das war das letzte, das allerletzte gewesen.

Anfangs hatte das Neue des Reisens Myntje etwas abgelenkt. Als die Fahrt anfing, langweilig zu werden, kehrten die quälenden Gedanken zurück. Das tränennasse Gesicht der Großmutter sah sie aus allen Winkeln des Abteils und aus allen vorbeisausenden Gegenden an. Ihre Gedanken flogen zurück ins einfache Häuschen, und sie stellte sich vor, wie die Großmutter im Lehnsessel saß und der Großvater vor ihr mit zitternder Stimme einen Psalm aus der großen, abgegriffenen Bibel las.

Und wer war die Ursache der Seelenschmerzen dieses Greisenpaares? War sie es nicht, ihre Enkelin, der einzige Gegenstand ihrer Liebe und Sorge? Hätte sie nicht tun müssen, was in ihren Kräften stand, um den Lebensabend dieser treuen Großeltern zu verschönen? Und wäre das für sie wohl so schwer gewesen, für sie, die Vorzüge besaß, um die andere Mädchen ihrer Umgebung sie beneidet hatten? War nicht jede Klage ihrer Großeltern eine Anklage gegen sie bei Gott?

Alle diese Fragen quälten Myntjes Gewissen und verdarben ihr den Genuß der Reise, auf die sie sich so gefreut hatte. Nun fühlte sie sich unglücklich, einsam, ja selbst schlecht. Als sie die Bahnhofshalle verließ, sah sie mit Heimweh im Herzen nach der Lokomotive, die bald den Zug nach dem Süden zurückbringen würde. Am liebsten wäre sie sofort wieder eingestiegen und mit dem Bekenntnis »Ich habe gesündigt gegen den Himmel und gegen euch« in die friedliche Wohnung ihrer betrübten Großeltern zurückgekehrt. Aber das konnte sie doch nicht. Was würden die Leute reden! Und dann waren ja die Schulden bei Jenny Davids! Nein, nein! Nun gab es kein Zurück mehr! Nun mußte sie auf dem eingeschlagenen Weg weiter, ob sie wollte oder nicht!

In dieser Stimmung ging Myntje durch die Bahnsperre dem Ausgang zu, wo die Tochter von Frau Nielsen sie erwarten sollte.

Gestern hatte sie noch eine Karte von Frau Nielsen mit der Mitteilung bekommen, daß sie selbst nicht aus dem Geschäft fort könne, daß sie aber ihre Tochter zum Bahnhof senden werde. Diese habe ein grünes Kostüm mit weißem Ausputz an, und in der einen Hand trage sie einen gelben Sonnenschirm, in der andern ein Taschentuch. Nach diesen Kennzeichen solle Myntje suchen.

Nun blickte sie sich nach allen Seiten um, aber nirgends sah sie eine Dame, die auf die Beschreibung von Frau Nielsen paßte.

Myntje beschloß zu warten, denn sie konnte sich nicht vorstellen, daß anständige Leute ein Mädchen, das wildfremd in Amsterdam ankommt und eine Stellung bei ihnen antreten wollte, seinem Schicksal überließen.

Sie setzte ihr Gepäck auf den Boden und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Es war ihr ängstlich zumute in dieser fremden, lärmenden Umgebung.

»Sie sind wohl fremd hier, Fräulein? Kann ich Ihnen vielleicht helfen?« Mit dieser Frage trat eine ältere Dame auf sie zu, die ein ovales Schildchen auf der Brust trug mit der Aufschrift: »Schutz für junge Mädchen.« Die freundliche Stimme und das wohlwollende Gesicht der Dame flößten Myntje Vertrauen ein, und ohne Zögern erzählte sie, daß sie auf jemand warte, der sie abholen sollte und nicht gekommen sei.

»Darf ich fragen, ob Sie die Dame kennen, die Sie abholen soll?«

»Ich kenne sie nicht persönlich«, antwortete Myntje. »Ich soll hier einen Kursus im Putzfach bei Frau Nielsen durchmachen, und die Tochter sollte mich bei Ankunft des Zuges auf dem Bahnhof erwarten. Aber ich sehe niemand, auf den die Beschreibung paßt, die mir Frau Nielsen gegeben hat.«

»Das ist merkwürdig. Und Sie haben doch genau geschrieben, mit welchem Zug Sie ankommen?«

»Gewiß! Frau Nielsen hat mir selbst diesen Zug angegeben.«

»Nielsen! Nielsen!« sagte die Dame von der Bahnhofsmission nachdenklich. »Es ist mir, als ob ich den Namen schon öfter gehört habe. Wo wohnt Frau Nielsen?«

»In der Govert-Flink-Straße Nr. ...«

»Aber dann hätten Sie doch besser getan, an der vorigen Station auszusteigen?«

»Ja, aber Frau Nielsen gab mir den Rat, bis zum Hauptbahnhof zu fahren, weil ihre Tochter gerade in dieser Gegend eine Besorgung zu machen habe und es deshalb für sie bequemer sei, mich von hier abzuholen.«

