Karl Emil Franzos
Ein Kampf ums Recht
Karl Emil Franzos

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Elftes Kapitel

Der ›brave Richter!‹ Der ›große Rächer!‹ . . . Nicht erst nach dem Tode des Mannes, nicht erst im Liede hat der Volksgeist diese Bezeichnungen erfunden. Sie tauchten bereits in den Frühlingstagen auf, die dem Palmsonntag von 1839 folgten, sie gingen fast gleichzeitig mit der unerhörten Kunde von Mund zu Mund, und noch ehe der Kriegserklärung unter der Dorflinde von Zulawce eine einzige Tat gefolgt war. Wie mit Sturmesflügeln war die Kunde von Dorf zu Dorf, von Land zu Land geflogen. Schon eine Woche später wußten es alle Leute in Pokutien und der Marmaros, in Podolien und der Bukowina, und als die Männer in den Dörfern der vier Landschaften am Ostersonntag nach der Predigt vor der Kirche zusammenstanden, hörte man es überall: »Heute entrollt Taras oben seine Fahne! Das ist das beste Zeichen, wie weit es mit uns armen Menschen schon gekommen ist! Er war wie Christus und mußte doch ein Hajdamak werden! Aber wohl uns, er wird auch ferner ein braver Richter sein und darum ein großer Rächer werden!«

Dieses Urteil hatte sich merkwürdig rasch gebildet. Ein ganzes Volk, im tiefsten Herzen aufgerührt, ist fast immer ein gerechter Richter und ein scharfblickender Prophet. Jeder begriff, daß sich hier Unerhörtes ereignet habe. Von Freiwilligen hatte man ja auch früher zuweilen vernommen, aber das waren junge Männer ohne Kind und Rind gewesen, zudem gewalttätige Leute, die nie aus ihrer Abneigung gegen die bestehende Ordnung ein Hehl gemacht hatten. Wie anders dieser friedliche, reiche Familienvater, der einst die Pistole gegen die eigene Stirn gekehrt hatte, um zu verhüten, daß Gewalt durch Gewalt abgewehrt werde! Und das Volksgemüt, in seiner Tiefe aufgerührt, fand auch ein Wort, in dem sich ihm sein Eindruck verkörperte: »Wie Christus!« Wie ein Hauch des Übermenschlichen, des Göttlichen, wehte es diese Geknechteten an, wenn sie sich die Beweggründe des Mannes klar zu machen suchten. Es war nicht Rachsucht, er hatte ja keine persönliche Kränkung erfahren, nicht der Drang, sein verlorenes Eigentum wiederzugewinnen, er hatte ja nichts verloren. Es geschah wirklich nur, »weil man in diesem unglücklichen Lande kein Recht finden kann« und »weil ein Rächer nötig ist«. Nichts vermag das Menschenherz tiefer zu erschüttern, mit stärkeren Schauern der Ehrfurcht zu erfüllen als die selbstlose Tat im Dienste einer gemeinsamen Sache, an deren Heiligkeit es selbst glaubt.

Mit gleicher Herzenswärme begrüßten die Männer der Berge den Entschluß des Taras. Er hatte auf seinen Zügen diese rohen Menschen so ganz für sich zu gewinnen verstanden, daß ihnen schon die Kunde, Taras komme wieder und für immer zu ihnen, eine Freudenbotschaft bedeutete. Nun kam er zudem als Märtyrer der Gewalt, die sie haßten, und mit dem Entschluß, diese Gewalt zu bekriegen. Oft und immer wieder hörte man es während jener Karwoche in allen Einschichten hüben und drüben des ›Schwarzen Sees‹: »Wehe den Weißröcken, wenn sie etwa unserem Taras hier nachstellen wollten!« Er zählte so viele ergebene Bundesgenossen, als es Männer im Bergwald gab.

