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Der Wind war beinahe zum Sturm geworden und fegte die regenschwarzen Wolken vor sich her. Kein Stern zeigte sich am Himmel. Nur ab und zu, wenn zwischen den Wollen ein kleiner Spalt entstand, warf der Mond einen Augenblick seine bleichen Strahlen auf die Erde nieder.
Tief in seinem Mantelkragen steckend, mit beiden Händen seine Mütze festhaltend, stand der Stationsvorstand auf einer kleinen Station vor Paris und sah in die Richtung, von welcher der Zug erwartet wurde. In weiter Ferne entdeckte man zwei Lichtpunkte, die Laternen der nahenden Lokomotive.
Einige Schritte vom Vorstand entfernt stand ein Kutscher mit der Peitsche in der Hand. Von Zeit zu Zeit schaute er sich um nach seinen zwei Pferden, die vor einen geschlossenen Wagen gespannt waren und zu träumen schienen.
»Schlecht Wetter, Vorstand«, sagte er.
»Sehr schlecht, der Wind geht einem durch und durch«, antwortete dieser. »Müssen Sie noch Reisende abholen?«
»Ja, einen Herrn und eine Dame. Ich verstehe nicht, was die Leute plagt, in einem Wagen nach Paris zu fahren, statt im Zug sitzen zu bleiben.«
»Es gibt merkwürdige Liebhabereien«, meinte der Vorstand. »Vielleicht haben sie besondere Gründe, um hier auszusteigen. Haben sie um einen Wagen telegraphiert?«
»Ja.«
»Nun kommt der Zug. Guten Abend.«
»Guten Abend.«
Der Zug fuhr ein und stand mit einem Ruck still. Nur ein Abteil wurde durch den Schaffner geöffnet. Ein Herr und eine Dame stiegen aus, die beide nach ihren Hüten griffen, als sie auf dem windigen Bahnsteig standen.
Der Kutscher war an die Fremden herangetreten. »Ich bin der Kutscher, mein Herr.«
»Gut«, lautete die Antwort. »Wieviel Zeit brauchen Sie, um uns in die rue de l'Etoile zu fahren?«
»Zwei Stunden ungefähr.«
»Ein Frank Trinkgeld für jede fünf Minuten, die Sie früher ankommen!« sagte van der Griend.
Der Kutscher schmunzelte, während er den Wagenschlag öffnete und der Dame beim Einsteigen behilflich war.
»Sie werden mit mir zufrieden sein, mein Herr«, versicherte er, schwang sich flugs auf den Bock, knallte mit der Peitsche, und fort schoß der Wagen, die dunkle Landstraße entlang.
Fröstelnd lehnte sich Myntje Kollart zurück und schloß die Augen. Es war ihr unbeschreiblich ängstlich zumute. Bis mittags war alles gut gegangen. Sie hatte die Reise durch Belgien und die Besichtigung Antwerpens außerordentlich genossen. Aber plötzlich hatte sich ihr Reisegefährte sehr merkwürdig benommen. Er wollte absolut, daß sie ebensoviel Champagner trank wie er, und als sie das nicht wollte, war er böse geworden. »Zieren Sie sich doch nicht!« hatte er ausgerufen. »Alle Französinnen trinken mit den Herren in den Kaffehäusern, das ist in Frankreich Sitte.