»Gut«, sagte die Dame und zog ein Notizbuch aus der Tasche. »Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich Ihren Namen und Ihre zukünftige Adresse aufschreibe? Es könnte doch möglich sein, daß es Ihnen bei Frau Nielsen nicht gefiele oder Sie in irgendeiner Weise Rat brauchten. Dann ist es gut, daß wir einander kennen und Sie wissen, wohin Sie sich wenden können. Ich gebe Ihnen diese Karte mit meinem Namen und meiner Adresse, und auf dieser andern Karte steht, wo Sie Ihre freien Stunden in fröhlicher, angenehmer Weise zubringen können. Ein Mädchen, das vom Lande kommt und das Großstadtleben nicht kennt ...«

»Sie sind vielleicht Fräulein Kollart?« Mit dieser Frage schoß eine etwa zweiundzwanzigjährige Dame auf Myntje zu. Sie hatte ein sehr elegantes grünes Kostüm an, hielt in der einen Hand einen gelben Sonnenschirm und fächelte sich mit einem Spitzentaschentuch Kühlung zu.

»Ich dachte es mir«, fuhr sie nach Myntjes bejahender Antwort fort. »Mein Name ist Antonie Nielsen. Wie bin ich gelaufen! Bei den vielen Gängen, die ich hatte, war es mir unmöglich, rechtzeitig hier zu sein. Ist das Ihr Gepäck? Ich will einen Dienstmann rufen, der es nach Hause bringen kann. Behend eilte sie mit tänzelndem Schritt davon.

Die Dame von der Stadtmission hatte wohl bemerkt, wie Antonie sie absichtlich übersehen und einen spöttischen Blick auf ihr Abzeichen geworfen hatte. Sie gab sich den Anschein, nichts zu bemerken, benützte aber die kurze Abwesenheit der aufgeputzten Modistin, um Myntje zuzuflüstern: »Geben Sie acht, daß Sie nicht in leichtsinnige Gesellschaft geraten. Die Dame gefällt mir nicht. Wenden Sie sich ungeniert an uns, wenn Sie des Rats oder der Hilfe bedürfen. Sie haben ja meine Adresse. Leben Sie wohl, Fräulein! Gott sei mit Ihnen!« Und mit einem freundlichen Kopfnicken eilte sie davon. Gleich darauf kam Antonie Nielsen mit einem Dienstmann zurück, der Koffer und Hutschachtel an ihren Bestimmungsort brachte.

»Das ist in Ordnung«, sagte Antonie. »Jetzt gehen wir an den Damm und nehmen von dort aus die elektrische Straßenbahn.«

»Was hatten Sie mit der Person zu schaffen?« fuhr sie fort, als sie den Bahnhof verlassen hatten.

»Sie sprach mich an und fragte mich, ob ich auf jemand warte«, antwortete Myntje verlegen.

»Und sicher hat sie auch gefragt, wo Sie hingehen, nicht wahr? Was haben Sie geantwortet?« Dabei ruhten Antoniens Augen mit Spannung auf Myntjes Gesicht und flammten zornig auf, als diese eine bejahende Antwort gab.

»Geben Sie sich um alles nicht mit solchen Leuten ab«, fuhr Antonie auf. »Nachdem sie nun wissen, wo Sie wohnen, werden wir sie alle Augenblicke an der Tür haben, um Sie nach ihren Vereinchen und Versammlungen zu locken und Ihnen in allen Tonarten zu erklären, wie sündig ein vergängliches Leben sei. Bitte, halten Sie sich diese Sorte vom Leibe, und schütteln Sie diese Leute bei ihrem ersten Besuch so ab, daß ihnen das Wiederkommen vergeht. Denn ... ich hoffe doch, daß Sie nicht etwa zu den Frommen gehören, oder ...?«

»Ich ... o nein!« antwortete Myntje, die den boshaften, spöttischen Blick ihrer künftigen Hausgenossin auf sich ruhen fühlte und wohl wußte, daß es von ihrer Antwort abhing, wie diese sich künftig zu ihr stellte.

»Ich dachte es wohl! Sehen Sie, hier ist das königliche Palais, vor dem die Wache steht, und hier ist die Straßenbahn.«

Mit lautem Geklingel sausten die Elektrischen aneinander vorbei, und in eine stiegen die beiden jungen Mädchen. Während der langen Fahrt sprachen sie nur wenig miteinander. Durch das Getriebe um sie her war Myntje noch banger zumute geworden als beim Aussteigen aus dem Zuge am Bahnhof.

Das Schlimmste aber war, daß sie, seitdem das unheilvolle »Nein« über ihre Lippen gekommen war, als Antwort auf Antoniens spöttische Frage, ob sie etwa auch zu den Frommen gehöre, wieder überall das leidvolle Gesicht der Großmutter sah, und es schien ihr, als ob die Schmerzensfurchen aus dem alten, lieben Antlitz noch tiefer wären als vorher.

