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Zweites Kapitel.

Harte Erfahrungen im Knabenalter.
1822–1824.

Die nachstehenden Begebenheiten, wie die Ereignisse seiner Kindheit und Jugend überhaupt, würden mir vermuthlich nie bekannt geworden sein, ohne eine Frage, die ich im März oder April 1847 zufällig an ihn richtete.

Ich fragte ihn, ob er sich entsinne, in seiner Kindheit je unseren Freund, den ältern Dilke, gesehen zu haben, Bekannt als Herausgeber des ›Athenaeum‹ und Mitbegründer der ›Daily News‹, Großvater des gegenwärtigen Sir Charles Dilke. – D. Uebers. einen Bekannten und Altersgenossen seines Vaters, der in demselben Büreau der Marineverwaltung angestellt war wie Mr. John Dickens. Ja, sagte er, er erinnere sich, ihn in einem Hause in Gerard Street gesehen zu haben, wo sein Onkel Barrow sich während einer Krankheit aufgehalten und Mr. Dilke ihn besucht habe; – nie zu irgend einer andern Zeit. Ich sagte hierauf, daß in der gegen mich gemachten Bemerkung von Jemand sonst die Rede gewesen sei, denn es habe nicht nur das darin gelegen, daß eine zufällige Begegnung stattgefunden, sondern daß er (Dickens) eine jugendliche Beschäftigung in einem Waarenhause in der Nähe des Strand gehabt, wo Dilke ihn in Begleitung des ältern Dickens eines Tages gesehen und zum Dank für ein Geschenk von einer halben Krone eine sehr tiefe Verbeugung empfangen habe. Er schwieg einige Minuten; ich fühlte, daß ich gegen meine Absicht eine schmerzliche Stelle in seinem Gedächtniß berührt hatte und mit Dilke sprach ich von dieser Angelegenheit nie wieder. Aber erst einige Wochen nachher machte Dickens eine weitere Andeutung gegen mich, daß ich so unbewußt auf eine Zeit gestoßen, deren Erinnerung ihm nie entschwinden könne, so lange er sich überhaupt an etwas erinnerte, und deren Andenken ihn von Zeit zu Zeit immer wieder verfolgte und bis auf jene Stunde elend machte.

Sehr bald darauf erfuhr ich, in allen ihren Einzelnheiten, die Ereignisse, welche so schmerzlich für ihn gewesen waren und was mir damals mündlich darüber mitgetheilt oder geschrieben wurde, enthüllte die Geschichte seines Knabenalters. Der Plan zu »David Copperfield«, der die ganze Welt zu seiner Vertrauten machen sollte, war damals noch nicht in ihm aufgestiegen; was für mich aber eine so aufregende Enthüllung gewesen war, wurde seinen Lesern grade mit so vielen Abänderungen und Zusätzen erzählt, daß er sich für den Augenblick hinreichend unter der Hülle seines Helden verbarg. Denn der arme kleine Junge, mit guten Fähigkeiten und einer gefühlvollen Natur, der im Alter von zehn Jahren in einen »arbeitenden Knecht« im Dienste von Murdstone und Grinby verwandelt wurde und dem es schon sehr seltsam vorkam, wie man sich seiner in einem solchen Lebensalter so leicht hatte entledigen können, war in der That er selbst. Er durchlebte die geheime Seelenqual, der »Genosse von Mick Walker und Mealy Potatoes« geworden zu sein, und seine Thränen mischten sich mit dem Wasser, womit er und sie die Flaschen ausspülten und wuschen. Es war Alles als Thatsache niedergeschrieben, ehe er daran dachte, einen andern Gebrauch davon zu machen, und erst mehrere Monate später, als der Gedanke zu »David Copperfield«, der ihm selbst durch das nahe gelegt wurde, was er über seine Jugendleiden aufgezeichnet, in seinem Geiste Gestalt zu gewinnen anfing, entsagte er seiner ersten Absicht, sein eignes Leben zu schreiben. Jene Erfahrungen im Waarenhause schlossen sich dann dem von ihm gewählten Gegenstande so bequem an, daß er der Versuchung, sie sofort zu gebrauchen, nicht widerstehen konnte; und seine Aufzeichnungen darüber, die nur den ersten Theil dessen ausmachten, was er hatte schreiben wollen, wurden der Hauptsache nach in das elfte und die früheren Kapitel seines Romans aufgenommen. Was mir jedoch schon übersandt war, sowie interlinirte Correcturbogen des Romans setzen mich jetzt in den Stand, die Thatsachen von der Dichtung zu trennen und der Kindheitsgeschichte des Schriftstellers diejenigen in dem Buche ausgelassenen Stellen hinzuzufügen, welche, abgesehen davon daß sie die Entwicklung seines Charakters aufhellen, uns ein Bild tragischer Leiden und einer eben so zarten als humoristischen Phantasie darbieten, das selbst von den Wundern seiner veröffentlichten Schriften nicht übertroffen wird.

Die Person, welche indirect für die nachstehend beschriebenen Vorgänge verantwortlich war, war sein schon öfter erwähnter junger Verwandter James Lamert, derselbe, der die theatralischen Aufführungen in Chatham einrichtete und der nach Beendigung seiner Studien in Sandhurst bei der Dickensschen Familie in Bayham Street gewohnt hatte, in der Hoffnung, bald sein Officierspatent zu erhalten. Er erhielt dasselbe erst viel später, als Zeichen der Anerkennung der Verdienste seines Vaters, und gab es dann zu Gunsten eines jüngeren Bruders aus; er hatte aber inzwischen, schon ehe die Familie Bayham Street verließ, nicht mehr bei ihr gewohnt. Der Mann einer seiner Schwestern, ein Vetter von ihm, Namens George Lamert, ein Mann von Vermögen, hatte sich kurz vorher auf eine seltsame commercielle Spekulation eingelassen und ihn zur Hülfe in sein Büreau und sein Haus aufgenommen. Ich theile nun das Fragment von Dickens' Selbstbiographie mit.