« Als aber Myntje bei ihrer Weigerung blieb, zeigte er sich kühl und kurz angebunden, was sie sehr wunderte, weil er in Amsterdam so artig und zuvorkommend gewesen war. Er hatte während der ganzen langen Reise keine zehn Worte gesprochen und ihr nur gesagt, daß sie hier auf der kleinen Station aussteigen würden. Myntje fragte sich, was das zu bedeuten hatte. War er ihrer am Ende plötzlich überdrüssig geworden und das nur, weil sie kein drittes Glas Champagner trinken wollte? Oder hatte er einen andern Grund, daß er plötzlich bereute, sie mitgenommen zu haben? Myntje fand keine Erklärung; aber sie fühlte sich unsagbar einsam in der fremden Umgebung, wo sie keinen Menschen verstand und hilflos van der Griend preisgegeben war. Schon im Zuge war ihr so bang gewesen und nun erst recht in dem engen, dunklen Wagen, dessen flackernde Laternen wie phantastische Lichter gespensterhaft den Weg beleuchteten. Der fürchterliche Sturm rüttelte am Wagenschlag und drohte alle Augenblicke die Lichter zu löschen. Unwillkürlich kam ihr eine Geschichte in den Sinn, die sie einmal gelesen hatte. Eine gotische Fürstin war durch ihre Erzfeindin lange Zeit in einer alten Burg gefangen gehalten worden und erwartete jeden Augenblick ihr Todesurteil. Eines Tages riet ihr ein Diener, der ihr volles Vertrauen besaß, in der folgenden Nacht zu fliehen. Er hatte alles vorbereitet. Ein Wagen mit schnellen Pferden sollte sie zur verabredeten Zeit vor dem Tore erwarten, um sie so rasch als möglich aus dem Bereich ihrer Feindin zu bringen. Die Gefangene hatte nur ihrem Beschützer zu folgen und in den Wagen zu steigen, dann war sie in Sicherheit. Felsenfest auf die gute Absicht ihres Ratgebers vertrauend, nahm die Fürstin den Vorschlag an. Mit Hilfe einer bestochenen Wache entkam sie ihrem Gefängnis und erreichte den Wagen, der sich alsbald in Bewegung setzte. Es tobte ein entsetzlicher Sturm, und nur ab und zu erhellte ein fahler Blitz das tiefe Dunkel. Einmal war es der Flüchtigen, als ob sie bei einer solch plötzlichen Helle unter dem Helm eines der beiden Reiter, die ihren Wagen begleiteten, das Gesicht ihrer Todfeindin erkannt hätte. Aber sie wappnete sich innerlich gegen die Furcht und lachte über sich selbst. Nach einer mehrstündigen Fahrt hielt der Wagen vor einer alten Burg, die, wie man ihr sagte, einem befreundeten Ritter gehören sollte. Dort wollte man, um die Pferde etwas ruhen zu lassen, einige Stunden rasten. Um sich zu erfrischen, beschloß die Fürstin, in dem großartig eingerichteten Bassin ein Bad zu nehmen. Kaum befand sich die Unglückliche darin, so entdeckte sie zu ihrem unbeschreiblichen Schrecken an einem Fenster hoch oben in der Mauer wirklich ihre Widersacherin, die mit teuflischem Lachen auf sie niedersah. Die Fürstin wollte fliehen; aber eine verräterische Hand hatte hinter ihr die Türe zugeschlossen, so daß sie bleiben mußte, wo sie war. Plötzlich öffneten sich alle Fontänen, die in dem Baderaum waren, und überall schossen dicke Wasserstrahlen empor, so daß sich das Bassin erschreckend schnell füllte. Nun wurde der Fürstin alles klar. Die Flucht war nur eine List ihrer Feindin gewesen. Hier in dem Raume mit wasserdichten Mauern sollte sie unter den Augen ihrer grausamen Verfolgerin langsam ertrinken. Um dem Spott ihrer Feindin möglichst schnell zu entgehen, stürzte sie sich mit einem Sprung mitten in das Bassin, wo sie versank, ohne wieder in die Höhe zu kommen.
