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Sechstes Kapitel.

Er schreibt die Pickwick Papers.
1837.

Den ersten Brief von ihm erhielt ich am Schlusse des Jahres 1836 aus Furnivals-Inn, als er mir das Buch seiner Oper » Die Dorfcoquetten« schickte, das bei Bentley erschienen war; und hierauf folgten, zwei Monate später, seine gesammelten » Skizzen«, die erste und zweite Serie, die er mich anzunehmen bat, »als ein sehr kleines Zeichen der Achtung und Dankbarkeit des Gebers, sowie seines Wunsches, eine Freundschaft zu pflegen, die auf so angenehme Weise seinen Pfad gekreuzt habe . . . Kurz, wenn Sie die Bücher um meinetwillen und nicht um Ihretwillen annehmen wollen, werden Sie mich sehr verbinden.« Ich hatte ihn während der Zwischenzeit in dem Hause unseres gemeinsamen Freundes Harrison Ainsworth getroffen und erinnere mich lebhaft des Eindrucks, den er damals auf mich machte.

Sein Gesicht war in jenen Tagen sehr verschieden von demjenigen, welches die Photographie der gegenwärtigen Generation bekannt gemacht hat. Zuerst wurde man durch ein Aussehen von Jugendlichkeit angezogen und dann durch einen Freimuth und eine Offenheit des Ausdrucks, die ein sichres Zeugniß für die innern Eigenschaften ablegten. Die Züge waren sehr edel. Er hatte eine prächtige Stirn, eine feste Nase mit vollen weiten Flügeln, Augen, die wunderbar glänzten von Geist und überströmten von Humor und Heiterkeit, und einen ziemlich hervortretenden, von lebhafter Erregbarkeit zeugenden Mund. Der ganze Kopf war gut geformt und symmetrisch und von äußerst kühner Miene und Haltung. Das in spätern Jahren so spärliche und ergraute Haar war damals von reichem Braun und üppigster Fülle und das bärtige Gesicht seiner zwei letzten Jahrzehnte zeigte kaum eine Spur von Haar oder Schnurrbart; aber es war etwas in dem Gesichte, wie ich mich desselben zuerst erinnre, das keine Zeit verändern konnte und was ihm bis zuletzt unveränderlich aufgeprägt blieb. Das war die Schnelligkeit, die Schärfe, die praktische Macht, der eifrige, ruhelose, energische Ausdruck aller Züge, der so wenig von einem Gelehrten oder Schreiber von Büchern und so viel von einem Manne des Handelns und der Welterfahrung kundthat. Licht und Bewegung glänzte aus allen Theilen desselben. Es war wie aus Stahl gemacht, bemerkte vier oder fünf Jahre nach der Zeit, von der ich rede, eine höchst selbstständige und feine Beobachterin, die verstorbene Mrs. Carlyle. Die Gemahlin Thomas Carlyle's, des Verfassers der Geschichte Friedrichs des Großen. – D. Uebers. »Was für ein Gesicht in einem Gesellschaftszimmer!« schrieb mir Leigh Hunt, den Morgen, nachdem ich sie miteinander bekannt gemacht. »Es hat Leben und Seele für fünfzig menschliche Geschöpfe.« In solchen Ausdrücken erkennt man nicht allein die ruhelose und unwiderstehliche Lebhaftigkeit und Kraft, von der ich gesprochen habe, sondern auch das, was von Beständigkeit und fester Ausdauer darunter lag.

Mehrere erfolglose Bemühungen wurden von uns Beiden gemacht, den Andern zu einem Besuche zu veranlassen, bis endlich die Thüre des Einen sich öffnete. Am Dreikönigstage (6. Jan. 1837) wurde ihm ein Sohn geboren und vor dem Ende des Monats befand er sich mit seiner Frau in dem Hause in Chalk, das sie nach ihrer Verheirathung bewohnt hatten. Zu Anfang März entschuldigte er sich in einem Briefe an mich, daß er sein Versprechen, mich zu besuchen, nicht gehalten habe; »ein Haufe von Hausagenten und Advokaten«, durch die er beinahe für die Fahrt nach Chalk zu spät gekommen und »außerdem mehr als halb wild gemacht sei«, habe ihn daran verhindert. Dies war sein letzter Brief aus Furnivals-Inn. In demselben Monat zog er nach Nr. 48 Doughty Street, und in seinem ersten am Schluß des Monats von dort an mich gerichteten Briefe findet sich die folgende Stelle: »Wir besuchten Sie nur zum zweiten Mal, weil wir hofften, es würde uns gelingen, Sie zu bewegen, bei uns zu speisen, und bedauerten sehr, Sie nicht zu finden. Ich habe die Antwort auf Ihren Brief verzögert, weil ich Sie besuchen wollte. Die angenehme Beschäftigung des Ausziehens hat mich indeß so in Anspruch genommen, daß ich keine Zeit dazu fand und ich muß nun endlich schreiben und Ihnen sagen, daß ich den Verlegern Pickwick's schon lange versprochen habe, bei einem Festmahl zu Ehren dieses Helden, das morgen stattfindet, zugegen zu sein. Ich kann daher Ihre freundliche Einladung nicht annehmen, obgleich ich offen gestehe, daß ich derselben weit lieber gefolgt wäre.«

Jene Feier seines zwölften Heftes, des Jahrestags der Geburt Pickwick's, ging nur wenige Wochen einem persönlichen Kummer voraus, der ihn tief bewegte. Eine jüngere Schwester seiner Frau, Mary, die bei ihnen gewohnt und mehr noch durch ihre schöne Natur als durch ihre persönlichen Reize sich zum Ideal seines Lebens gemacht hatte, starb mit einer furchtbaren Plötzlichkeit, die ihn eine Zeitlang vollständig niederbeugte. Ihre Grabschrift, von ihm geschrieben, ist auf einem Grabstein des Kirchhofs in Kensal-Green zu lesen. »Jung, schön und gut, zählte Gott sie in dem frühen Alter von siebenzehn Jahren seinen Engeln zu.« Sein Schmerz und seine Leiden waren tief und übten, wie man sehen wird, noch viele Jahre nachher ihre Wirkung auf ihn aus. Die Veröffentlichung Pickwick's wurde zwei Monate lang unterbrochen, weil die Anstrengung des Schreibens über seine Kräfte hinausging. Er ging, um sich zu zerstreuen, nach Hampstead Eine reizend gelegene, nordwestliche Garten-Vorstadt von London. – D. Uebers. und hier besuchte ich ihn zu Ende Mai und wurde zuerst sein Gast. In diesem Augenblick mehr als gewöhnlich allen freundlichsten Eindrücken zugänglich, öffnete sein Herz sich dem meinen. Ich verließ ihn, so sehr sein Freund und so vollkommen sein Vertrauter, als hätte ich ihn Jahre lang gekannt. Auch vergingen nicht viele Wochen, ehe er von Doughty Street Worte an mich richtete, an deren buchstäbliche Erfüllung ich mit schmerzlichem Stolz denke. »Ich blicke mit ungetrübter Freude auf jedes Glied zurück, das jede folgende Woche der Kette unsrer Freundschaft hinzugefügt hat. Es muß schlimm gehen ehe irgend etwas außer dem Tode die Zähigkeit eines Bandes lockert, das jetzt so fest geschlungen ist.« Es blieb ungeschwächt, bis der Tod kam.