Diese Spekulation war eine Concurrenz mit ›Warrens' Schuhwichse, Nr. 30, Strand‹ – die damals sehr berühmt war. Ein gewisser Jonathan Warren (der berühmte hieß Robert), wohnhaft Nr. 30, Hungerfordstairs, oder Hungerfordmarket, Strand (denn ich vergesse, wie es damals hieß), machte den Anspruch, der ursprüngliche Erfinder oder Eigenthümer des Schuhwichse-Recepts gewesen und von seinem berühmten Verwandten abgesetzt und schlecht behandelt worden zu sein. Endlich machte er Anstalten, sein Recept und seinen Namen und sein Nr. 30, Hungerfordstairs, Strand (Nr. 30 Strand sehr groß und die dazwischen liegende Adresse sehr klein geschrieben), für eine Leibrente zu verkaufen und ließ durch seine Agenten bekannt machen, daß etwas Kapital ein großes Geschäft daraus machen werde. Der Mann mit etwas Vermögen fand sich in George Lamert, dem Vetter und Schwager von James. Er kaufte das Recht und den Anspruch und begab sich in das Schuhwichsegeschäft und das Schuhwichsehaus.

»In einer bösen Stunde für mich, wie ich oft mit Bitterkeit dachte. Der Hauptgeschäftsführer, James Lamert, der Verwandte, der in Bayham Street bei uns gewohnt hatte und wußte, was meine tägliche Beschäftigung und unsre häuslichen Verhältnisse damals waren, schlug vor, ich solle in das Schuhwichselager eintreten und mich dort so nützlich machen als ich könne, für einen Lohn von, wie ich glaube, sechs Schillingen die Woche. Ich weiß nicht genau, ob es sechs oder sieben waren. Bei meiner Ungewißheit über diesen Punkt neige ich zu der Annahme, daß es zuerst sechs und später sieben waren. Jedenfalls wurde der Vorschlag von meinem Vater und meiner Mutter sehr bereitwillig angenommen und eines Montag Morgens begab ich mich in das Schuhwichselager, um mein Geschäftsleben zu beginnen.

»Es ist mir wuuderbar, wie man mich in einem solchen Alter so leicht in die Welt hinausstoßen konnte. Es ist mir wunderbar, daß selbst nach meinem Herabsinken zu der Stellung des armen kleinen Sklaven, der ich seit unsrer Ankunft in London gewesen war, Niemand Mitleid genug hatte mit mir – einem Kinde von hervorstechenden Fähigkeiten, aufgeweckt, lernlustig, zart und körperlich wie geistig leicht verletzt – um vorzuschlagen, daß man, wie ganz gewiß möglich gewesen wäre, etwas erübrigen könne, mich in eine gewöhnliche Schule zu schicken. Unsre Freunde hatten wahrscheinlich die Geduld verloren. Niemand gab ein Lebenszeichen von sich. Mein Vater und meine Mutter waren ganz zufrieden. Sie hätten es kaum mehr sein können, wäre ich zwanzig Jahre alt gewesen und, nachdem ich mich auf dem Gymnasium ausgezeichnet, nach Cambridge auf die Universität gegangen.

»Das Schuhwichselager war das letzte Haus an der linken Seite der Straße, bei den alten Hungerfordstairs. Es war ein sonderbares, wackliges altes Gebäude, das, wie sich von selbst versteht, an den Fluß stieß und wörtlich von Ratten wimmelte. Seine holzbekleideten Zimmer und seine verrotteten Fußböden und Treppen und die alten grauen Ratten, die unten im Keller umherschwärmten und der Klang ihres Gequieks und Gezänks, der zu allen Zeiten die Treppe hinaufscholl, und der Schmutz und Verfall des Hauses, steigen sichtbar vor mir auf, als ob ich wieder dort wäre. Das Comtoir war im ersten Stockwerk, von wo man die Kohlenschiffe und den Fluß überschaute. Es befand sich eine Nische darin, in der ich sitzen und arbeiten sollte. Meine Arbeit bestand darin, daß ich die Schuhwichse-Töpfe bedeckte, zunächst mit einem Stück Oelpapier und dann mit einem Stück blauem Papier, einen Faden darum band und dann das Papier ringsum genau und nett abschnitt, bis es so schmuck aussah wie ein Salbetopf aus einem Apothekerladen. Wenn eine gewisse Anzahl Gros von Töpfen diesen Gipfel der Vollkommenheit erreicht hatte, mußte ich auf jeden eine gedruckte Etiquette kleben und dann wieder mit neuen Töpfen anfangen. Zwei oder drei andre Jungen thaten dieselbe Arbeit um ähnlichen Lohn unten im Hause. Einer von ihnen kam an dem ersten Montag Morgen, in zerlumpter Schürze und einer Mütze von Papier, herauf, um mir den Kunstgriff beim Gebrauche des Fadens und dem Knüpfen des Knotens zu zeigen. Er hieß Bob Fagin und ich nahm mir die Freiheit, von seinem Namen lange nachher in »Oliver Twist« Gebrauch zu machen.

»Unser Verwandter hatte es freundlich übernommen, mir während der zum Mittagsessen bestimmten Stunde einigen Unterricht zu geben; ich glaube von zwölf bis ein Uhr täglich. Aber eine Anordnung, die sich so schlecht mit dem Comtoirgeschäft vertrug, gerieth bald in Verfall, ohne seine oder meine Schuld und aus demselben Grunde verschwanden mein kleiner Arbeitstisch und meine Gros Töpfe, meine Papiere, Bindfaden, Scheeren, Kleistertopf und Etiquetten, eins nach dem andern aus der Nische im Comtoir und leisteten den andern kleinen Arbeitstischen, Gros Töpfen, Papieren, Bindfaden, Scheeren und Kleistertöpfen unten im Hause Gesellschaft. Es dauerte nicht lange, so arbeiteten Bob Fagin und ich und ein andrer Junge, der Paul Green hieß, von dem man aber allgemein glaubte, er sei Poll getauft worden (ein Glaube, den ich lange nachher auf Mr. Sweedlepipe in »Martin Chuzzlewit« übertrug) gewöhnlich zusammen. Bob Fagin war eine Waise und wohnte im Hause seines Schwagers, eines Bootführers. Poll Green's Vater besaß die erhöhte Auszeichnung, ein Spritzenmann zu sein und war im Drury-Lane Theater angestellt, wo eine andre Verwandte Poll's, ich glaube seine kleine Schwester, in den Pantomimen Kobolde darstellte.