Günstig genug war auch die Stimmung seiner eigenen Dorfgenossen. Wie viel jene Rede dazu beigetragen hatte, wie viel das Mitleid mit seinem Weibe, wie viel die Eitelkeit der Menschennatur, wäre freilich schwer zu entscheiden gewesen. Einigen hatte er sicherlich das Herz gerührt, anderen wieder schmeichelte es, daß gerade aus ihrer Mitte ein ›Rächer‹ hervorgegangen war, von dessen Ruf das ganze Land erklang. Ein Mann aus Zulawce war nun überall ein willkommener Gast, weil er von dem Helden des Tages erzählen konnte. Und da nun die Hörer so willig Schnaps zahlten, wenn man ihnen nur recht viele schöne Geschichten von ihm erzählte, so logen die Männer von Zulawce dem edlen, reinen Menschen, dem sie das Leben früher so sehr verbittert hatten, nun gern einen dicken Heiligenschein um das Haupt. Der friedlose Mann war plötzlich wieder der Stolz und Liebling seines Dorfes geworden.

Nur wenige klagten dem unglücklichen Manne aufrichtig nach. Aber gerade der Freund, der den Verlust wohl am tiefsten empfand, vermied es, davon zu sprechen. Der Pope hatte den Namen des Taras seit der Trennungsstunde nicht wieder über die Lippen gebracht. Nur seine Gattin ahnte, wie sehr er leide, aber auch sie irrte, wenn sie glaubte, daß nur das Weh um den Freund an ihm zehre.

Es war am Abend des Karfreitag. Erst gegen die neunte Stunde und todmüde von den vielen gottesdienstlichen Verrichtungen des Tages war Leo heimgekommen. Doch aß er nur wenige Bissen und ging sofort in seine Stube. Die Popadja folgte ihm und setzte sich mit ihrer Näherei zur Lampe hin. Da er auf und ab schritt, zuweilen einige Worte vor sich hinmurmelte und dann wieder seinen Spaziergang aufnahm, so glaubte sie, daß er nach seiner Gewohnheit an der nächsten Predigt arbeite, wagte es nicht, ihn anzusprechen, sondern blickte nur verstohlen nach ihm hin. Sonst lag auf seinem Antlitz bei dieser Arbeit ein Ausdruck stiller Verklärung, der die Frau immer mit Rührung erfüllte, diesmal aber gewahrte sie darin einen Zug so herben Wehs, daß sie erschrak und den Mut faßte, ihn anzureden. »Mann«, fragte sie klopfenden Herzens, »du arbeitest wohl an der Predigt für den Ostersonntag?« Er fuhr zusammen und blickte dann düster vor sich hin. »Ich kann nicht! . . .«, flüsterte er so leise, als spräche er mit sich selbst. »Ich kann nicht!« wiederholte er laut, verzweiflungsvoll und schlug die Hände vors Antlitz. Entsetzt fuhr die gute Frau empor und schlang ihre Arme um ihn. »Leo«, schluchzte sie, »was ist dir? Das heißt, ich weiß ja, was es ist! Aber tust du recht, dich so dem Schmerz zu überlassen? Können wir es ändern?« Er schüttelte den Kopf und faßte ihre Hand so fest, als wollte er sich an sie klammern. »Nein, Weib«, stieß er mühsam hervor, »es ist nicht der Schmerz allein. Aber seit diese Menschen vor meinen Augen zugrunde gegangen sind, ist's mir, so oft ich beten will, als wäre ich ein Heuchler!« – »Alle Heiligen!« schrie sie auf. – »Ja, entsetze dich nur«, fuhr er hastig fort, »es ist ja auch fürchterlich. Aber ich kann nichts dafür. Da preisen wir die Allgerechtigkeit Gottes . . .« – »Mann!« rief sie angstvoll. »Wie oft hast du in ähnlichen Fällen gesagt: ›Die Ausgleichung kommt erst im Jenseits.‹ Und nun willst du zweifeln?«