Gewisse Umstände trugen dazu bei, sofort einen häufigen und intimen Verkehr zwischen uns zu befördern. Was die plötzliche Popularität seiner Schriften mit sich brachte, wußten Andre schon einige Zeit ehe er selbst es wußte und erst allmälig wurden ihm jetzt alle die Nachtheile klar, welche ihm daraus erwuchsen. Er würde gelacht haben, wenn bei diesem Beginn jener wunderbaren literarischen Laufbahn, da sein Genius von Allen ohne Rückhalt anerkannt wurde, da er jung, allgemein beliebt und glücklich war, Jemand ihn mit dem unglücklichen Schriftsteller früherer Tage verglichen hätte, dessen gewöhnliches Schicksal es war, in eine Sklaverei verkauft zu werden, aus der er sich in seinem späteren Leben umsonst zu befreien bemühte. Das sollte nicht sein Schicksal sein, aber etwas davon zu erdulden, war ihm dennoch bestimmt. Er hatte sich, ohne es zu wissen, in eine Art Knechtschaft verkauft und mußte seine Freiheit nach beträchtlichen Leiden um einen schweren Preis zurückkaufen.

Erst nach dem vierten oder fünften Hefte von »Pickwick« (in dem letzteren war Sam Weller zuerst aufgetreten) fing »der Buchhandel« an, dessen Bedeutung zu würdigen und am Vorabend der Ausgabe des sechsten Heftes hatte er ein Uebereinkommen mit Bentley abgeschlossen, die Redaktion einer Monatsschrift zu übernehmen, die im nächsten Januar erscheinen und für die er eine längere Erzählung liefern sollte; und bald darauf war er mit demselben Verleger übereingekommen, zwei andre Erzählungen zu schreiben, die erste bis zu einem näher bestimmten frühen Termine; und in beiden Fällen entsprach das festgesetzte Honorar jedenfalls nicht den Ansprüchen eines Schriftstellers von entschiedener Popularität. Nach diesen Verträgen mit Bentley schrieb er nun Monat auf Monat die erste Hälfte von »Oliver Twist« und nach den Verträgen mit Chapman und Hall die letzte Hälfte von »Pickwick«, ohne daß er in beiden dem Drucker auch nur eine Woche voraus war, als ein Umstand ihm bekannt wurde, über den er folgendermaßen an mich schrieb.

»Ich hörte vor einer halben Stunde, aus einer Quelle, die keinen Zweifel zuläßt (nämlich von dem Einbinder »Pickwick's«), daß Macrone eine neue Auflage meiner »Skizzen« in Monatsheften von etwa derselben Größe und in ganz derselben Form wie die »Pickwick Papers« herausgeben will. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß dies mir sehr ernstlichen Schaden zufügen kann, noch daß ich eine sehr natürliche und entschiedene Abneigung dagegen habe, der Ansicht Raum zu geben, daß ich mir den Erfolg »Pickwick's« zu Nutze mache, um dem Publikum dieses alte Werk in seinem neuen Gewande aufzudrängen, bloß um Geld in meine eigne Tasche zu stecken. Ebensowenig brauche ich zu sagen, daß der Umstand, daß mein Name zu derselben Zeit in Verbindung mit drei Publikationen vor dem Publikum ist, meinem Rufe ernstlichen Schaden zufügen muß. Da Du mit den Verhältnissen bekannt bist, unter welchen das Verlagsrecht verkauft wurde und da ich weiß, daß ich mich auf Deinen freundlichen Beistand verlassen kann, möchte ich Dich bitten, zu Macrone zu gehen und ihm in der stärksten und nachdrücklichsten Weise meine Gefühle über diesen Punkt auszudrücken. Ich möchte, daß er an die Summen erinnert würde, die er für diese Bücher bezahlt hat, an die Zahl der Exemplare, die er verkauft hat, an den Umfang, worin er bereits davon Gebrauch gemacht hat, und an den großen Profit, den er schon daraus gezogen haben muß. Ich möchte ihn auch daran erinnert wissen, daß mir weder von ihm noch in seinem Namen aufs aller entfernteste die Absicht, sie in dieser Form zu veröffentlichen, kundgethan wurde, als er das Verlagsrecht erwarb. Und dann möchte ich, daß Du an sein Gefühl gewöhnlicher Redlichkeit und Billigkeit appellirtest, ob er nach dieser Mittheilung noch bei seiner Absicht beharren wolle.« Was der Brief noch außerdem enthielt, braucht hier nicht erwähnt zu werden; aber es war mir ein starker Antrieb, mein Bestes zu thun.

Ich fand Macrone jedoch allen Ueberredungs-Gründen unzugänglich. Der Umstand, daß er das Buch zu einer Zeit wo die kleinste Summe für den Autor nicht unwichtig war, kurz vor seiner Verheirathung, für eine kleine Summe gekauft und daß er seitdem beträchtlichen Profit daraus gezogen hatte, erschütterte nicht im mindesten seine Behauptung, daß er ein Recht habe, mit seinem Eigenthume zu machen was er könne, ohne Rücksicht darauf wie es sein geworden. Es blieb weiter nichts übrig als die Fronte zu wechseln und mit dem Zugeständniß: es möge ein geringeres Uebel für den unglücklichen Autor sein, das Verlagsrecht zurückzukaufen, als die Veröffentlichung in Monatsheften zuzugeben, die Frage zu stellen, was für einen weiteren Gewinn er noch von dem Buche erwarte; aber hierauf wurde ein so weiter Mund geöffnet, daß ich an dem kostspieligen Proceß, denselben zu füllen, keinen Theil haben wollte. Ich erklärte dies an Dickens und rieth ihm ernstlich, sich eine Weile ruhig zu halten.