»Keine Worte können die geheime Seelenqual ausdrücken, die ich erduldete, als ich zu dieser Kameradschaft herabsank, diese alltäglichen Gefährten mit denen meiner glücklicheren Kindheit verglich und meine frühen Hoffnungen, ein gelehrter und berühmter Mann zu werden, in meiner Brust zusammenstürzen fühlte. Der tiefe Schmerz, den ich bei dem Gedanken empfand, völlig verwahrlost und hoffnungslos zu sein, die Schaam über meine Lage, das Elend meines jungen Herzens bei dem Gedanken, daß Tag auf Tag Alles, was ich gedacht und gelernt, und woran ich Freude gehabt und meine Phantasie und meine Nacheiferung begeistert hatte, mir entschwand, um nie wiederzukehren, läßt sich nicht beschreiben. Mein ganzes Wesen war so von dem Schmerz und der Demüthigung dieser Gedanken durchdrungen, daß ich selbst jetzt, berühmt, geliebt und glücklich wie ich bin, in meinen Träumen oft vergesse, daß ich ein liebes Weib und Kinder habe – selbst jetzt, da ich ein Mann bin – und trostlos in jene Zeit meines Lebens zurückwandre.

»Meine Mutter und meine Brüder und Schwestern (mit Ausnahme Fanny's in der königlichen Musikakademie) lagerten noch, mit einem kleinen Dienstmädchen aus dem Armenhause in Chatham, in den beiden Wohnstuben in dem ausgeleerten Hause in Gower Street. Der Weg war zu weit, um ihn in der für das Mittagsessen bestimmten Stunde hin und her zu gehen und ich nahm mein Mittagsbrod gewöhnlich entweder von Hause mit, oder kaufte es mir in einem benachbarten Laden. In dem letztern Falle bestand es gewöhnlich aus einer gekochten Wurst und einem Pennybrot, zuweilen aus einem in einem Fleischladen gekauften Gericht Rindfleisch für vier Pence, zuweilen aus einem Gericht Brot und Käse und einem Glas Bier, aus einem kläglichen alten Bierhaus, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, dem »Schwan«, wenn ich mich recht besinne, oder dem Schwan und sonst noch etwas, was ich vergessen habe. Einmal nahm ich, wie ich mich erinnere, mein eignes Brot, das ich mir von Hause mitgebracht, in ein Stück Papier gewickelt wie ein Buch, unter den Arm und ging in das beste Eßzimmer in Johnson's à la mode Beef-Haus in Clare-Court, Drury-Lane, und bestellte mir zu dem Brote großartig einen Teller à la mode Beef. Was der Kellner dachte, als eine so seltsame kleine Erscheinung allein hereintrat, weiß ich nicht, aber ich sehe ihn noch jetzt, wie er mich anstarrte, während ich mein Fleisch aß und daß er einen andern Kellner auf mich aufmerksam machte. Ich gab ihm einen halben Penny Trinkgeld und wünsche jetzt, ich hätte es nicht gethan.«

Hier findet sich in dem Fragment direkter Erzählung eine kleine Lücke, aber ich erinnere mich sehr wohl, daß er Sonnabend Abend als sein großes Fest zu beschreiben pflegte. Es war ein erhabenes Gefühl, mit sechs Schillingen in der Tasche nach Hause zu gehen und in die Ladenfenster zu blicken und zu überlegen, was man damit kaufen könne. Hunt's geröstetes Korn, als ein brittisches und patriotisches Surrogat für Kaffee, war eben damals sehr im Schwunge und der kleine Mann pflegte es zu kaufen und am Sonntag zu rösten. Dann gab es eine billige Zeitschrift mit ausgewählten Lesestücken, das »Portfolio«, die er auch sehr gern mit nach Hause brachte. Die neue in Vorschlag gebrachte »Urkunde« hatte inzwischen die Gläubiger seines Vaters nicht zufriedengestellt, alle Hoffnung auf einen Vergleich schwand und das Ende vom Liede war, daß seine Mutter ihr Lager in Gowerstreet abbrach und das Schuldgefängniß Marshalsea bezog. In diesem Zeitpunkt bin ich im Stande, seine eigne Erzählung wieder aufzunehmen.

»Der Schlüssel des Hauses wurde an den Hausherrn zurückgeschickt, der sich sehr freute, ihn zu bekommen und ich (als der kleine Cain, der ich war, obgleich ich nie Jemandem etwas zu Leide gethan) wurde als Miethwohner einer verarmten alten Dame überwiesen, die unsrer Familie lange bekannt gewesen war und in College Street, Camden Town, Kinder aufnahm und beköstigte, was sie schon früher in Brighton gethan und die, mit einigen Abänderungen und Ausschmückungen, ohne es zu wissen, für Mrs. Pipchin in »Dombey und Sohn« zu sitzen anfing.

»Damals standen ein kleiner Junge und dessen Schwester, die natürlichen Kinder von irgend Jemand, für die sehr unregelmäßig bezahlt wurde, und der kleine Sohn einer Wittwe unter ihrer Aufsicht. Die beiden Jungen und ich schliefen in demselben Zimmer. Mein eignes ausschließliches Frühstück, bestehend aus einem Pennybrot und Milch für einen Penny, besorgte ich selbst für mich. Ein andres kleines Brot und ein Viertelpfund Käse hatte ich auf einem besondern Bort in einem besondern Schranke und machte mein Abendessen davon, wenn ich Abends nach Hause kam. Ich weiß gut genug, daß sie ein Loch machten in die sechs oder sieben Schillinge und ich war den ganzen Tag in dem Schuhwichselager und mußte von dem Gelde die ganze Woche leben. Die Miethe für die Wohnung wurde, glaube ich, von meinem Vater bezahlt, wenigstens bezahlte ich selbst sie nicht, und ebenso gewiß hatte ich keine andre Hülfe (die Verfertigung meiner Kleidungsstücke ausgenommen) von Montag Morgen bis Sonnabend Abend. Kein Rath, keine Ermuthigung, kein Trost, keine Unterstützung von irgend Jemandem, dessen ich mich erinnere, so wahr mir Gott helfe.

»Die Sonntage brachten Fanny und ich in dem Gefängniß zu. Ich holte sie neun Uhr Morgens von der Akademie in Tenterden Street, Hanover Square, ab und Abends gingen wir zusammen dorthin zurück.

