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Eine Schlittenfahrt

Es war ein schöner Winternachmittag. Der Schnee glitzerte im Lichte der matten Sonnenstrahlen und belebte die sonst so dürren, toten Bäume und Sträucher. Tausende von Spaziergängern bewegten sich auf den Wegen zu den bekannten Ausflugsstätten, ab und zu den Schlitten ausweichend, die überall ihr fröhliches Schellengeläut hören ließen.

In einem dieser Schlitten, der von zwei mit bunten Federn und vergoldeten Schellen geschmückten Pferden gezogen wurde, saßen zwei Damen und zwei Herren, Antonie und Myntje, ein Student der Medizin und van der Griend. Es war nicht das erstemal, daß die vier zusammen waren. Allgemein war es bekannt, daß Antonie und Hofmann zusammen gingen. Alle, die Hofmann näher kannten, verwunderten sich nicht, daß Frau Nielsen ihrer Tochter den Umgang mit ihm verboten hatte. Alle Freunde hatten sich von Hofmann wegen seines schlechten Lebenswandels zurückgezogen, und auch das Studentenkorps hatte ihn ausgeschlossen. Die wenigen, die noch ab und zu mit ihm verkehrten, taten es nur, weil seine Geldmittel unerschöpflich schienen. Im Grund mochte ihn aber niemand.

Warum zog sich Antonie nicht zurück? Die Antwort gaben sich Antoniens Bekannte flüsternd. Frau Nielsens Mittel genügten längst nicht, um Antonie diese Kostüme, Pelze und Schmucksachen zu kaufen, und alle Bewohner der Govert-Flink-Straße wußten, daß es unerquickliche Auftritte zwischen Mutter und Tochter gab, so oft ein neues Kleid oder dergleichen im Hause abgegeben wurde.

Fröhlich flogen die hübschen Pferde mit dem leichten Schlitten Overtoom zu.

Van der Griend beugte sich zu Myntje nieder und sagte: »Ich habe ganz vergessen zu fragen, wie Sie sich letzten Montag unterhalten haben? Nicht wahr, es war Ihr erster Ball. Waren Sie nicht zu müde?«

»O nein«, antwortete Myntje. »Ich habe keine Müdigkeit gespürt; man wird doch nicht müde, besonders wenn man mit Ihnen tanzt.«

»Fräulein, wenn der Raum es erlaubte, würde ich Ihnen eine Verbeugung machen. Sie dürfen mir aber nicht schmeicheln. Erstens habe ich das Kompliment nicht verdient, und zweitens könnte ich leicht durch solche Huld verwöhnt werden.«

»Verwöhnt werden!« rief Hofmann. »Aber, guter Herr, Sie können ja gar nicht verwöhnter werden.«

»Hört doch auf mit dem Gerede«, brummte Antonie. »Mir wird ganz ungemütlich dabei.«

»Es ist wahr«, rief Hofmann. »Erzählen Sie mir lieber, wie Ihnen Ihre neue Boa gefällt?«

»Sehr gut; nur finde ich, daß der Muff nicht dazu paßt«, antwortete Antonie.

»Dann fahren wir einfach bei Tiesmann vorbei, und Sie wählen sich einen Muff nach Ihrem Geschmack.«

Van der Griend schlug mit der Faust auf die Bank, daß es dröhnte. »Man will uns übertrumpfen, Fräulein Myntje«, rief er. »Aber das lassen wir nicht zu. Sie wählen sich bei Tiesmann eine Boa und einen Muff; es mag kosten, was es will, ich schenke es Ihnen.«

»Aber, Herr van der Griend!« bemerkte Myntje mit vor Begehrlichkeit funkelnden Augen.« »Erst letzte Woche gaben Sie mir ...?«

»Pst«, unterbrach sie van der Griend. »Keine alten Geschichten aufwärmen. Ich bestehe daraus, daß Sie tun, was ich will. Es kommt mir auf eine Note von fünfundzwanzig Gulden nicht an. Also vorwärts, Kutscher, nach der Neuen Dyk zu Tiesmann!«