Aber die Aufregung und der Verdruß waren, bei all der Arbeit, die er in der Hand hatte, zu groß für ihn und es überraschte mich kaum, am folgenden Tag den nachstehenden Brief von ihm zu erhalten, dem jedoch die Bemerkung vorausgeschickt werden muß, daß dem der ihn schrieb Ungewißheit irgend welcher Art zu allen Zeiten unerträglich war. Den Zwischenraum zwischen der Ausführung einer Sache und ihrer ersten Anregung konnte Dickens nie ertragen und er war nur zu bereit, jedes Opfer zu bringen, wodurch er ihn abkürzen oder enden konnte. Dies gehörte nicht zu der starken Seite seines Charakters und man machte sich den Umstand häufig zu Nutze. »Ich habe,« schrieb er, »grade nachfragen lassen, ob Du zu Hause wärest, da Chapman und Hall bei mir waren und ich wegen der Dringlichkeit der Sache gern Deinen ferneren Rath und Beistand gehabt hätte. Macrone und H– ( Arcades ambo) machten ihnen diesen Morgen ihre Aufwartung und weigerten sich nach einer längeren Besprechung aufs hartnäckigste, auch nur einen Heller weniger als 2,000 Pfd. Sterling zu nehmen. Das ursprünglich für das Verlagsrecht der Skizzen an Dickens gezahlte Honorar betrug nur 150 Pfd. Sterling. H– brachte noch einmal dieselben Zahlen vor, die er auch Dir gestern vorgelegt hatte und stellte an Hall die Frage, ob er, nach seiner Kenntniß dieser Dinge, sagen könne, daß die Veranschlagung des wahrscheinlichen Profits übertrieben sei. Hall, auf dessen Urtheil in diesen Dingen man sich verlassen kann, konnte die Richtigkeit der Berechnung nicht bestreiten. Das war der Stand der Sache. In diesem Dilemma kamen sie (meine » Pickwick«-Leute) auf den Gedanken, ob, wenn die » Skizzen« doch einmal in monatlichen Heften erscheinen sollten, es nicht besser wäre, daß sie zu ihrem und zu meinem gemeinschaftlichen Vortheil erschienen, als zu Macrone's alleinigem Nutzen; ob sie, die die ganze Pickwick-Maschinerie in voller Thätigkeit hatten, sie nicht in viel größerem Umfange absetzen könnten als Macrone und ob wir, trotz dieses hohen Preises von 2,000 Pfd., abgesehen von der Erwerbung des Verlagsrechts, nicht noch gegründete Hoffnung hätten auf einen angemessenen Ersatz für die Auslagen. Mit diesen Vorschlägen kamen sie (nachdem sie einen Aufschub von einigen Stunden erlangt hatten) direkt zu mir und schlugen vor, daß wir das Verlagsrecht der »Skizzen« gemeinschaftlich für die zweitausend Pfund an uns bringen und sie in Monatsheften herausgeben sollten. Ich brauche nicht zu sagen, daß keine andere Form der Veröffentlichung die Kosten decken würde und sie möchten, daß ich in einer Ansprache die Erklärung ablege, daß sie, die billigerweise als die Hauptbetheiligten genannt werden können, zu dieser Art der Veröffentlichung gezwungen worden seien, da andernfalls das Verlagsrecht verloren gegangen sein würde. Ich überlegte die Sache nach allen Seiten. Ich schickte nach Dir, aber Du warst aus. Ich dachte an . . . was jetzt nicht wiederholt zu werden braucht, da es Alles vorbei ist . . . und willigte ein. Hatte ich Recht? Ich glaube, Du wirst Ja sagen.« Ich konnte nicht Nein sagen, obgleich ich mich freute, daß ich meine Zustimmung zu einem so unmäßigen Preise nicht gegeben hatte, der jedoch der Person, welche ihn empfing, sehr wenig nützte. Macrone starb ungefähr zwei Jahre später und wenn Dickens die liberalste Behandlung von ihm erfahren hätte, so hätte er nicht großmüthiger sorgen können für seine Wittwe und seine Kinder.

Sein neuer Roman fing jetzt an, die öffentliche Aufmerksamkeit in hohem Grade mit den »Pickwick Papers« zu theilen und es war eine Freude zu sehen, wie wirklich alle seine Charaktere für ihn wurden. Was mir in der That vom ersten Beginn seiner Laufbahn an am meisten bei ihm auffiel, war seine Gleichgültigkeit gegen alles Lob seiner Leistungen in bloß literarischer Hinsicht, verglichen mit der höhern Anerkennung derselben als Stücke wirklichen Lebens, die ihrerseits mehr die Bedeutung und den Zweck und seinerseits mehr die Verantwortlichkeit von Realitäten hatten als von Geschöpfen der Phantasie. Die Ausnahme, die man aus Pickwick herleiten könnte, ist mehr scheinbar als wirklich. Ein erstes Buch hat seine besondern Rechte und der Unterschied dieses Werks von den andern erhellt aus dem, was über seinen Ursprung gesagt worden ist. Sein Zweck war einfach, zu belustigen. Launenhafte Skizzen des Griffels sollten durch unterhaltende Skizzen der Feder mit einander verknüpft werden und am Anfang wußte er ebensowenig als einer seiner Leser, wo und wie es enden sollte. Aber das Genie ist ebensowohl ein Herr als ein Diener, und als Gelächter und Scherz ihren Höhepunkt erreicht hatten, kam etwas Ernsteres zum Vorschein. Er hatte sich deshalb zu vertheidigen und er sagte, daß, obgleich anfangs die bloße Seltsamkeit einer neuen Erscheinung geeignet sei, einen Eindruck hervorzubringen, die ernsteren Eigenschaften an's Licht träten, wenn man mit dem Menschen befreundet werde. In andern Worten hätte er sagen können, daß die Veränderung zu seiner eignen Genugthuung nothwendig geworden sei. Das Buch selbst hatte, indem es ihn seine Kraft kennen lehrte, ihm ein höheres Bewußtsein dessen gegeben, was man von der Anwendung jener Kraft erwarten werde, und dies Bewußtsein verließ ihn seitdem nie. Bei Allem was er später zu thun hatte, bei Allem was er jetzt that, da Pickwick noch beendigt werden mußte und »Oliver Twist« erst eben begann, war es ihm beständig nahe. Auch konnte es bei einer in sich so praktischen und ernsten Natur, für die alle jene phantasievollen Schöpfungen so wirklich waren, wohl kaum anders sein und in diesem Sinne hatte ich einen Brief richtig verstanden, der die Sendung dessen was von »Oliver Twist« seit dem vorhergehenden Februar erschienen war, begleitete und den ich einen Tag nach meinem Besuche bei ihm empfing. Ich hatte etwas wie das eben Gesagte über den mir zugegangenen Theil des Romans öffentlich geäußert und sein unverzüglicher warmer Dankbrief, von dem ich mir erlaube, einige Zeilen anzuführen, bewies mir, wie vollkommen wir miteinander übereinstimmten. »Wie soll ich Dir danken? Kann ich es besser thun, als indem ich sage, daß das Gefühl von der Wirklichkeit des armen Oliver, das Du, wie ich weiß, von Anfang an gehabt hast, das höchste Lob für mich gewesen ist? Keins von allem, das mir so verschwenderisch zu Theil geworden, habe ich halb so sehr gefühlt als jene Würdigung meiner Absicht und meines Zwecks. Du weißt, daß dies immer so gewesen ist; denn es war Dein Gefühl für mich und mein Gefühl für Dich, das uns zuerst zusammenführte, und uns, wie ich hoffe, so erhalten wird, bis der Tod uns trennt. Deine Kritik macht mich dankbar, aber sehr stolz; sei daher vorsichtig damit.«