»Ich war so jung und kindisch und so wenig fähig – wie hätte es anders sein können? – die ganze Sorge für meine Existenz zu übernehmen, daß ich, wenn ich Morgens nach Hungerfordstairs ging, dem in Tottenham-Court-Road, in den Conditorläden auf Präsentirtellern zu halbem Preise ausgestellten abgestandenen Gebäck nicht widerstehen konnte und oft dafür das Geld ausgab, was ich für mein Mittagsessen hätte behalten sollen. Dann aß ich zu Mittage nichts, oder kaufte mir eine Rolle Brot oder ein Stück Pudding. Es waren zwei Puddingläden da, zwischen denen ich je nach dem Stande meiner Finanzen wählte. Der eine befand sich in einem Hof in der Nähe der St. Martinskirche (hinter der Kirche), der jetzt vollständig verschwunden ist. Der Pudding in diesem Laden wurde mit Corinthen gemacht und war eine besondre Art von Pudding, aber theuer, denn für zwei Pennies bekam man nicht mehr als für einen Penny von dem gewöhnlichen Pudding. Ein guter Laden für diesen letzteren befand sich im Strand, nicht weit von der Stelle, wo jetzt die Lowther-Arkade ist. Es war ein kräftiger, gesunder Pudding, schwer und weich, mit großen Rosinen, die in großen Entfernungen von einander darin steckten. Er kam alle Tage um Mittag heiß in den Laden und manchen, manchen Tag habe ich mein Mittagsessen davon gemacht.

»Wir hatten, glaube ich, eine freie halbe Stunde zum Thee. Wenn ich Geld genug hatte, ging ich in einen Kaffeeladen und kaufte mir ein halbes Nößel Kaffee und eine Scheibe Butterbrot. Wenn ich kein Geld hatte, machte ich einen Gang durch den Covent-Garden-Markt und starrte die Ananas an. Von den Kaffeeläden, die ich am meisten besuchte, war einer in Maiden-Lane, einer in einem jetzt verschwundenen Hofe in der Nähe des Hungerford-Markts und einer in St. Martins-Lane, von dem ich mich nur entsinne, daß er bei der Kirche war und daß sich in der Thüre eine ovale Glasplatte befand, mit den darauf gemalten, der Straße zugekehrten Worten: Kaffee-Stube. Wenn ich mich jetzt in einer ganz andern Art von Kaffeestube befinde, wo eine solche Inschrift auf Glas steht und dieselbe auf der umgekehrten Seite rückwärts lese: E B U T S – E E F F A K (wie ich damals in trüben Träumereien oft that), schießt es wie ein elektrischer Schlag durch mein Blut.

»Ich weiß, daß ich nicht unbewußt und unabsichtlich die Kargheit meiner Mittel und die Schwierigkeiten meines Lebens übertreibe. Ich weiß, daß ich, wenn Jemand mir einen Schilling oder so gab, denselben für Mittagsessen oder Thee verausgabte. Ich weiß, daß ich von Morgen bis Abend mit gemeinen Männern und Jungen arbeitete – ein schäbiges Kind. Ich weiß, daß ich versuchte, aber ohne Erfolg, mein Geld nicht im Voraus zu verausgaben, und die ganze Woche damit auszukommen, indem ich es, in sechs kleine Packete gewickelt, deren jedes dieselbe Summe enthielt und die Aufschrift eines verschiedenen Tages trug, in einer Schieblade, die ich in dem Comtoir hatte, bei Seite legte. Ich weiß, daß ich ungenügend und unbefriedigend genährt durch die Straßen hinschlenderte. Ich weiß, daß ich, was die Theilnahme anging, die mir bewiesen wurde, ohne Gottes Gnade leicht ein kleiner Dieb oder ein kleiner Vagabund hätte werden können.

»Aber ich nahm auch in dem Schuhwichselager eine Stellung ein. Abgesehen davon, daß mein Verwandter in dem Comtoir that, was ein Mann, der sich mit einer so anomalen Beschäftigung befaßte, thun konnte, um mich anders zu behandeln als die Uebrigen, sagte ich nie einem Mann oder Jungen, wie es kam, daß ich dort sei, oder machte die geringste Andeutung, daß es mir leid thue. Daß ich insgeheim litt und aufs tiefste litt, wußte nie Jemand, außer mir selbst. Wie viel ich litt, fühle ich mich, wie ich bereits bemerkte, völlig unfähig zu sagen. Keines Menschen Einbildungskraft kann die Wirklichkeit überschreiten. Aber ich nahm mich zusammen und verrichtete meine Arbeit. Ich wußte von Anfang an, daß, wenn ich meine Arbeit nicht so gut machen könne, wie einer der Andern, es mir unmöglich sein werde, einer geringschätzigen Behandlung zu entgehen. Ich wurde bald mindestens ebenso flink und geschickt mit meinen Händen, wie die beiden andern Jungen. Obgleich ich mich ganz freundschaftlich zu ihnen stellte, waren mein Benehmen und meine Manieren doch von den ihrigen verschieden genug, um eine Scheidewand zwischen uns zu erhalten. Sie und die Männer sprachen von mir immer als von dem ›jungen Herrn‹. Ein Mann (ein ehemaliger Soldat) Namens Thomas, der Vormann war, und ein andrer Namens Harry, der Fuhrmann war und eine rothe Jacke trug, nannten mich mitunter Charles, wenn sie mit mir sprachen; aber dies war meist, wenn wir sehr vertraut mit einander waren und wenn ich mich bemüht hatte; sie bei der Arbeit mit Erinnerungen an meine frühere Lektüre zu unterhalten, die meinem Gedächtniß schon rasch zu entschwinden begann. Poll Green lehnte sich einmal gegen den ›Jungen Herrn‹-Gebrauch auf; aber Bob Fagin brachte ihn rasch zum Schweigen.

»Den Gedanken an meine Befreiung aus diesem Leben gab ich als völlig hoffnungslos auf; obgleich ich fest überzeugt bin, daß ich nie, auch nur eine Stunde lang, damit ausgesöhnt war und mich anders als elend, unglücklich fühlte. Ich empfand es aber tief, daß ich so von meinen Eltern und meinen Geschwistern getrennt war und daß ich, wenn mein Tagewerk vorüber war, in eine solche traurige Leere heimging und dies wenigstens, so schien mir, ließ sich ändern. Eines Sonntags Abends sprach ich mich hierüber gegen meinen Vater so pathetisch und mit so vielen Thränen aus, daß seine gutmüthige Natur nachgab. Er fing an zu denken, daß es nicht ganz recht wäre. Er hatte dies, glaube ich, nie vorher gedacht, oder überhaupt daran gedacht. Es war die erste Beschwerde, die ich je über mein Loos vorgebracht hatte und vielleicht enthüllte sie etwas mehr, als in meiner Absicht gelegen. Eine hinten hinausliegende Dachkammer wurde für mich in dem Hause eines Agenten des Gerichtshofes für Zahlungsunfähige gefunden, der in Lant-Street am südlichen Themseufer wohnte, wo viele Jahre später Bob Sawyer Einer der Charaktere der Pickwick Papers. – D. Uebers. logirte. Bettzeug wurde für mich hinübergeschickt und auf dem Fußboden zu meinem Lager bereitet. Das kleine Fenster hatte eine angenehme Aussicht auf einen Holzhof und als ich von meinem neuen Aufenthaltsorte Besitz nahm, dachte ich, es sei ein Paradies.«