Während der Fahrt sprach Myntje nur wenig, nicht etwa, weil sie sich in der Gesellschaft nicht wohl fühlte. O nein. Sie kannte van der Griend schon lange, und wenn ihr auch manches an ihm nicht gefiel, so wunderte sie sich doch immer wieder über sein gutes Herz. Wie oft sprach er mit bettelnden Kindern, fragte sie, ob sie Hunger hätten, und steckte ihnen ein Geldstück in die mageren, schmutzigen Händchen. An einem Sonntag hatte er auch vorgeschlagen, daß sie zusammen in die Kirche gehen sollten, und als Fritz zu spotten anfing, erklärte er, daß er sich nicht schäme, zu bekennen, daß er fromme Eltern habe. Er bedaure oft, daß er nicht glauben könne.

Alles dies bewies nach Myntjes Meinung, daß in dem Mann ein edler Kern verborgen war und niemand sich seiner Gesellschaft zu schämen brauchte. Sie hatte schon sagen hören, daß die leichtsinnigsten Studenten oft Blüten der Wissenschaft wurden.

Nein, Myntjes Verstimmung hatte eine ganz andere Ursache. Sie hatte am Tage vorher einen ziemlich unfreundlichen Brief von Jenny Davids empfangen, in dem diese die Bezahlung ihrer Schuld von fünfundsechzig Gulden forderte. »Ich habe Dich bisher nicht gedrängt«, schrieb Jenny, »weil ich glaubte, daß Du das Geld nicht habest. Da ich aber nun höre, daß Du allerlei große Ausgaben machst, fühle ich mich nicht verpflichtet, länger auf mein Geld zu warten. Ich lasse Dir nun einen Postauftrag zugehen, und wenn Du ihn nicht einlösest, muß ich Deine Großeltern um Begleichung der Schuld bitten.«

Woher wußte Jenny, daß Myntje große Ausgaben, oder richtiger, ansehnliche Schulden machte. Warum war sie auf einmal so unfreundlich und wollte plötzlich bezahlt sein? Unwillkürlich kam Myntje auf den Gedanken, daß niemand anderes als Antonie sie verraten haben könne.

Augenblicklich war das Nebensache. Vor allem mußte sie suchen, Geld zu bekommen. Der Postauftrag durfte nicht an ihre Großeltern gehen. Sie konnte sich nicht ausdenken, was geschehen würde, wenn die armen Alten solch ein Papier zugestellt bekämen. Schon manchmal hatte sie die Güte van der Griends bewundert. Und als er sich auf der Schlittenfahrt wieder so königlich freigebig benahm, flog ihr der Gedanke durch den Sinn, ob er nicht etwa ihr Retter aus der Not sein könnte. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß er ihr das Geld leihen würde, aber sie konnte sich nicht entschließen, ihn zu bitten. Es kam ihr demütigend vor, einem verhältnismäßig Fremden ihre Verhältnisse zu offenbaren, während sie instinktiv ahnte, daß van der Griends Aushilfe möglicherweise schlimme Folgen haben könnte. Andrerseits mußte Hilfe gefunden werden, denn die Not drängte. Kein Wunder, daß Myntje wie geistesabwesend im Schlitten saß.

Antonie war die erste, die es merkte. »Sag', Myntje, schwebst du in höheren Sphären?« fragte sie, Myntje anstoßend. Diese schrak zusammen. »Meinen Sie mich?« fragte sie sichtlich verstört.

»Fräulein Kollart denkt über ihre Seele nach«, rief Hofmann. »Damen frommer Herkunft tun das zuweilen. Sind Sie bange um Ihr Seelenheil, Fräulein?«

»Halten Sie den Mund!« rief van der Griend. »Sie sollten sich schämen, die Prinzipien anderer ins Lächerliche zu ziehen. Ich finde es grob und unritterlich, eine Dame zu belästigen. Ich ersuche Sie, sich zurückzuhalten.«

Hofmann fuhr in die Höhe, und es war gut, daß eben der Schlitten vor dem Pelzgeschäft hielt, sonst hätte es zu einem ernsten Konflikt zwischen den beiden Männern kommen können.