Nach dieser Zeit schrieb er Nichts, was ich nicht entweder im Manuscript oder in den Correcturbogen sah, ehe die Welt es sah; und in Bezug auf die letzteren fing ich bald nachher an, ihm die Hülfe zu leisten, deren er zwanzig Jahre später öffentlich erwähnte, indem er mir seine gesammelten Werke widmete. Einer seiner Briefe erinnert mich, wann diese Correcturen anfingen und sie dauerten fort fast bis an's Ende. Sie erleichterten ihm eine Arbeit, von der er sich um diese Zeit mehr als genug durch Andre auferlegt sah und für mich waren sie nie etwas Andres als eine Freude. »Ich muß,« schrieb er, »so viele Bogen des Miscellany Bentley's Miscellany, die Monatsschrift, deren Redaktion er übernommen hatte. – D. Uebers. corrigiren, ehe ich »Oliver« beginnen kann, daß ich fürchte, ich werde das Haus heute Morgen nicht verlassen können. Ich schicke daher Deine Correctur »Pickwick's« durch Fred, der damit zu dem Drucker unterwegs ist. Du wirst sehen, daß ich nur wenig verändert habe; aber daß es, wie ich glaube, Verbesserungen sind.« Dies war das vierzehnte Heft der »Pickwick Papers«. Fred war einer seiner Brüder, der damals bei ihm wohnte.

Das nachfolgende Heft war das berühmte, worin der Held sich in dem Fleetgefängniß findet und einer von Dickens' Briefen zeigt, welche Befriedigung das Schreiben dieses Heftes ihm gewährt hatte. Ich hatte ihn fragen lassen, wo wir uns an diesem Tage für einen beabsichtigten Spazierritt treffen sollten. »Hier«, war seine Antwort. »Ich bin in Pantoffeln und Jacke und kann, grade wie jener Staar, den man so selten citirt, nicht hinauskommen. Ich komme, Gott sei Dank, vorwärts wie ›ein brennendes Haus‹ und meine, daß der nächste Pickwick alle andern schlagen soll. Ich werde Dich unverzüglich erwarten und wir wollen zusammen in den Stall gehen. Wenn Du Jemand in der Paulskirche kennst, so möchte ich, daß Du hinschicktest und bitten ließest, sie sollen die Glocke nicht so läuten lassen. Ich kann kaum meine eigenen Ideen hören, wenn sie mir in den Kopf kommen, und sagen was sie bedeuten.«

Der frohlockende Ton des Vertrauens in diesen Worten war in der That vollkommen berechtigt. Er hatte, in der Vermischung von Humor und Tragödie, noch nichts so Bemerkenswerthes geleistet als seine Darstellung dessen was die arme Seite eines Schuldgefängnisses in den Tagen war, von denen, wie wir gesehen, er selbst bittre Erfahrungen gehabt hatte, und man braucht sich nur an den Inhalt dieses Theils eines Werkes zu erinnern, das nicht nur zu seinen frühsten, sondern (was den Plan betraf) zu den am wenigsten überlegten zählte, um zu verstehen, was ihm nicht allein einen so frühen Ruf errang, sondern in sich den Keim der Zukunft trug, die ihn erwartete. Jeder einzelne Zug war treffend und die Wahrheit des ganzen untrüglich. Die furchtbare, unbestimmte und doch unaufhörliche, unbefriedigende und schreckliche Ruhelosigkeit des Ortes wurde mit Defoe's eingehendem Realismus geschildert, während die Charakterschilderung in jenem größeren Styl ausgeführt wurde, welcher mit den reichsten Seltsamkeiten des Humors einen Einblick in Grundzüge des Charakters verbindet, die allgemein sind wie die Natur selbst. Als er beschloß, daß Sam Weller zusammen mit Pickwick ein Insasse des Fleetgefängnisses sein solle, dachte er vielleicht an seinen Liebling Smollett und wie, als Peregrine Pickle ein Insasse des Fleetgefängnisses war, Hatchway und Pipes sich weigerten, ihn zu verlassen; aber Fielding selbst hätte ihn um die Art beneiden können, wie er seinen Plan ausführte. Und kein andrer Theil seines Gemäldes ist weniger bewunderungswürdig als dieser. Die Komödie, die sich allmälig zur Tragödie vertieft, der Gegensatz zwischen den schäbigen Vagabunden welche die Erzeugnisse der Schuldgefängnisse sind, und der armen einfältigen Geschöpfe die ihre Opfer sind, Mivins und Smangle, neben dem Schuhflicker, der durch seine Erbschaft zu Grunde gerichtet ist und unter dem Tische schläft, um sich an den alten Thronhimmel über seinem Bette zu erinnern; Pickwick's erste Nacht in dem Zimmer des Marschalls, Sam Weller, der Stiggins in dem gemüthlichen Winkel unterhält, Jingle in seinem Verfall, und der sterbende Kanzleigerichtsgefangene – in allen diesen Scenen zeigte sich ein Styl ersten Ranges, eine tiefe Charakterempfindung, jene zarte Form des Humors, die auch einen eigenthümlich pathetischen Zug hat, Komödie von der vollsten und reichhaltigsten Art und die leichte Darstellung eines Meisters seiner Kunst. Wir stellen dies Gemälde denen der großen Humoristen unsrer Literatur an die Seite und es verliert nicht durch den Vergleich.