Hier ist wieder eine Lücke, die sich jedoch unschwer durch Briefe und meine eignen Erinnerungen ergänzen läßt. Was ihm seine Wohnung zu einem Paradies machte, war natürlich der Umstand, daß sie ihn, allerdings in hinreichend trauriger Weise, wieder in den Kreis einer Heimath zurückführte. Von nun an frühstückte er gewöhnlich ›zu Hause‹, oder in andern Worten in dem Marshalsea-Gefängniß, wohin er sich begab, sobald die Thore geöffnet wurden und meistens noch früher. Es fehlte dort nicht an äußeren Bequemlichkeiten. Seines Vaters Einkommen, das noch fortging, reichte dafür vollkommen aus und ich habe ihn sagen hören, daß die Familie, abgesehen von Freiheit der Bewegung, in dem Gefängniß in jeder Hinsicht behaglicher lebte, als seit langer Zeit außerhalb desselben. Das Mädchen für Alles aus Bayham Street, die Waise aus dem Armenhause in Chatham, wartete ihnen noch auf und von ihrer verständigen kleinen weltlichen und zugleich freundlichen Art und Weise empfing er den ersten Eindruck der »Marquise« in dem »Raritätenladen«. Auch sie wohnte, damit sie frühe auf dem Schauplatz ihrer Pflichten erscheinen könne, in der Nähe zur Miethe und wenn Charles, wie gelegentlich der Fall war, ihr auf seinem Spaziergang an der Londoner Brücke begegnete, brachte er die Zeit, ehe die Thore sich öffneten, damit hin, ihr ganz erstaunliche Geschichten über die Werften und den Tower zu erzählen. »Aber ich hoffe, ich glaubte sie selbst«, pflegte er zu sagen. Außer dem Frühstück hatte er auch sein Abendbrot im Gefängniß und kam gewöhnlich um neun Uhr in seiner Stube an. Die Thore wurden immer um zehn geschlossen.

Ich muß noch erwähnen, was er mir von dem Hausherrn dieses kleinen Logis erzählte. Derselbe war ein fetter, gutmüthiger, freundlicher alter Herr. Er war lahm und hatte eine phlegmatische alte Frau und einen äußerst unschuldigen erwachsenen Sohn, der ebenfalls lahm war. Sie waren alle gegen den Knaben sehr freundlich. Eines Nachts hatte er einen seiner alten Krampfanfälle und alle drei blieben bis zum Morgen an seinem Bette. Sie waren alle todt, als er mir dies erzählte, aber in einer andren Gestalt leben sie noch auf sehr angenehme Art als die Familie Garland in dem »Raritätenladen« fort.

Einen ähnlichen Krankheitsanfall, den er eines Tages in dem Waarenlager hatte, kann ich in seinen eigenen Worten beschreiben. »Bob Fagin war bei einem schlimmen Anfall meines alten Leidens sehr gut gegen mich. Ich hatte diesmal so martervolle Schmerzen, daß sie mir in meiner alten Nische in dem Comtoir ein zeitweiliges Bett von Stroh machten und ich wälzte mich auf dem Boden umher und Bob füllte leere Wichseflaschen mit heißem Wasser und legte dieselben von Zeit zu Zeit frisch gewärmt gegen meine Seite, den halben Tag lang. Ich wurde besser und fühlte mich gegen Abend ganz wohl, aber Bob (der viel größer und älter als ich war) konnte sich nicht mit dem Gedanken aussöhnen, daß ich allein nach Hause ginge und nahm mich unter seinen Schutz. Ich war zu stolz, um ihn von dem Gefängniß wissen zu lassen und nach mehreren Bemühungen ihn los zu werden, gegen die Bob Fagin in seiner Gutmüthigkeit taub war, verabschiedete ich mich von ihm auf der Treppe eines Hauses bei Southwarkbridge, auf der Surreyseite der Themse, indem ich ihn glauben machte, ich wohne dort. Um die Täuschung zu vollenden, für den Fall daß er sich umsähe, klopfte ich, wie ich mich entsinne, an die Thür und fragte, als eine Frau sie öffnete, ob dies »Mr. Robert Fagin's Haus sei.«

Die Sonnabend Abende blieben ihm, wie vorher, besonders lieb. »Mein gewöhnlicher Weg nach Hause führte über die Blackfriarsbrücke und jene Biegung in Blackfriarsroad nieder, wo Roland Hill's Kapelle auf einer Seite steht und das Bild eines goldnen Hundes, der einen goldenen Topf über einer Ladenthür leckt, auf der andern. Es waren ziemlich viele kleine niedrige Läden von einer kläglichen Sorte in dieser Straße und manche davon sind noch jetzt unverändert. Ich ging vor einigen Wochen in einen hinein, wo ich an Sonnabend Abenden Schuhlitze zu kaufen pflegte, und sah die Ecke, wo ich mich einmal auf einen Schemel setzte, um ein paar fertige Halbstiefel anzuprobiren. Mehr als einmal ließ ich mich an Sonnabend Abenden in dieser Straße verleiten, in eine Schaubude an der Ecke zu treten und ging in sehr bunter Gesellschaft hinein, um das »Fette Schwein«, den »Wilden Indier« und die »Kleine Dame« zu sehen. Es waren damals (und sind, wie ich glaube, noch jetzt) einige Hutfabriken dort und zu den Dingen, die mir an allen Orten und unter allen Umständen jene Zeit ins Gedächtniß rufen, ist der Geruch des Hutmachens.«