»Im Jenseits«, wiederholte er in demselben ängstlich-hastigen Tone. »Gewiß, Weib, daran wollen wir halten! Aber warum wird die Rechnung in dieser Welt gar so groß? Dieser Mensch! Sein Weib ist wahnsinnig geworden, seine Kinder sind Waisen, und er selbst wird am Galgen sterben, weil – weil er sich in der Verderbnis der Welt ein Kinderherz bewahrt, weil er felsenfest auf Gott und Gerechtigkeit vertraut hat. Es ist entsetzlich . . .« Wieder wollte sie ihn umklammern, er aber rang sich sanft aus ihren Armen und begann abermals in der Stube auf und ab zu gehen, während sie auf das Bänkchen zurücksank und da leise, aber bitterlich fortschluchzte.

Das währte einige Minuten. Endlich blieb er vor ihr stehen, hob ihr tränenfeuchtes Antlitz empor und strich ihr das Haar aus der Stirne. »Fruzia«, sagte er mit zitternder Stimme, »ich verspreche dir, ich will stark sein. Auch damit werde ich fertig werden, aber es braucht Zeit und Kraft . . . Geh zu Bette, beruhige dich . . . Ich werde auch damit fertig werden.« Die Frau gehorchte, aber sie schlief wenig in jener Nacht, und ihre Seele rief immer wieder: »Gott, erbarme dich, gib meinem Manne den Glauben an dich wieder!« Es sind schon viele weisere Gebete zum Himmel emporgestiegen, aber vielleicht keines, das rührender war.

Als der lichte Tag in die Kammer schien, faßte sie neuen Mut und ward darin bestärkt, als sie ihren Gatten wieder mit ruhigem Antlitz zur Kirche gehen sah. Darin aber machte sie sich auf, um gleichfalls eine Pflicht zu erfüllen, die wohl nicht minder heilig war als die seine, um sich der Anusia und ihres Hauswesens anzunehmen.

Die Ärmste hatte in jenen Tagen ihren Freunden bittere Sorge bereitet. Das letzte, klar verständliche Wort, das sich ihren Lippen entrungen hatte, war der Name ihres Gatten gewesen, der Schrei, den sie ihm nachsendete. Von da ab war wieder die sinnlose Raserei des Schmerzes über sie gekommen, und währte fort, Tag um Tag, Nacht um Nacht. Ihr Mund fand kein Wort der Klage, ihr Auge keine Träne; sie fuhr fort, gegen sich selbst zu wüten, und nur jener wilde Jammerschrei entrang sich immer wieder den blassen Lippen, über die keine Labung kam. Wer sie so liegen sah, ging mit der Überzeugung hinweg, daß sie wahnsinnig geworden sei; nur der Pope bewahrte sich die Hoffnung. »Es wird vorübergehen«, tröstete er sein Weib, »ihr Herz ist wilder als das unsere, und darum auch ihr Weh.« In der Tat linderte sich allmählich die Gewalt dieses fieberhaften Schmerzes, die Unglückliche jammerte nicht mehr und nahm Speise und Trank; aber den Freunden war dieser Zustand schauerlicher als der frühere. Denn noch immer kam kein Wort über ihre Lippen, unbeweglich lag sie da, ihr Antlitz war starr und trug den Ausdruck düsteren Brütens. Wenn die Freunde an ihr Lager traten, wenn die Kinder sich herumdrängten, dann hob sie abwehrend die Hand oder rief unwillig: »Lasset mich, ich muß ja nachdenken.« Nun verließ auch den Popen seine Zuversicht. »Ihr nützt keine Menschenhilfe«, sagte er seinem Weibe, »wohl aber muß sie den Kindern werden, die nun Vater und Mutter verloren haben. Du gehst von heute ab zweimal nach dem Hofe und hältst das Hauswesen in Ordnung. Auch für die Wirtschaft muß ich einen Verwalter suchen.« Noch im Laufe des Tages bot sich der rechte Mann selbst an, Hritzko Pomenko, der ältere Sohn des Simeon. »Wenn ich für Taras arbeite«, sagte der Jüngling, »dann ertrage ich es leichter, daß ich ihm nicht folgen durfte.«