Hier ist auch der Ort, über die Aufnahme zu sprechen welche das Buch bis zu diesem Zeitpunkt gefunden, und über die Popularität, welche Dickens als sein Verfasser errungen hatte. In Hinsicht auf ihre Art, ihren Umfang und die völlige Abwesenheit des Unwirklichen oder Künstlichen in den Ursachen welche dazu beitrugen, steht sie ohne Beispiel in der Literatur da. Man hatte hier eine Reihe von Skizzen, ohne Anspruch auf das Interesse das einen gutangelegten Roman begleitet, in eine Form gekleidet die anscheinend ebenso ephemer ist als ihr Zweck, der in nichts Höherem zu bestehen schien, als in der Vorführung einiger unter der Mithülfe eines Satirenzeichners ausgeführten Sittenschilderungen von Londoner Stadtkindern, und nachdem vier oder fünf Hefte dieses Buchs erschienen waren, stieg es ohne Zeitungsannoncen oder Zeitungslob und ohne einem falschen oder unwürdigen Geschmack des Publikums zu dienen, zu einer Popularität empor, die jedes neue Heft nur höher steigerte, bis die Leute von nichts Anderm mehr sprachen, Kaufleute ihre Waaren empfahlen, indem sie seinen Namen gebrauchten und sein Verkauf, mit einem Sprunge den der berühmtesten Bücher des Jahrhunderts überfliegend, eine beinahe fabelhafte Höhe erreichte. Von dem ersten Hefte wurden vierhundert Exemplare genäht und von dem fünfzehnten mehr als vierzig Tausend. Alle Classen; die hohen wie die niedrigen, wurden dadurch angezogen. Der Reiz seiner Heiterkeit und seines Humors, seines unerschöpflichen Scherzes, seines schwelgerischen Ueberfließens von Lebenslust, seiner Klarheit und Schärfe der Beobachtung und vor Allem das unvergleichliche Behagen der vielen verschiedenen Arten des Genusses welche es darbot, bezauberten alle Welt. Richter auf der Gerichtsbank und Jungen in der Straße, Ernst und Thorheit, Jugend und Alter, die welche ins Leben eintreten, und die welche es verließen, fanden das Buch gleich unwiderstehlich. »Ein Archidiakonus« schrieb mir Carlyle später, »wiederholte mir neulich Abends mit seinen eignen ehrwürdigen Lippen eine seltsame profane Geschichte: von einem feierlichen Geistlichen, der einer kranken Person geistlichen Trost gespendet hatte und der, nachdem er, seiner Meinung nach, in befriedigender Weise damit zu Ende gekommen war und das Zimmer verließ, die kranke Person ausrufen hörte: ›Nun, Gott sei Dank, Pickwick wird jedenfalls in zehn Tagen erscheinen!‹ – Das ist furchtbar.«

Ich muß hinzufügen, daß etwas mehr in diesem Allen war als die Befriedigung bloßen Scherzes und Gelächters, mehr sogar als das seltenere Vergnügen, welches dem Ausbruch aller Arten ächten Humors zu Grunde liegt. Es war eine andre Saite angeschlagen worden. Ueber die lebendigen Sittenschilderungen hinaus, die zuerst so anziehend gewesen waren, war Etwas da was einen tieferen Eindruck hinterließ. Heitere und unwiderstehliche Freude, warme Innigkeit des Tons, schrankenlose Fülle der Heiterkeit sind ebenso flüchtige und vergängliche als erfreuende Eigenschaften; aber die Aufmerksamkeit welche durch ihren Zauber in »Pickwick« so lebhaft erregt wurde, fand sich durch etwas Dauernderes gefesselt. Wir waren uns, mitten in der uns vorgeführten Ausgelassenheit von Scherzen und Abenteuern, plötzlich bewußt geworden, daß wir es hier mit wirklichen Menschen zu thun hatten. Es redete nicht Jemand auf humoristische Weise über sie, sondern sie waren selbst da. Daß eine Anzahl von Persönlichkeiten aus den mittleren und niederen Lebenskreisen (die Wardle, Winkle, Weller, Tupman, Bardle, Snubbins, Perker, Sawyer, Dodson, und Fogg) irgendwie seinen intimen Bekannten hinzugefügt seien, wußte der gewöhnliche Leser, ehe er ein Dutzend Hefte zu Ende gelesen hatte, und nicht viel mehr waren erforderlich, um es dem verständigen Leser klar zu machen, daß ein neues und selbstständiges Genie vom Schlage Smollett's und Fielding's in England erstanden sei.

Ich stelle aus später zu erwähnenden Gründen die »Pickwickier« nicht so hoch als Dickens' spätere Werke; allein, abgesehen von der neuen Ader des Humors welche darin eröffnet wurde, von ihrer wunderbaren Frische und ihrem unerschöpflichen Frohsinn, enthalten sie zwei Charaktere, deren Popularität wahrscheinlich nie verbleichen wird. Ihr Haupttriumph ist natürlich Sam Weller, eine jener Persönlichkeiten die, obgleich Niemand sie je gesehen, doch von Jedermann als zugleich völlig natürlich und im höchsten Grade originell anerkannt werden und deshalb unter den erfolgreichsten Schöpfungen des Romans ihre Stelle einnehmen. Wann ist er je langweilig erschienen? Wer kennt ihn gut genug, um nicht doch noch etwas Neues in ihm zu finden? Wer ist so erstaunt über seine unerschöpflichen Hülfsquellen, oder so erheitert durch sein unauslöschliches Gelächter, um zu zweifeln, daß er trotzdem eine so gewöhnliche und vollständige Realität ist als irgend etwas Anderes in den Londoner Straßen? In der That, wenn der Geschmack abgestumpft ist der einen solchen Humor natürlich und schätzbar macht, und nicht bloß sein Mutterwitz, seine treffenden und sinnvollen Bemerkungen, sein unerschütterliches Selbstbewußtsein, sondern seine Hingabe an seinen Herrn, seine Ritterlichkeit und Bravheit in den Lebenskreisen denen er angehört, nicht mehr entdeckt oder als daraus verschwunden betrachtet werden, so wird es schlimmer für uns Alle sein als für den Ruhm seines Schöpfers. Ebenso wenig wird es der Fehler eines bloß kritischen Mißurtheils sein, wenn der Glaube an jene mögliche Verbindung von Seltsamkeit und Wohlwollen, von Klugheit und Einfalt, von gesundem Menschenverstand und Thorheit, von Allem was zum Lachen reizt und Nichts, was Verachtung dagegen erweckt, verlorengeht, welche die ergötzliche Wunderlichkeit »Pickwick« ausmachen. Doch zu dieser Besorgniß ist wenig Grund vorhanden. Sam Weller und Pickwick sind der Sancho Pansa und Don Quixote von London und es ist ebenso wenig wahrscheinlich daß sie verschwinden werden, als die alte Stadt selbst.