Van der Griend hatte schnell seine Fassung wiedergewonnen und half Myntje zuvorkommend aus dem Schlitten. Hofmann und Antonie begaben sich ans andere Ende des Ladens, und Antonie hatte gar bald ihre Wahl getroffen. Einen Augenblick flüsterten sie miteinander, dann trat Hofmann an van der Griend heran und erklärte, daß seine Dame und er auf eine Fortsetzung der Schlittenfahrt verzichteten. Sich steif vor Myntje verbeugend, ging er an die Kasse, um zu bezahlen und verließ mit Antonie den Laden, ohne daß diese sich auch nur nach Myntje umgesehen hätte.

Myntje war nicht so schnell mit ihrer Wahl fertig. Als sie endlich schlüssig geworden war, warf van der Griend mit der gleichgültigsten Miene einen Schein von zweihundert Gulden auf den Kassatisch und strich, ohne nachzählen, die zurückgegebenen hundertachtzig Gulden in seine Brieftasche. Wer ihn aufmerksam beobachtete, hätte sehen können, wie er heimlich Myntje im Auge behielt und ein fast unsichtbares Lächeln seine Lippen kräuselte, als er sah, wie das Mädchen verwundert all das Geld betrachtete.

»Sie waren aber sehr bescheiden, Fräulein Kollart«, sagte er lachend. »Wenn Sie mir nun einen Gefallen tun wollen, so lassen Sie die alten Sachen durch einen Laufjungen nach Hause bringen und tragen gleich den neuen Pelz.«

»Natürlich komme ich Ihrem Wunsche gern entgegen. Aber warum wollen Sie es? Wäre es nicht besser, ihn für Sonntags aufzuheben?«

»Ach was! Seien Sie doch nicht so sparsam! Wenn diese entzwei ist, gibt es noch andere Boas auf der Welt, Uebrigens mochte ich heute noch besonders Ehre mit Ihnen einlegen. Ich wollte Ihnen schon vorschlagen, am Hotel de l'Europe den Schlitten ein wenig halten zu lassen. Dort muß ich mit einem Herrn aus Paris sprechen, der heute Abend wieder verreisen will. Wie Sie wissen, sind die Franzosen sehr elegant, und ich möchte nicht, daß mein Freund über Ihren Anzug die Nase rümpft. Sie begleiten mich doch, nicht wahr? Unser Gespräch dauert höchstens zehn Minuten, und unterdessen trinken wir eine Flasche Portwein zusammen, das geht am besten vor dem Essen.«

Myntje hatte natürlich nichts dagegen einzuwenden.

Im Hotel de l'Europe traten sie in den Restaurationssaal, wo nur wenige Tische unbesetzt waren. Van der Griend wählte sich einen Tisch in der Ecke, rief den Kellner heran und bestellte eine halbe Flasche Portwein nebst drei Gläsern und fragte: »Können Sie mir sagen, ob Herr Andrée aus Paris da ist?«

»Ich weiß es nicht«, lautete die Antwort. Im Speisesaal sitzen zwei Herren und eine Dame, und ich glaube, sie sprechen französisch.«

»Danke. Bitte, machen Sie mich aufmerksam, wenn die Herrschaften den Speisesaal verlassen.«

»Gut«, antwortete der Kellner und brachte bald das Bestellte, entkorkte die Flasche, füllte zwei Gläser und begab sich dann an den Nachbartisch, wo sich soeben ein Herr niedergelassen hatte, so daß er van der Griend und Myntje ins Gesicht sehen konnte. Der Herr bestellte ein Fläschchen Apollinaris und vertiefte sich dann in eine Zeitung, seine Umgebung scheinbar ganz vergessend.

Myntje ging wenig auf van der Griends Erzählung von den Schönheiten von Paris ein. Ihre Gedanken beschäftigten sich beständig mit Jenny Davids Brief und ihre dadurch entstandenen Unannehmlichkeiten. Wer sollte ihr daraus helfen, wenn nicht van der Griend mit seiner wohlgefüllten Börse und seinem warmen Herzen, der Mann, der sie offenbar gern hatte? Sollte sie sich den Mut nehmen und ihn fragen? Gerade jetzt war dazu die beste Gelegenheit, und in einer Minute konnte sie aus aller Verlegenheit sein, denn sie wußte, daß van der Griend genügend Geld bei sich hatte.