»Hier haben wir den Govert Flink!« rief Antonie. Beide Mädchen stiegen nun aus und gingen in die lange, enge Govert-Flink-Straße.

Gerade wurden die ersten Gaslaternen angezündet, und aus den Fenstern fiel da und dort Licht auf die Straßen, als Antonie an einer Haustür läutete und ein älteres Dienstmädchen öffnete.

»Sag' Mutter, daß wir hier sind, Betje«, befahl die Tochter des Hauses, indem sie Myntje in ein kleines Zimmer führte. »Dies ist unser Empfangszimmerchen«, erklärte sie der neuen Hausgenossin, während sie die schweren Gardinen zuzog und die Gaslampe anzündete.

Myntje befand sich in einem geschmackvoll eingerichteten Zimmer. Der eichene Tisch mit gleichen Stühlen und Büfett, der schöne Teppich mit dazu passenden Fußkissen, dazu die gut gewählte Tapete und einige in eichene Leisten eingerahmte Gemälde gaben davon Zeugnis, daß Frau Nielsen einen hervorragend guten Geschmack hatte. Eine moderne Uhr stand auf dem schwarz-marmornen Kaminsims unter einem fein geschliffenen Spiegel. Eine Säule mit einer Büste, ein Tischchen mit einigen kleinen Kunstgegenständen, ein zierlicher Gasofen und einige Sessel vervollständigten die Einrichtung.

Myntje sah verwundert um sich, während ihr unwillkürlich die Worte entfuhren: »O wie schön ist es hier!«

Wieder flog ein spöttischer Ausdruck über Antoniens Gesicht. Ehe sie aber antworten konnte, ging die Tür auf, und Frau Nielsen trat ins Zimmer.

»Guten Abend, junge Damen!« sagte sie mit wohlklingender Stimme. »Willkommen in Amsterdam, Fräulein Kollart! Ich freue mich, daß ihr euch getroffen habt. Aber ihr konntet euch ja auch nicht verfehlen, da Antonie auf dem Bahnsteig stand. Die halbe Stunde, die du warten mußtest, wird dir lang geworden sein, nicht wahr, Kind?«

Die letzte Frage war an Antonie gerichtet, die mit einem ängstlichen Blick auf Myntje antwortete: »Ach nein, es war zum Aushalten.«

»Um so besser. Aber wie bleich sehen Sie aus, Fräulein Kollart! Sie scheinen sehr müde zu sein?«

»Ich habe starke Kopfschmerzen, Frau Nielsen«, antwortete Myntje.

»Dann ist es wohl am besten, wenn Sie heute bald zur Ruhe gehen. Wenn Sie gut geschlafen haben, werden Sie sich wieder wohl fühlen. Ich habe das Mädchen beauftragt, das Mittagessen für Sie warmzuhalten. Wenn es Ihnen angenehm ist, essen Sie zuerst im Speisezimmer, und dann soll Betje Sie in Ihr Zimmer führen. Morgen früh um halb neun Uhr erwarte ich Sie zum Frühstück. Vor einer Stunde sind zwei Pakete für Sie gekommen, die ich in Ihr Zimmer habe stellen lassen. Sie sind von Fräulein Davids aus Th. gesandt, unserem früheren Lehrmädchen. Blüht ihr Geschäft noch immer?«

»Ich glaube, sie ist sehr zufrieden.«

»Gut, das freut mich zu hören. Aber nun sorgen Sie, Fräulein Kollart, daß Sie bald zur Ruhe kommen. Nur eines möchte ich noch fragen: Ihre Großeltern sind doch wohl einverstanden gewesen, daß Sie sie an ihrem Lebensabend verlassen?«

Forschend und ernst ruhten dabei Frau Nielsens dunkle Augen auf Myntje, die dunkelrot wurde, als sie antwortete: »Gewiß, Frau Nielsen.«

Frau Nielsen blieb einen Augenblick an der Tür stehen, und auf ihrem bleichen, strengen Gesicht, das den Stempel eines Lebens voll Kampf und Schwierigkeiten trug, lag ein gewisses Mißtrauen, als sie nachdenklich sagte: »Es muß den alten Leutchen schwer gefallen sein, Sie ziehen zu lassen. Vergessen Sie nicht, ihnen oft zu schreiben. Kinder denken oft nicht daran, was sie ihren Eltern schuldig sind.« Sie seufzte bei diesen letzten Worten und fuhr fort: »Ich denke natürlich nicht daran, Sie zu beschuldigen; aber das Leben macht in dieser Beziehung so reich an traurigen Erfahrungen. – Nun, Antonie, zeige dem Fräulein den Weg zum Eßzimmer. Ich muß wieder an meine Arbeit gehen. Wohl zu ruhen, Fräulein Kollart!«

Nachdem Myntje den Gruß erwidert hatte, verschwand die alte Dame, deren große, vornehme Erscheinung etwas Ehrfurchtgebietendes hatte. Myntje stand ganz unter dem Eindruck ihrer Persönlichkeit, während sie Antonie ins Eßzimmer folgte.


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