Das war am Donnerstag geschehen, am Feste Maria Verkündigung. Anusia schien es nicht zu bemerken, wie andere in ihrem Hause zu walten begannen. Auch am nächsten Tage änderte sich dieser Zustand dumpfen Hinbrütens nicht. Aber als die Popadja am Morgen des Karsamstags bekümmerten Herzens in die Krankenstube trat, da wurde ihr eine freudvolle Überraschung. Das Lager stand leer, und eine Magd rief ihr hastig durchs Fenster zu: »Die Herrin ist im Kuhstall und wäscht eben dem Hritzko gehörig den Kopf, weil er uns aus seines Vaters Wirtschaft den neuen Buttertrog geliehen hat.« In der Tat vernahm die Popadja, als sie dem Stalle zueilte, schon von ferne her die laute, ruhige Stimme der Anusia. »Ich weiß, daß du es gut gemeint hast, mein lieber Hritzko«, sagte sie, »aber nimm dein Zeug nur wieder mit und kümmere dich künftig um die Wirtschaft deines Vaters. Mit der meinigen werde ich selbst fertig.« Auch die Popadja erhielt eine ähnliche Begrüßung, zuerst herzlichen Dank und dann die Weisung: »Nimm aber dies gelbe Tüchlein hier gleich wieder mit. Ich habe es heute morgen am Halse meiner Tereska gefunden, während es doch deinem Henryk gehört. Gottlob, meine Kinder sind keine armen Waisen, so daß fremde Leute sich herausnehmen dürften, sie zu beschenken.« Die gute Frau nahm den Verweis willig hin. »Ach«, rief sie, »schilt mich, wie du willst, ich bin doch glücklich, da ich dich wieder wohlauf finde!« – »Ja«, sagte Anusia mit derselben Ruhe, »ich merkte es wohl, ihr habt mich alle für wahnsinnig gehalten. Ich war es aber nicht, ich mußte nur immer darüber nachdenken, ob mein Taras recht getan hat. Denn sieh, ich habe ihn ja bisher für den herrlichsten Mann der Erde erachtet, und darum war dieser Drang in mir so heftig, daß ich alles andere vergaß.« – »Und du hast doch auch gefunden«, rief Hritzko eifrig, »daß er nicht anders konnte?« – »Ja«, erwiderte sie, »das habe ich gefunden. Ich sehe ein: sein Herz gebot ihm diese Tat, und sehe ein, er ist ein Mensch, der tun muß, was ihm sein Herz gebietet. Daran will ich halten, es muß mir genügen. Denn ob er nun wirklich recht hat oder nicht, habe ich armes Weib nicht ergrübeln können. Mein Verstand sagt: ›Ja! Ja!‹, aber mein Herz schreit dazwischen: ›Nein! Nein!‹ Nun, das wird sich ja zeigen. Wenn er wirklich im Rechte ist, so wird ihm Gott beistehen, und er wird ein Helfer aller werden. Hat er Unrecht begangen, so wird ihn Gott verlassen, und er wird am Galgen sterben. Aber wie dem auch werden mag, uns bleibt er verloren, meine Kinder haben keinen Vater mehr, und darum muß ich ihnen Vater und Mutter zugleich sein.« – »Und wir alle werden dir beistehen«, rief die Popadja. – »So weit es nötig sein wird«, erwiderte sie mit freundlichem Ernste, »will ich es dankend annehmen.« Dann wendete sie sich wieder zu den Mägden und Knechten und fuhr fort, ihre Befehle zu erteilen.