Diese Erzählung schoß Myntje durch den Kopf, während sie neben dem finster schweigenden van der Griend in dem Wagen saß, der sie nach Paris bringen sollte, nach dem unbekannten Paris mit seiner Pracht und seinem Elend, mit seinen Bildungsstätten und seinen Lasterhöhlen. Ach, wenn sie nicht so abhängig von dem Manne gewesen wäre und das nötige Geld bei sich gehabt hätte, wäre es ihr nicht eingefallen, sich so von ihm behandeln zu lassen. War dieser finstere, wortkarge Mann wirklich van der Griend, der in Amsterdam immer so höflich und zuvorkommend gewesen war? Was hätte sie darum gegeben, wenn sie ihm hätte den Rücken kehren und allein nach Ondoliet hätte reisen können. Zum ersten Male wurde ihr klar, daß ihr Geldgeber Gewalt über sie hatte und sie gezwungen war, sich unter seinen Willen zu beugen. Myntje Kollart mußte sich auf die Lippen beißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Im Zuge hatte sich van der Griend den Anschein gegeben, als ob er schlafe, aber Myntje hatte wohl bemerkt, daß dem nicht so war. Von Zeit zu Zeit hatte er die Augen geöffnet und verstohlen nach ihr gesehen, besonders wenn der Zug auf den Zwischenstationen hielt. Unmittelbar vor der letzten Station war er plötzlich aufgesprungen und hatte zu ihr gesagt: »Machen Sie sich fertig, wir fahren von hier ab mit dem Wagen!« Verwundert und erschreckt hatte Myntje ihn angestarrt. Er hatte den letzten Teil der Reise geregelt, ohne sie auch nur zu fragen, und jetzt befahl er ihr direkt, auszusteigen und ihm in den Wagen zu folgen.
Sie sah ein, daß sie nichts machen konnte und hatte seufzend und mit feuchten Augen ihre Sachen zusammengepackt. Auf dem zugigen Bahnsteig hatte der Wind sie beinahe umgeworfen, und in dem entsetzlich dunkeln Wagen mußte sie an die unselige, nächtliche Fahrt der armen Gotenfürstin denken. In ihrer aufgeregten Phantasie fand sie so viel Aehnlichkeit zwischen dem Abenteuer der Fürstin und ihrer eigenen Fahrt, daß ihr trotz der strengen Kälte der Angstschweiß ausbrach, während sie sich möglichst fern von van der Griend in die Kissen drückte.
Die Stimme ihres Reisegenossen schreckte sie plötzlich auf. »Kommen Sie«, sagte er, eine kleine Feldflasche hervorholend, »wir wollen nicht mehr länger grollend nebeneinander sitzen. So dürfen wir doch nicht bei meiner Mutter ankommen. Kommen Sie, Fräulein Kollart, wir wollen auf ewige Freundschaft anstoßen. Verzeihen Sie mir meine Launenhaftigkeit. Ich meine es nicht so schlimm, und mein Zorn verraucht immer schnell. Bitte, verzeihen Sie also.« Damit reichte er ihr ein mit Kognak gefülltes Becherchen.
Einen Augenblick zögerte Myntje, aber dann freute sie sich über van der Griends Versöhnungsanerbieten, nahm den Becher und leerte ihn in einem Zug.
»So ist's recht«, sagte van der Griend fröhlich, »und nun ist alles wieder in Ordnung«. Er füllte anscheinend aufs neue den kleinen Becher, führte ihn seinerseits zum Munde und wischte sich dann die Lippen. Wenn Licht im Wagen gewesen wäre, hätte Myntje gesehen, daß der Becher leer und kein Tropfen Kognak über van der Griends Lippen gekommen war.
»Nun sind wir in einer Vorstadt von Paris«, erklärte er, indem er auf einige unansehnliche Häuser deutete. »Hier gibt es nicht viel Schönes zu sehen, aber bald kommen wir in einen schöneren, belebteren Stadtteil. In einer halben Stunde sind wir mitten in der Großstadt.«
Während van der Griend fortfuhr, von den Herrlichkeiten von Paris zu erzählen, wurde es Myntje immer sonderbarer zumute. Es war ihr, als ob sich alles um sie her im Kreise drehte, als ob sich der Wagen auf und nieder bewegte wie ein Boot in den Wellen. Ein unwiderstehliches Verlangen zu schlafen überfiel sie, das mit jeder Minute ärger würde, so sehr sie auch dagegen kämpfte. Sie biß sich auf die Zunge, kniff sich in die Arme, roch an ihrem mit Kölnisch Wasser getränkten Taschentuch, – es war alles vergebens. Ihre Augenlider wurden immer schwerer, und doch hatte sie das Gefühl, sie dürfe nicht schlafen, aus Angst, van der Griend könne ihr vielleicht ein Schlafmittel gegeben haben. Trotz allem verwirrten sich ihre Gedanken, sie fiel in die Kissen zurück und schlief ein.