Nachdem seines Vaters Bemühungen, eine gerichtliche Einigung mit seinen Gläubigern zu erzielen, fehlgeschlagen waren, mußte man sich sämmtlichen Ceremonien unterziehen, die nöthig waren, um der Vortheile der Parlamentsakte für zahlungsunfähige Schuldner theilhaftig zu werden, und bei einer von diesen Ceremonien hatte auch der kleine Charles seine Rolle zu spielen. Eine Bedingung der Akte war, daß die zurückbehaltenen Kleidungsstücke und persönlichen Effekten den Werth von zwanzig Pfund Sterling nicht überschreiten sollten. »Es war als Sache der Form nothwendig, daß der amtliche Taxator die Kleidungsstücke sah, die ich trug. Ich bekam einen halben Tag frei, um ihm zu der ihm passendsten Zeit in seinem Hause meine Aufwartung machen zu können. Ich erinnere mich, daß er mit vollem Munde und einem starken Biergeruch herauskam und gutmüthig sagte: ›Das sei hinreichend‹ und ›es sei Alles in der Ordnung‹. Sicherlich würde der härteste Gläubiger nicht geneigt gewesen sein (auch wenn er gesetzlich dazu berechtigt gewesen wäre), sich meines armen weißen Hutes, meiner Jacke oder meiner Hosen von Barchent zu bedienen. Aber ich hatte eine fette alte silberne Uhr in meiner Tasche, ein Geschenk meiner Großmutter vor jenen Schuhwichsetagen, und ich hegte meine Zweifel, indem ich hinging, ob dieser werthvolle Besitz mich nicht über die zwanzig Pfund hinausbringen möchte. So fühlte ich mich denn sehr erleichtert und machte eine dankbare Verbeugung, indem ich hinausging.«

Was ihm jedoch am meisten fehlte, war der Verkehr mit gleichaltrigen Gefährten. Er hatte keine solche Bekanntschaften. Mitunter hatte er, wie er sich erinnerte, um die Essenszeit mit Poll Green und Bob Fagin auf den Kohlenschiffen gespielt, aber dies waren seltene Ausnahmen. Gewöhnlich streifte er allein in den Hinterstraßen des Strand umher, oder erforschte die nach dem Flusse führenden dunkeln Bogengänge. Eine seiner Lieblingsstellen war ein kleines Bierhaus an der Themse, zu dem ein »Fuchs unter dem Hügel« genannter unterirdischer Gang führte, wonach wir uns einst vergebens umsahen; und er hatte eine in »Copperfield« erwähnte Vision, in der er sich eines schönen Abends draußen auf der Bank sitzen und essen sah und einigen Kohlenträgern zuschaute, die vor dem Hause tanzten. »Ich möchte wissen, was sie von mir dachten«, sagt David. Dasselbe hatte er schon selbst in dem Bruchstücke seiner Autobiographie gesagt.

Einen andern charakteristischen kleinen Zwischenfall nahm er später unter David's Erfahrungen auf, aber ich kann denselben hier ohne die Veränderungen mittheilen, welche ihn der Dichtung anpassen. »Ich war solch ein kleines Kerlchen, mit meinem armen weißen Hut, kleiner Jacke und Barchenthosen, daß oft, wenn ich an die Barre eines Bierhauses kam, um die Wurst und das Brot, die ich in der Straße gegessen, mit einem Glase Ale oder Porter herunter zu spülen, die Leute es mir nicht geben wollten. Ich entsinne mich eines Abends (ich war für meinen Vater irgendwohin gewesen und ging über die Westmünsterbrücke nach meiner Wohnung zurück), als ich in ein Bierhaus in Parliament-Street trat, das noch dort ist, obgleich mit verändertem Aeußern, an der Ecke der kurzen Straße, die nach Cannon Row führt, und zu dem hinter der Barre stehenden Wirth sagte: ›Was kostet ein Glas von Ihrem besten, Ihrem allerbesten Ale?‹ Denn es war eine festliche Veranlassung – ich vergesse aus welchem Grunde. Es mag mein oder eines Andern Geburtstag gewesen sein. ›Zwei Pence‹, sagte er. ›Dann‹, sage ich, ›haben Sie die Güte, mir ein Glas davon zu ziehen, mit tüchtigem Schaum darauf‹. Der Wirth sah mich zur Antwort, mit einem seltsamen Lächeln auf seinem Gesicht, von Kopf zu Fuß über die Barre an und sah, statt das Bier zu ziehen, um die Schirmwand herum und sagte etwas zu seiner Frau, die mit ihrer Arbeit in der Hand, dahinter hervor kam, und mich ebenfalls von Kopf zu Fuß ansah. Hier stehen wir nun alle drei in meinem Studirzimmer in Devonshire Terrace Die Straße in London, wo Dickens damals (1847) wohnte. – D. Uebers. vor mir. Der Wirth, in Hemdsärmeln, lehnt gegen den Rahmen des Barrefensters, seine Frau blickt über die kleine Halbthür herüber und ich blicke sie, in einiger Verwirrung, von meinem Standpunkt außerhalb der Barre an. Sie richteten viele Fragen an mich: wie ich hieße, wie alt ich wäre, wo ich wohnte, wie ich mich beschäftigte &c., worauf ich, um Niemanden zu compromittiren, passende Antworten erfand. Sie bedienten mich mit dem Ale, obschon ich der Meinung bin, daß es nicht das stärkste war, was sie hatten, und die Wirthin öffnete die kleine Halbthür und bückte sich zu mir nieder und gab mir einen Kuß, der halb bewundernd und halb mitleidig, aber wie ich fest glaube, ganz mütterlich und gut war.«

Ein späterer und nicht minder charakteristischer Zwischenfall der wahren Geschichte dieser Zeit fand ebenfalls, drei oder vier Jahre nachdem er niedergeschrieben wurde, in seiner jetzt berühmten Dichtung einen Platz. Derselbe ereignete sich kurz vor der Entlassung des ältern Dickens aus dem Marshalsea-Gefängniß; nachdem er eine ziemlich bedeutende Erbschaft von einer Verwandten gemacht, einige hundert Pfund, wie es hieß, die während seiner Gefangenschaft bei dem Gericht eingezahlt wurden. Die Scene, welche hier beschrieben werden soll, entstand auf Veranlassung einer Petition, die er, bevor er das Gefängniß verließ, abgefaßt hatte und in der er, nicht wie David Copperfield erzählt, um die Abschaffung der Schuldgefängnisse nachsuchte, sondern um die weniger würdevolle aber erreichbarere Gnade eines Geldgeschenks an die Gefangenen, wodurch sie in den Stand gesetzt werden sollten, bei Sr. Majestät herannahendem Geburtstag Seiner Majestät Gesundheit zu trinken.