Dickens ritt sehr gern in diesen frühen Jahren und keine andre Erholung gewährte ihm in den Zwischenräumen seiner härtesten Arbeit mehr Freude oder Nutzen. Ich war dabei öfter sein Gefährte als meine Zeit eigentlich erlaubte, denn die Entfernungen waren groß und man konnte später am Tage nichts weiter thun. Aber wenn in Zeiten, wo ich wußte daß er von einem seiner Drucker arg gedrängt wurde, unerwartet ein Brief von ihm kam, in dem er erklärte, er habe so fest an der Arbeit gesessen, daß er Ruhe haben müsse und als Mittel dafür vorschlug, wir sollten an demselben Morgen um 11 Uhr »zu einem Spazierritt von fünfzehn Meilen hin und fünfzehn Meilen her und einem Gabelfrühstück auf dem Wege« aufbrechen und Abends um 6 Uhr mit einem Dîner in Doughty Street schließen, konnte ich der guten Kameradschaft nicht widerstehen. Seiner Ansicht, daß er von geistiger Anstrengung in ebenso schwerer körperlicher Anstrengung Erholung suchen müsse, blieb er bis zuletzt treu; ja, in seinen späteren Jahren strengte er sich, wie mir immer schien, zu viel an, indem er ebenso viele Meilen zu Fuße ging, als er sonst ritt, und zwar zu häufig in der Nacht. Denn obgleich er immer leidenschaftlich gern zu Fuß umherwanderte; beobachtete er doch noch eine gewisse Mäßigung darin und nahm sogar meine Gesellschaft für sieben bis acht Meilen als ausreichend an. »Was für ein herrlicher Morgen für einen Spaziergang auf dem Lande!« schrieb er oft, ohne jeden weiteren Zusatz. Oder: »Ist es möglich, daß Du durch diesen prachtvollen Tag nicht in Versuchung geführt werden kannst, solltest, würdest, müßtest, wolltest!« Oder: »Ich breche pünktlich – merke Dir's – pünktlich halb zwei Uhr auf. Komm', komm', komm' und wandre mit mir in den grünen Gängen. Du wirst die ganze Woche um so besser arbeiten. Komm'! ich werde Dich erwarten.« Oder: »Du hast wohl keine Lust, Dich einzuwickeln und mit mir einen tüchtigen Spaziergang über die Hampsteader Haide zu machen. Ich weiß ein gutes Haus dort, wo wir ein glühend heißes Hammelrippchen und ein Glas guten Wein zu Mittag haben können;« – was zu unserm ersten Besuch in Jack Straw's Castle Einem anmuthig gelegenen Wirthshaus auf dem Hügel von Hampstead. – D. Uebers. führte, welches in kommenden Jahren durch viele frohe Zusammeukünfte denkwürdig wurde. Aber den Spazierritten wurde meist der Vorzug gegeben. So schrieb er zum Beispiel: »Richmond und Twickenham, durch den Park, bei Knightsbridge hinaus und über die Haide von Barnes, würden, glaube ich, einen herrlichen Ritt geben.« Oder: »Weißt Du, daß ich gegen ein frühes Hammelsrippchen in einem Dorfwirthshaus nichts einzuwenden haben würde?« Oder: »Da ich nicht wußte, ob mir der Kopf auf den Schultern saß oder nicht (er war von Arbeit so leer geworden), bin ich auf die alte Straße hinaus spazieren geritten und würde mich wahrhaft freuen, Dir dort zu begegnen, oder von Dir eingeholt zu werden.« Oder: »Wo soll es sein – o wo? – Hampstead, Greenwich, Windsor? Wo?????? so lange der Tag noch hell ist, nicht wenn er in Nichts dahingeschwunden ist. Denn wer kann an einem Tage wie diesem irgend etwas Vernünftiges thun, außer im Freien?« Oder es kam eine fragende Einladung zu »einem scharfen Trabe von drei Stunden?« oder eine ebenso lakonische Andeutung: »Zu erfragen in dem Aal-Pastetenhause in Twickenham.« Ich will noch bemerken, daß der Wagen den er zur Zeit unsrer ersten Bekanntschaft seiner Frau zur Verfügung gestellt hatte, eine kleine Chaise mit einem Paar noch kleinerer Ponies war, die, wegen ihrer Gewohnheit, am Tage plötzlich in Nebenstraßen hineinzurennen und Nachts hartnäckig in Gräben still zu stehen, während des folgenden Jahres mit einer passenderen Equipage vertauscht wurden.

Dieser Schilderung seiner Gewohnheiten, um die Zeit als unsre Freundschaft begann, muß ich eine Ergänzung dessen hinzufügen was bereits in Hinsicht auf seine »Skizzen« über das seine Arbeit begleitende unbehagliche Gefühl bemerkt wurde: daß dieselbe ihn selbst ungenügend lohne, während sie andre bereichere – ein wesentlicher Theil seiner Lebensgeschichte zu dieser Zeit. Indem er im Mittsommer 1837 einige Fragen von mir beantwortete und mir seinen Contract mit Bentley schickte, demgemäß er »Oliver Twist« für das Miscellany schrieb, fuhr er fort: »Es ist eine höchst sonderbare Thatsache (ich vergaß dies am Sonntag), daß er mir nie eine Abschrift des Contracts über den Roman gegeben hat, den ich überhaupt nie gesehen, außer eines Morgens, als ich ihn vor langer Zeit unterzeichnete. Soll ich ihn um eine Abschrift bitten oder nicht? Ich habe einige Notizen, die ich mir damals machte, nachgesehen und ich fürchte, er hat meinen zweiten Roman auf dieselben Bedingungen, nach demselben Contract. Das ist eine unangenehme Aussicht, aber wir müssen sie zu bessern suchen. Du wirst mir sagen, daß es Dich sehr überrascht, daß ich meine Geschäfte auf solche Weise handhabe. Mir geht es ebenso, denn in den meisten Dingen die sich auf Arbeit und Betriebsamkeit beziehen, bin ich die Pünktlichkeit selbst. Die Wahrheit ist (obgleich ich dies Dir, mein Lieber, nicht zu erklären brauche), daß, hätte ich mich durch diese Dinge quälen lassen, ich nie hätte thun können was ich gethan habe. Aber ich fürchte sehr, daß ich, mit dem Wunsch, gegenwärtigen Verdruß zu vermeiden, mir einen bittern Vorrath für die Zukunft gesammelt habe.« Der zweite Roman, den er in vollständiger Form zu einem sehr frühen Termin versprochen und für den er Gegenstand und Titel schon gewählt hatte, erschien vier Jahre später als »Barnaby Rudge«; aber von dem dritten wußte er damals noch weiter nichts, als daß er ihn, wenn nicht in dem Magazin, so irgendwo sonst innerhalb einer festen Zeit anfangen sollte.