Der Pope erhielt die Freudenkunde erst um die Mittagsstunde, da er zum Essen heimkam. Er ließ es unberührt und eilte zur Freundin, sich mit eigenen Augen von der günstigen Wandlung zu überzeugen. Auch er fand sie ruhig und verständig, nur die Verrichtung, bei der er sie traf, schien ihm töricht. Sie war eben daran, den großen Speicher neben dem Hause zu reinigen und mit Strohsäcken belegen zu lassen. »Was soll dies?« fragte er. – »Für die Herren Soldaten«, erwiderte sie mit bitterem Lächeln. – »Für welche Soldaten?« – »Aber, Hochwürdiger«, erwiderte sie, »weißt du nicht, daß der einstige Herr dieses Hofes mit dem Kaiser im Kriege lebt und daß Weib und Kinder dieses Mannes noch heute hier sitzen? Nun, da ist es ja das Wichtigste, daß man sich dieses Hofes versichere. Denn dadurch wird ja dem Feinde die Möglichkeit abgeschnitten, Weib und Kinder heimlich zu besuchen, auch kann man dann vielleicht durch eine Unbedachtsamkeit seines Weibes etwas von seinem Aufenthalte und seinen Plänen erfahren, und endlich hat man, wenn es nötig werden sollte, Geiseln in der Hand!« – »Nein!« rief Leo. »Alles übrige mag wahr sein, aber dies gewiß nicht. Gegen Weiber und Kinder führt der Kaiser keinen Krieg.« – »Nun, wir werden ja sehen«, erwiderte sie. »Gewiß ist, daß wir die Herren bald hier haben werden, dafür hat schon der Schurke im Schlosse sicherlich in seiner Angst gesorgt. Taras war ja so ehrlich anzukündigen, daß er mit ihm den Anfang machen wird. Mich dauern nur die anderen Leute des Dorfes. Die Einquartierung wird sie hart treffen und wahrscheinlich werden sie deshalb mir und meinen Kindern zürnen. Auch dies sehe ich voraus; ändern kann ich es freilich nicht!« – »Aber vielleicht ich«, rief der Pope, und sein Antlitz färbte sich lebhaft. »Nun weiß ich, was ich morgen in der Predigt zu sagen habe!« – »Wenn es nur nützt. Aber gleichviel, du meinst es gut, und ich bin dir dankbar. Nur eines, Hochwürdiger, eines mußt du mir versprechen.« Sie hielt ihm die Hand hin und richtete sich empor. »Du wirst nicht das Mitleid anrufen für mich und meine Kinder. Das haben wir, so lange mir Gott das Leben und meine gesunden Glieder läßt, nicht nötig.«

Er versprach es und hielt auch am nächsten Tage seine Zusage ein, soweit ihm dies das eigene, von Mitleid überquellende Gemüt gestattete. Seines Weibes Herz jubelte auf, während er predigte, denn so innig hatte sie ihn kaum jemals reden hören. In diesem Jubel achtete sie nicht darauf, daß er heute doch anders sprach als sonst, er erwähnte weder der Allgüte noch der Allgerechtigkeit Gottes, sondern begnügte sich, die Mahnung: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« klar und herzlich auszudeuten. Als er ausführte, daß eine selbstlose Tat der Nächstenliebe immer rührend bleibe, auch wenn sie noch so verfehlt sei, daß sie mindestens von jenen, für die sie vollbracht worden, keinen Groll verdiene, auch wenn ihnen aus dieser Tat Schlimmes zukäme, da wußten alle, was und wen er meinte, und fühlten sich bewegt. Und diese Bewegung wurde stärker, als er von dem gemeinsamen Leid sprach, das alle Menschen verknüpfe, und wie es nur eine Erlösung von diesem Leide gebe: die hilfreiche Güte aller gegen alle und insbesondere der Stärkeren gegen die Schwächeren und Schwächsten, die Witwen, und Waisen. Dann erzählte er von dem herben Lose eines Weibes, namens Josephka, deren Mann in der verwichenen Woche begraben worden. »Wähnen wir nicht«, rief er, »daß wir mehr als unsere Pflicht tun, wenn wir dieser Frau Almosen zuwenden. Aber so arm die Josephka ist, nicht sie ist die unglücklichste Witwe dieses Dorfes! Denn sie weiß ihren Mann eingegangen in jenen Hafen, der uns allen winkt, weiß ihn befreit von jeder Qual, die uns erfüllt. Wir kennen eine andere Witwe, der selbst dieser Trost fehlt, und gegen sie haben wir die heiligere Pflicht zu erfüllen! Der Josephka unsere Almosen, jener andern aber unsere tröstende Liebe, ihr, der jüngsten, unglücklichsten Witwe dieses Dorfes, und ihren Kindern, unseren jüngsten Waisen!«