»Ich erwähne dieses Umstandes, weil er mir als Beispiel dient für mein frühes Interesse an der Beobachtung menschlicher Charaktere. Wenn ich Abends nach dem Marshalsea ging, gewährte es mir immer das größte Vergnügen, von meiner Mutter zu hören, was sie über die Geschichte der verschiedenen in dem Gefängniß einquartierten Schuldner wußte, und als ich von dem Herannahen dieser Ceremonie hörte, wünschte ich so dringend, sie alle, einen nach dem andern, hereinkommen zu sehen (obgleich ich die meisten schon gesehen und mit ihnen gesprochen hatte), daß ich zu diesem Zweck Urlaub bekam und mich in einer Ecke in der Nähe der Petition aufstellte. Dieselbe war, wie ich mich entsinne, auf einem großen unter dem Fenster befindlichen Bügelbrett ausgebreitet, das Nachts in einem andern Theil des Zimmers als Bettstelle benutzt wurde. Die innern Anordnungen des Zimmers, in Bezug auf Reinlichkeit und Ordnung und die Vorkehrungen einer Gaststube in einem Bierhause; wo Alle, die einen sehr kleinen Beitrag zahlten, heißes Wasser und Kochmaterialien und ein gutes Feuer bereit fanden, waren durch einen aus den Schuldgefangenen gebildeten Ausschuß, in dem mein Vater damals den Vorsitz führte, vortrefflich besorgt. So viele von den Ausschußmitgliedern, als in dem kleinen Zimmer Platz fanden, ohne es zu füllen, standen um meinen Vater herum vor der Bittschrift, und mein alter Freund, Capitän Porter (der sich gewaschen hatte, um einer so feierlichen Gelegenheit Ehre zu machen) stellte sich ganz dicht davor, um sie Allen vorzulesen, die mit ihrem Inhalt unbekannt waren. Die Thür wurde sodann geöffnet und die Schuldgefangenen fingen an, in einer langen Reihe hereinzukommen; mehrere warteten auf dem Vorplatz draußen, während Einer jedesmal eintrat, die Petition unterschrieb und hinausging. Zu jedem Einzelnen sagte Capitän Porter: ›Möchten Sie, daß ich sie Ihnen vorläse?‹ Wenn dann Jemand schwach genug war, das geringste Verlangen danach kundzuthun, gab Capitän Porter ihm in einer lauten sonoren Stimme jedes Wort zu hören. Ich erinnere mich eines gewissen wollüstigen Klanges, den er in solche Worte legte wie ›Majestät – gnädige Majestät – Ew. gnädigen Majestät unglückliche Unterthanen – Ew. Majestät wohl bekannte Munificenz‹ – als wären die Worte etwas Wirkliches in seinem Munde und lieblich für den Geschmack, indeß mein Vater mit einem Anflug von der Eitelkeit eines Autors zuhörte und (mit nicht zu strengem Ausdruck) die Zinken auf der gegenüberliegenden Mauer betrachtete. Was komisch und was pathetisch in dieser Scene war, bemerkte ich, wie ich aufrichtig glaube, in meiner Ecke damals ebenso gut, als ich es jetzt bemerken würde, ob ich es nun zeigte oder nicht. Ich entwarf mir meinen eigenen kleinen Charakter und meine eigne Geschichte von einem Jeden, der seinen Namen auf das Stück Papier setzte. Ich könnte dies jetzt vielleicht mit mehr Naturwahrheit thun, aber nicht mit mehr Ernst und mit tieferem Interesse. Ihre verschiedenen Eigenthümlichkeiten in Kleidung, Gesichtsbildung, Gang, Manier, prägten sich meinem Gedächtniß unauslöschlich ein. Ich freute mich mehr, es zu sehen, als das beste Schauspiel, das je gespielt wurde; und ich dachte nachher bei den Töpfen mit Schuhwichse gar oft daran zurück. Wenn ich, während Mr. Pickwick's Gefangenschaft, mit dem Auge meines Geistes in das Fleetgefängniß hineinblickte, so glaube ich kaum, daß ein halbes Dutzend Leute aus jenem Haufen von Marshalsea fehlten, der bei dem Klange von Capitän Porter's Stimme noch einmal herein defilirte.«

Als die Familie das Marshalsea-Gefängniß verließ, bezog sie eine Miethwohnung bei einer Dame in Little College Street, einer Mrs. Roylance, die als Mrs. Pipchin eine unverhoffte Unsterblichkeit erlangt hat; später bezog sie ein kleines Haus in Somers-Town. Eine der nördlichen Vorstädte Londons. – D. Uebers. Aber vor dieser Zeit war Charles mit einigen andern Familienmitgliedern in Tenterden Street, um zu sehen, wie seine Schwester Fanny einen der Preise empfing, welche an die Schüler der Königlichen Musik-Akademie vertheilt wurden. »Ich konnte es nicht ertragen, an mich zu denken – außerhalb des Bereichs alles solchen ehrenvollen Wetteifers und Erfolges wie ich stand. Die Thränen flossen mir die Wangen hinab. Mir war, als wollte mein Herz brechen. Ich betete, als ich an jenem Abend zu Bette ging, um Erlösung aus der Demüthigung und Verwahrlosung, in der ich mich befand. Ich hatte nie vorher so viel gelitten. Von Neid war dabei keine Rede.« Es war kaum nöthig, daß er diese Versicherung gab. Denn immer und in einem sonst bei ihm ungewöhnlichen Grade offenbarte er den höchsten Genuß bei der Ausübung ihrer Talente, den höchsten Stolz auf jeden Erfolg, den sie dadurch errang, und an ihrem Begräbnißtage, den wir zusammen verlebten, empfing ich die rührendsten Beweise seines zarten und dankbaren Andenkens an sie aus dieser Kinderzeit. Noch einige Sätze, sicherlich nicht weniger rührend, als irgend welche die vorausgegangen sind, werden die Geschichte dieser Zeit zum Abschluß bringen. Sie folgen hier genau so wie sie von ihm geschrieben wurden.

»Ich weiß nicht genau, ob es vor oder nach dieser Zeit war, als das Schuhwichselager nach Chandos Street bei Covent Garden verlegt wurde. Es kommt nichts darauf an. Zunächst dem Laden, an der Ecke von Bedford Street und Chandos Street, sind zwei aneinanderstoßende ziemlich altmodische Häuser und Läden. Sie bildeten damals ein Haus, oder wurden zu einem Hause verbunden für das Wichsegeschäft. Gegenüber war und ist ein Bierhaus, wo ich mir unter diesen neuen Umständen mein Ale holte. Die Steine in der Straße mögen geglättet sein durch meine kleinen Füße, die zur Essenszeit hinüber- und wieder zurückgingen. Das Geschäft war jetzt größer und wir hatten mehrere neue Jungen. Bob Fagin und ich hatten im Zusammenbinden der Töpfe große Geschicklichkeit erlangt. Ich vergesse, wie viele wir in fünf Minuten fertig machen konnten. Wir arbeiteten an dem zweiten Fenster, wenn man von Bedford Street kommt, weil es dort am hellsten war und wir waren so flink bei der Arbeit, daß die Leute oft stillstanden und hineinsahen. Mitunter sammelte sich ein ordentlicher kleiner Haufen dort. Ich sah meinen Vater eines Tages zur Thür hereinkommen, als wir sehr geschäftig waren und wunderte mich, wie er es ertragen konnte.