Der erste Schritt den ich in Folge dieses Briefes that, bezog sich auf die unmittelbare Dringlichkeit des Romans »Barnaby Rudge«; aber er führte auch zu der Berücksichtigung des großen Wechsels der Verhältnisse seit der Zeit, als diese verschiedenen Contracte übereilt von Dickens unterzeichnet waren, der ganz verschiedenen Lage der Dinge, welche durch die außerordentliche Zunahme der Popularität seiner Schriften herbeigeführt worden, und der Vortheile, die eine billigere Feststellung ihrer gegenseitigen Beziehungen, sowohl für Bentley als für ihn, mit sich bringen werde. Einige Mißverständnisse folgten, wurden aber durch einen Vergleich im September 1837 gehoben; in Gemäßheit mit welchem der dritte Roman unter gewissen Bedingungen aufgegeben wurde und »Barnaby Rudge« im November 1838 beendet werden sollte. Dies bedingte die Vollendung des neuen Romans, während »Oliver Twist« noch in der Ausführung begriffen war, unabhängig von dem, was etwa auf den Schluß von »Pickwick« folgen mußte; und ich bezweifelte die Weisheit dieses Vergleichs. Allein vorläufig wurde derselbe angenommen.

Dickens war inzwischen mit seiner Frau auf einen zehntägigen Sommerausflug nach Flandern gegangen, in Begleitung Hablot Browne's, des scharfbeobachtenden jungen Künstlers, dessen vortreffliche Illustrationen zu »Pickwick« den Verlust Seymour's mehr als ersetzt hatten, und ich empfing einen Brief von ihm nach ihrer Landung in Calais, am 2. Juli.

»Wir haben einen Postwagen gemiethet, der uns nach Ghent, Brüssel, Antwerpen und hundert andern Orten bringen soll, auf deren Namen ich mich jetzt nicht besinne und die ich nicht richtig schreiben könnte, wenn ich mich darauf besänne. Wir fuhren heute Nachmittag nach einem Garten, wo die Leute tanzen und wo sie äußerst vergnügt umhersprangen – besonders die Frauen, die in ihren kurzen Unterröcken und hellen Mützen sehr nett aussehen. Ein Herr in blauem Ueberrock und seidener Weste begleitete uns vom Hotel und diente uns als Führer. Er walzte sogar mit einer sehr schmucken Dame (nur um uns herablassend zu zeigen, wie man es machen müsse) und zwar sehr elegant. Nach unserer Rückkehr klingelten wir für unsre Pantoffeln und es stellte sich heraus, daß dieser Herr der Stiefelwichser war.«

Später ging er, wie in vielen nachfolgenden Jahren, zur Erholung in das kleine Seebad Broadstairs, das durch seine anziehende Schilderung berühmt geworden ist. Aus seinen während dieses ersten Besuchs von dort an mich geschriebenen Briefen will ich einige Zeilen über seine ersten Erlebnisse und Eindrücke mittheilen.

In einem Brief vom 3. September meldet er, daß er eben nach einem Krankheitsanfall das Bett verlassen hat. »Es geht mir jetzt weit besser und ich hoffe, morgen das achtzehnte Heft von ›Pickwick‹ anzufangen. Du wirst Dir vorstellen können, wie schlecht ich mich befunden habe, wenn ich Dir sage, daß ich mich volle 24 Stunden des Porters und aller andern Malzextrakte enthalten mußte!!! Ich habe es jedoch gethan – wahrhaftig. . . . Ich habe entdeckt, daß der Wirth des Albionhotels köstlichen Wachholder-Branntwein hat (doch was ist das für Dich, der meine Gefühle nicht theilt), und daß ein Schuhflicker, der meinem Schlafzimmerfenster gegenüber wohnt, ein Katholik ist und jeden Morgen anderthalb Stunden hinter dem Ladentisch mit seinen Andachtsübungen beschäftigt ist. Während der Ebbe bin ich dem Strande entlang von hier nach Ramsgate gegangen und während der Flut habe ich auf eben diesem Strande gesessen, bis ich von der Kälte geschunden war. Ich habe Damen und Herren gesehen, die in Pantoffeln von gelbem Leder über die Erde dahin wandern und sich in vollständigen Anzügen desselben Stoffs im Meere einpökeln. Ich habe umfängliche Herren gesehen, die Stunden lang durch starke Fernröhre nach Nichts ausschauten und die, wenn sie endlich eine Rauchwolke sahen, meinten, es sei ein Dampfboot dahinter und zufrieden und glücklich nach Hause gingen. Ich habe entdeckt, daß unser nächster Nachbar eine Frau und noch Etwas mit seinen übrigen Meubeln unter demselben Dache hat – die Frau taub und blind und das noch Etwas dem Trunke ergeben. Und wenn Du je an das Ende dieses Briefes kommst, so wirst Du entdecken, daß ich mich auf Papier wie auf allem Andern (vielleicht eine Buße für seine Länge und Absurdität) zeichne« &c.

In seinem nächsten Briefe aus Broadstairs vom 7. September findet sich eine Anspielung auf eine der vielen an »Pickwick« begangenen Piraterieen, die sich vor allen andern durch ein schmähendes Vorwort gegen den beraubten Autor auszeichnete. »Ich entsinne mich«, schrieb Dickens, »daß dieses ›Mitglied der Dramatistengesellschaft‹ einmal einen Proceß gegen Chapman (der das City-Theater in Pachtung hatte) anhängig machte, wobei es sich herausstellte, daß besagtes Mitglied einen speciellen Contract eingegangen sei, für fünf Pfd. Sterling sieben Melodramen zu schreiben und daß er, um dies thun zu können, sich ein Zimmer in einer benachbarten Branntwein-Kneipe gemiethet habe. Der Angeklagte plaidirte, der Kläger sei fortwährend betrunken und habe seinen Contract nicht erfüllt. Gut; wenn Pickwick die Veranlassung gewesen ist, ein Paar Schillinge in die von Ungeziefer zerfressenen Taschen eines so bejammernswerthen Geschöpfs zu bringen und ihn vor dem Armenhause oder dem Gefängniß gerettet hat, so mag er immerhin sein kleines Gefäß mit Schmutz über mich ausleeren. Ich bin vollkommen damit zufrieden, daß ich ihm einige Erleichterung verschafft habe. Außerdem scheint er durch Contracte gelitten zu haben.«