Van der Griend beugte sich über sein Opfer und hob ihre Augenlider; aber sie fielen gleich wieder zu, ohne daß das unglückliche Mädchen erwacht wäre.
»Ha, nun ist das Spiel gewonnen!« rief der Schurke. »Andrée kann sie in Empfang nehmen, sie auf ein Sofa tragen und mit ihr tun, was er will, ohne daß sie erwacht. Du hast van der Griend zum letzten Male in deinem Leben gesehen, mein Täubchen, aber auch Ondoliet und deine frommen Großeltern. Ich habe das Meine getan, alles andere wird Andrée besorgen. Halt, da ist die rue de l'Etoile!«
Der Wagen hielt vor einem großen Gebäude mit dicht verhangenen Fenstern und einer roten Laterne vor der Tür. Sobald das Rollen der Räder verstummte, trat ein Mann aus dem Hause, machte den Wagenschlag auf und reichte van der Griend die Hand. »Guten Abend!« sagte er. »Ich gratuliere. Gib sie heraus.«
»Guten Abend, Andrée!« antwortete van der Griend. »Kannst du sie herausheben? Ach, Kutscher, helfen Sie, bitte, die Dame heraustragen, sie ist krank geworden.«
Eben wollte der Kutscher vom Bock springen, als aus der dunklen Toreinfahrt des Nebenhauses ein schlanker, junger Mann vortrat und mit gebietender Stimme »Sitzen bleiben!« rief. Zugleich schlug er seinen Mantel zurück und entpuppte sich als Polizeibeamter.
Andrée stieß einen Fluch aus und machte eine Bewegung, als wolle er dem Polizisten an die Kehle springen; aber ein Schlag warf ihn taumelnd zu Boden, und ehe er sich wieder aufrichten konnte, waren ihm Handfesseln angelegt. Brüllend wie ein wildes Tier wälzte er sich auf der Erde.
Als van der Griend, der, in den Armen Myntje Kollart haltend, im Wagen stand, gewahr wurde, was vorging, wußte er, daß alles verloren war. Auf seine eigene Rettung bedacht, ließ er das Mädchen auf den Boden gleiten und öffnete den entgegengesetzten Wagenschlag, aber es war schon zu spät. Auch dort stand schon ein Polizist, während sich ein dritter vor den Wagen gestellt und die Pferde am Zaum gepackt hatte. Van der Griend mußte einsehen, daß an Flucht nicht mehr zu denken war, so setzte er sich ruhig hin und wartete mit scheinbar gleichgültigem Gesicht ab, was weiter geschehen würde.
Der Polizeioffizier tat einen schrillen Pfiff, und sofort erschienen nacheinander drei weitere Polizeibeamte, die grüßten und nach den Befehlen ihres Vorgesetzten fragten.
»Einer von euch holt einen Wagen, und die beiden andern legen diesem Schurken Handschellen an.« Dabei deutete er auf van der Griend, der bald ebenso gesichert war wie Andrée.
Als der zweite Wagen zur Stelle war, hoben zwei Mann Myntje aus der Kutsche, in der van der Griend war, und trugen sie in die andere. Andrée mußte sich neben seinen Freund setzen, und dann fuhren beide Wagen nach dem Polizeibüro.
Van der Griend hatte das Spiel verloren. Er war unschädlich gemacht, so wie Landhuis es gewünscht hatte.