»Ich hatte jetzt mein Mittagsessen gewöhnlich in dem Waarenlager. Zuweilen brachte ich es von Hause mit; es ging mir daher besser. Ich sehe mich noch, wie ich eines Morgens von Somers-Town her durch Russell Square kam und etwas kaltes Ragout in einem in mein Taschentuch gebundenen kleinen Becken mit mir führte. Ich machte dieselben Wanderungen in den Straßen und war ebenso einsam und mir selbst überlassen, wie früher; aber es wurde mir nicht mehr so schwer, bloß den nöthigen Lebensbedarf zu finden. Es war jedoch nie davon die Rede, mich aus dem Geschäft zu entfernen, oder daß ich nicht vollkommen versorgt wäre.

»Endlich gerieth eines Tages mein Vater mit dem so oft erwähnten Verwandten in Streit; sie stritten sich brieflich, denn ich selbst brachte ihm den Brief von meinem Vater, welcher die Explosion veranlaßte, aber sie stritten sehr heftig. Es war meinetwegen. Es mag sich theilweise auf meine Beschäftigung am Fenster bezogen haben. Alles was ich weiß, ist, daß mein Vetter (er war eine Art Vetter, durch Verschwägerung) bald nachdem ich ihm den Brief gegeben, mir sagte, man habe ihn um meinetwillen aufs äußerste insultirt und danach sei es unmöglich, mich länger zu behalten. Ich brach in Weinen aus, theils weil es so plötzlich kam und theils, weil er sich in seinem Zorn heftig über meinen Vater äußerte, obgleich er gegen mich freundlich war. Thomas, der alte Soldat, tröstete mich und sagte, er sei überzeugt, es sei so das Beste. Mit einem seltsamen Gefühl von Befreiung, das mehr wie Niedergeschlagenheit war, ging ich nach Hause.

»Meine Mutter unternahm es, den Streit zu schlichten und es gelang ihr den Tag darauf. Sie kam nach Hause mit der Bitte an mich, den nächsten Morgen wieder zu kommen und einem ausgezeichneten Zeugniß über mein Betragen, das ich sicherlich verdiente. Mein Vater sagte, ich solle nicht wieder hingehen, sondern in die Schule. Ich schreibe nicht mit Empfindlichkeit oder Zorn, denn ich weiß wie dies Alles zusammenwirkte, mich zu dem zu machen, was ich geworden bin: aber ich vergaß nie nachher, werde nie vergessen, kann nie vergessen, daß meine Mutter sich mit Wärme dafür erklärte, daß ich zurückgeschickt werden solle.

»Von jener Stunde bis zu dieser, in der ich schreibe, ist kein Wort über den Theil meiner Kindheit, den ich jetzt gern zum Abschluß bringe, gegen irgend ein menschliches Wesen über meine Lippen gekommen. Ich weiß nicht, wie lange er dauerte, ob ein Jahr oder viel mehr oder weniger. Von jener Stunde bis auf diese sind mein Vater und meine Mutter stumm darüber gewesen. Ich habe von Keinem von Beiden nie auch nur die entfernteste Anspielung darauf gehört. Ich habe nie, bevor ich es diesem Papier mittheilte, in keinem Ausbruch des Vertrauens gegen irgend Jemand, selbst mein Weib nicht ausgenommen, den Schleier gelüftet, den ich damals, Gott sei Dank, fallen ließ.

»Ehe der alte Hungerford-Markt niedergerissen, ehe die alten Hungerfordstairs zerstört wurden und der gesammte Grund und Boden selbst eine andere Gestalt annahm, hatte ich nie den Muth, an die Stelle zurückzukehren, wo meine Knechtschaft begann. Ich habe sie nie wieder gesehen. Ich konnte es nicht ertragen, mich ihr zu nähern. Viele Jahre lang ging ich, wenn ich an jener Stelle des Strand vorbeikam, auf die andere Seite der Straße hinüber, um einen gewissen Geruch des Cements zu vermeiden, den man auf die Wichse-Körke that und der mich daran erinnerte, was ich ehemals war. Es währte lange, ehe ich Chandos Street hinaufgehen mochte. Mein alter Heimweg auf der Südseite der Themse brachte mir noch die Thränen ins Auge, als mein ältestes Kind sprechen konnte. Auf meinen nächtlichen Spaziergängen bin ich seitdem oft dort gewesen und allmälig bin ich dahin gekommen, dies zu schreiben. Es ist nicht ein Zehntel von dem, was ich hätte schreiben können, oder was ich zu schreiben Willens war.«

Den wesentlichen Inhalt späterer erklärender Gespräche über gewisse Punkte dieser Erzählung kann ich nach gleichzeitig gemachten Aufzeichnungen in der Kürze hinzufügen. Er war wohl kaum mehr als zwölf Jahre alt, als er das Geschäft verließ, und für sein Alter noch ungewöhnlich klein, viel kleiner, obschon zwei Jahre älter, als sein eigener ältester Sohn zu der Zeit, als diese Mittheilungen gemacht wurden. Seine Mutter war sehr oft in dem Schuhwichselager gewesen, sein Vater nur ein oder zweimal. Die Concurrenz zwischen Robert Warren und den Vertretern Jonathan Warren's, den Vettern George und James, wurde in den Annoncen zu wundersamen Extremen getrieben und sie waren Alle, wie er mir erzählte, sehr stolz auf das Motto ihres Hauses: eine Katze, die den Stiefel kratzte. Der regelmäßig in dem Geschäft angestellten Poeten erinnerte er sich auch und machte nach einem derselben seine erste Studie für den Poeten von Mrs. Jarley's Wachsfiguren-Cabinet. Das ganze Unternehmen hatte jedoch das gewöhnliche Ende solcher Unternehmungen. Der jüngere Vetter wurde der Sache müde und ein Mr. Wood, der Theilhaber, der seinen Antheil übernahm und mit dem ältern Vetter in Compagnie trat, verkaufte es schließlich an Robert Warren. Dieser führte das Geschäft noch fort, als Dickens und ich zuletzt davon sprachen, und hatte einen guten Handel damit gemacht.

 

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