»Herr van der Griend«, begann sie – –.

»Dort steht einer der französischen Herren am Büfett«, sagte jetzt der Kellner, indem er sich an van der Griend wandte.

»Richtig, das ist er«, rief dieser. »Verzeihen Sie, Fräulein, ich will Herrn Andrée herrufen.«

Die beiden Herren begrüßten sich als alte Bekannte, und dann stellte van der Griend seinen Freund Myntje vor. Sobald Myntje den Franzosen ansah, ging ein Schaudern durch ihren ganzen Körper. Die Blicke, mit denen Herr Andrée sie musterte, glichen denen eines Raubtiers, das blutdürstig seine arglose Beute betrachtet. Sein aufgedunsenes Gesicht zeugte von Brutalität und Grausamkeit, während sein roter Knebelbart den furchterregenden Anblick noch erhöhte. Sein Anzug war der eines jeglichen Geschmack entbehrenden Emporkömmlings. Eine schwere, goldene Uhrkette funkelte an seiner Weste. Seine dicken Finger waren mit kostbaren Ringen überladen.

Myntje wußte selbst nicht, was es war, das ihr solch ein Entsetzen vor dem Manne einflößte. Sie hatte das Gefühl, als drohe ihr von ihm Unheil. Es wurde ihr angst und bang, als Andrée sich zu ihnen setzte, und van der Griend fragte, ob sie französisch spreche.

»Uebrigens, sie gefällt mir«, fügte der Fremde hinzu. »An mir soll es nicht fehlen, daß das Geschäft glückt.«

Myntje verstand von dem ganzen französisch geführten Gespräch natürlich kein Wort, aber sie hatte das Gefühl, daß es sich um sie handele. Unwillkürlich sah sie umher, als suche sie in ihrer Not nach einem Retter, und zufällig begegnete ihr Blick dem des Herrn, der am nächsten Tisch eine Zeitung las. Bisher hatte er über die Zeitung weg Andrée scharf im Auge behalten, jetzt aber war es, als ob er Myntje durch seinen Blick warnen wollte; sie aber senkte verlegen das Auge.

Nun stand der Herr auf und begab sich nach einer Reklametafel hinter Andrée, nahm ein Notizbuch aus der Tasche und fing eifrig an, Notizen zu machen.

Mißtrauisch wandte sich Andrée um. »Wollen Sie Tinte?« fragte er auf französisch und deutete auf ein in der Nähe stehendes Tintenfaß.

Ein feines Lächeln umspielte des Fremden Mund, und seine klugen Augen blitzten. Als er dann Andrée ansah, machte er ein verwundertes Gesicht und fragte harmlos: »Was wünscht der Herr? Was wollen Sie mit einem Anker? Ich sehe keinen.« Van der Griend und Andrée brachen in ein schallendes Gelächter aus. »Der Herr spricht französisch«, sagte endlich der erstere.

Der Fremde mit dem Notizbuch sah Andrée strafend an und fuhr dann ruhig mit seinen Aufschreibungen fort, als ob die andern ihn gar nichts angingen.

Die Unterhaltung dauerte auch nicht mehr lange. Nach etwa zehn Minuten stand Andrée auf, verbeugte sich vor Myntje und ging an den Kleiderständer, wo seine Pelzjacke hing. Myntje sah, wie er eine braune Brieftasche aus seiner Brusttasche zog, eifrig mit van der Griend verhandelte und dieser etwas von dem Franzosen annahm. Dann verließ Andrée das Lokal, während van der Griend zu Myntje zurückkehrte.

»So«, sagte er. »Nach getaner Arbeit ist gut ruhen, heißt es im Sprichwort. Ich glaube, es wird Zeit zum Essen, Fräulein Kollart. Wollen wir aufbrechen?«

Myntje war bereit. Ehe sie sich entfernten, sah sie sich noch einmal nach dem sonderbaren Herrn um. Er stand noch an der Reklametafel, aber er schrieb nicht mehr, sondern sah ihr und van der Griend mit einem tiefernsten Blick nach. Wer war er, und was wollte er?«


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