Die Weiber schluchzten laut, als er geendet hatte, auch die Männer waren tief bewegt. Nur Anusia, auf die sich aller Blicke wendeten, schüttelte leise wie unwillig das Haupt und verließ dann mit demselben Ausdruck starrer Ruhe in den Zügen, den sie während der ganzen Predigt festgehalten hatte, das Gotteshaus. Niemand wagte es, sie anzusprechen, nur die Popadja gesellte sich schweigend zu ihr und geleitete sie nach Hause.

Als die Bauern nach der Predigt vor der Kirche zusammenstanden, war natürlich auch hier, wie um dieselbe Stunde auf fünfzig Meilen im Umkreise, nur von Taras die Rede. Einige wußten zu berichten, daß bereits mehr als hundert Männer und Jünglinge zu ihm gestoßen seien, andere, daß des Kaisers Oberschreiber in Kolomea vor Entsetzen in Ohnmacht gefallen sei, als er von der Kriegserklärung des Taras vernommen habe . . . Alle diese Nachrichten wurden so gläubig hingenommen, als hätte sie der Pope soeben von der Kanzel verkündet. Auch darin stimmten alle überein, daß nun Taras bald im Dorfe erscheinen werde, den Schurken zu ›richten‹.

Nur über den Zeitpunkt hörte man verschiedene Ansichten. »Es kann ja nur heute Nacht sein«, meinte Wassilj, der Fleischer. »Heute entrollt er ja seine Fahne, und er hat versprochen, daß dies sein erstes Werk sein wird.« Andere widersprachen. »Taras ist ein gottesfürchtiger Mann!« rief der Küster, »er wird in den heiligen Ostern nicht arbeiten wollen!« »Und glaubt ihr, daß er etwas Nutzloses tut?« fügte der ›rote Schymko‹ hinzu. »Der Mandatar ist ja gar nicht hier!« »Er ist hier!« rief Giorgi Pomenko. »Der Schurke steckt in einem eisernen Zimmer, das er sich im Schlosse hat einrichten lassen. Und darum wird Taras gewiß schon heute Nacht kommen.« »Ja!« krähte Marko, der Schmied, der Hüne mit der Knabenstimme, »das ist auch meine Meinung. Warum sollte er zögern? Selbst wenn das Hundert noch nicht voll wäre, so kann er ja bei dieser Arbeit auf die Mithilfe jedes ehrlichen und mutigen Mannes in Zulawce zählen.« »Hoho!« rief Wassilj, der Fleischer, »ein ehrlicher Mann bin ich gewiß, und Mut habe ich auch, aber mittun würde ich doch nicht!« »Wirklich?« mischte sich der Korporal laut und höhnisch ein, »ihr könntet euren Helden bei der Arbeit im Stiche lassen?!« »Schweige!« herrschten ihn die Söhne des Simeon an. »Nun ist die Zeit vorbei, wo man den Taras straflos schmähen darf. Wer dies tut, ist ein Hundsfott – und ein Hundsfott, wer ihm nicht gegen den Mandatar hilft!«

Erschreckt drängte sich Jewgeni, der Richter, zwischen die Streitenden. »Also, nämlich!« begann er. »Ein Hundsfott?« rief Wassilj, der Fleischer. »Bürschlein, hütet eure Zungen! Mein Beil hat noch keinem jungen Stier wohlgetan!« »Also, nämlich!« setzte Jewgeni wieder an. »Ein Hajdamak . . .« Aber auch diesmal gedieh seine Rede nicht weiter.