Seine eignen Drangsale in dieser Hinsicht waren, wie schon angedeutet, am Schlusse dieses Septembermonats vorläufig ausgeglichen und am Ende des folgenden Monats, nach der Vollendung Pickwick's und der Wiederaufnahme »Oliver Twist's«, welchen letzteren er während der jüngsten Streitigkeiten hatte liegen lassen, machte er seinen ersten Besuch in Brighton. Der Anfang eines am 3. November von dort an mich gerichteten Briefes ist voll Bedauern darüber, daß ich mich ihnen dort nicht hatte anschließen können. »Es ist ein schöner Tag und wir haben ihn uns zu Nutze gemacht, aber bis heute hat es so heftig geweht und gestürmt, daß Kate Dickens' Frau. – D. Uebers. kaum den Kopf aus der Thür stecken konnte. Am Mittwoch war es ein vollständiger Orkan, der Fenster zerbrach, Laden aus den Angeln hob, die Leute umwehte, die Feuer ausblies und allgemeine Bestürzung verursachte. Die Luft wurde mehrere Stunden verdunkelt von einem Schauer schwarzer Hüte (abgetragener), die, wie man meint, von den Köpfen unvorsichtiger Fußgänger in entfernten Theilen der Stadt abgeweht und von den Fischern fleißig aufgelesen wurden. Charles Kean war als »Othello« angekündigt, ›zum Benefiz von Mrs. Sefton, für welchen Zweck er die Güte gehabt habe, seine Abreise nach London diesen einen Tag aufzuschieben‹. Ich habe nicht gehört, ob er ins Theater gekommen ist, aber bin ganz gewiß, daß Niemand sonst hinkam. Heute Abend spielt man » Die Flitterwochen«, bei welcher Veranlassung ich die Absicht habe, mich als Gönner des Theaters zu erweisen. Wir haben hier ein schönes Wohnzimmer, mit einem Bogenfenster und der Aussicht aufs Meer; aber B's Bruder, der mir die ›Löwen‹ von Brighton zeigen sollte, hat sich nicht blicken lassen und meine Vorstellungen über den Ort sind daher etwas beschränkt, gehen in der That nicht über den Pavillon, die Kettenbrücke und das Meer hinaus. Das letztere ist völlig genügend für mich, und falls nicht noch ein männlicher Gefährte sich mir anschließt ( denkst Du, daß das geschehen wird?), werde ich vermuthlich keine andere Bekanntschaft machen. Es freut mich, daß Oliver Dir diesen Monat gefällt und ganz besonders, daß Du das erste Kapitel hervorhebst. Ich hoffe mit Nancy Großes auszurichten. Wenn es mir nur gelingt, die Vorstellung, die ich von ihr und der Frau habe, welche als Contrast zu ihr dienen soll, zu verwirklichen, kann ich, wie ich glaube, Mr. – und allen seinen Werken Trotz bieten. Die Anspielung bezog sich auf den vermeintlichen Verfasser einer Kritik in der Quarterly Review (Okt. 1837), die Dickens das höchste Lob spendete, an deren Schluß der Verfasser jedoch bemerkte. »Es fehlt nicht an Zeichen, daß die besondere Ader des Humors, welche bis jetzt so viel anziehendes Metall geliefert hat, erschöpft ist. . . . Die Wahrheit ist, Dickens schreibt zu viel und zu schnell. . . . Wenn er länger auf dieser Bahn beharrt, so bedarf es keiner Prophetengabe, um sein Schicksal vorherzusagen – er ist aufgestiegen wie eine Rakete und wird herunterfallen wie ein Stock.« Es kostete mir große Mühe, mich an den Abenden nicht mit Fagin und den Andern zu befassen; aber da ich des Ausruhns wegen hierher gekommen bin, habe ich der Versuchung widerstanden und mich standhaft der Arbeit des Nichtsthuns befleißigt. Hast Du je (aber natürlich hast Du) Defoe's » Geschichte des Teufels« gelesen? Was für ein famoses Buch! Ich kaufte es gestern Morgen für ein paar Schillinge und bin seitdem ganz darin versunken. Wir müssen rappelköpfige Genies gewesen sein, daß wir M's Erwiederung nicht anticipirt haben. Grüße ihn bestens von mir. Ich werde H. jetzt gleich sehen. Ich muß bei der Probe der Oper zugegen sein. Sie wird besser werden, als irgend eine Komödie, die je gespielt wurde. Was übrigens Komödien angeht, so starrt mir noch immer das warnende: › Keine Durchfahrt‹ entgegen, so oft ich diese Straße hinunterblicke. Ich habe für nächsten Dienstag Plätze genommen. Wir werden um 6 Uhr zu Hause sein und ich will hoffen, daß ich Dich wenigstens an diesem Abend sehen werde. Ich fürchte, Du wirst diesen Brief für acht Pence äußerst theuer finden; aber wenn die wärmsten Versicherungen der Freundschaft und Anhänglichkeit und die lebhafte Vorfreude auf das Vergnügen Deiner Gesellschaft etwas werth sind, so wirf sie in die Wagschale, zusammen mit hundert guten Wünschen und einer herzlichen Versicherung, daß ich bin &c. Charles Dickens. Kein Raum für den Namenszug – ich will ihn fertig machen, wenn ich wieder an Dich schreibe.«

Der Namenszug, der seine Unterschrift begleitete, ist Jedermann bekannt. Die Anspielung auf die Komödie bezieht sich auf einen Gedanken, der ihn damals lebhaft beschäftigte: ob es ihm nämlich gelingen könne, durch eine solche Leistung die edeln Bemühungen Macready's zu unterstützen, der am Coventgarden-Theater den Versuch machte, der Bühne ihren höhern Zusammenhang mit der Literatur und geistigen Genuß zurückzugeben. Sie verknüpft jetzt auf merkwürdige Weise jene unerfüllte Hoffnung mit dem Titel des einzigen Romans, an dessen Dramatisirung er sich je betheiligte und den Fechter in dem Adelphitheater drei Jahre vor seinem Tode zur Aufführung brachte. DerTitel des Romans war »Keine Durchfahrt« ( No Thorougfare), eine von Dickens und Wilkie Collins gemeinsam verfaßte Weihnachtsgeschichte, die auch von beiden Schriftstellern gemeinsam dramatisirt wurde und während der Saison von 1867–68 mehrere hundert Mal über die Londoner Bühne ging. – D. Uebers.

 

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