»Höret!« rief der ›rote Schymko‹ eifrig. »Ich glaube, ich habe die rechte Ansicht! Ich warte ab, wie die Sache verläuft. Wenn der Mandatar sich verzweifelt wehrt, wenn Blut fließt, so wäre ich ja ein Narr, meine Haut zu Markte zu tragen! Habe ich die Gemeinde verhindert, den Acker mit Gewalt zu behaupten? Nein, Taras! Habe ich den Prozeß verloren? Wieder Taras! Habe ich mich zum Rächer aufgeworfen und heimse dafür das Lob des ganzen Landes ein? Abermals nur Taras! Nun denn, so mag auch Taras stürmen! Aber wenn der Mandatar und die Knechte überwältigt sind und es nun ans Plündern geht, dann wäre ich gleichfalls ein Narr, die Hände in den Taschen zu halten. Dann greife ich hurtig zu!« »Pfui«, unterbrach ihn Giorgi Pomenko, und auch Wassilj, der Fleischer, rief: »So schäme dich doch. Bist du unter Dieben oder unter ehrlichen Leuten?« »Also, nämlich! . . . Ein Hajdamak, und ich als Richter . . .« begann Jewgeni seine Rede zum dritten Male. Aber wieder wurde er unterbrochen und abermals von der sonoren Stimme des Fleischers.

»Höret«, rief der stattliche Mann und richtete sich hoch auf, »ich will beweisen, daß ich kein Hundsfott bin, wie dieses grüne Bürschlein vorhin rief. Ich bin ein Freund des Taras, wer ihn schmäht, hat es mit mir zu tun! Er ist ein Rächer, der ein heiliges Werk unternimmt. Aber helfen dürfen wir ihm dabei nicht, weil wir an Weib und Kind denken müssen. Daß er daran nicht denkt, ist großherzig, aber ich fühle mich nicht stark genug, es ihm gleichzutun. Wer dem Taras hilft, muß eines von beiden wählen: das Zuchthaus oder den Bergwald. Darum werde ich mich ruhig verhalten!« »Ja, ja«, riefen die Männer. »Wassilj hat recht! Wir wünschen, daß dem Taras sein Werk gelinge, aber helfen dürfen wir dabei leider nicht!« »Leider?« fragte der Korporal höhnisch. »Aber ruhig zusehen dürft ihr?« »Ja«, entgegneten sie, »das wollen wir, und es ist schlimm genug, daß du, ein Dorfsohn, uns dies verargst! Wir wollen zusehen und werden darum diese Nacht durchwachen!« Mit diesem Entschluß trennten sie sich.

Eine halbe Stunde später stürzte der Jungknecht Halko, der als Pferdewärter auf dem Hofe der Anusia diente, in die Stube seiner Gebieterin. »Herrin«, fragte er fliegenden Atems, »ist es denn wahr? Die Leute im Dorfe rufen es einander zu: Taras wird heute um Mitternacht mit hundert Männern das Schloß stürmen! Sie wollen wachen, bis er kommt, aber bloß zusehen. Ist es denn wahr, Herrin?«

Zitternd stand Anusia da, Röte und Blässe wechselten auf ihren Wangen. »Was weiß ich?« entgegnete sie finster. »Ich und mein Haus, wir gehören zum Dorfe und nicht zur Schar des ›Rächers‹. Und gerade weil er einst der Herr dieses Hofes war, ist nun keinerlei Gemeinschaft mehr zwischen uns und ihm! Die anderen mögen zusehen, wir bleiben daheim, und weh dem, der gegen meinen Befehl handelt!«

 


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