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Es war ein schöner, stiller Herbstmorgen in den Bergen. In hellgoldigem Lichte lag das enge, wilde Bergtal, und in tieferem Blau als zur Sommerszeit wölbte sich der Himmel darüber. Hoch droben auf den Gipfeln der Czernahora blitzte bereits, obwohl der September eben erst seinen Einzug gehalten, der weiße frisch gefallene Schnee, aber im Tale wehten die Lüfte noch lau, und da hier kein Laubwerk durch seine bunten Farben an das leise Ersterben des Sommers mahnte und die Tannen noch in ihrem vollen, tiefgrünen Schmucke standen, so verkündete sich der Herbst nur durch die ungemeine Klarheit der Lüfte und zuweilen durch ein Rauschen droben über den Gipfeln der Bäume; die ersten Wandervögel zogen gegen Süden. Sonst lag feierliches Schweigen über dem einsamen Tale, nicht Aug noch Ohr gewahrten eine Spur des Lebendigen; selbst der Czeremosz, der ›wilde Rauscher‹, wie ihn die Lieder nennen, floß nun, da der heiße Sommer eben erst zu Ende war und die Herbstregen noch nicht begonnen hatten, mit sanftem Gemurmel in seinem Bette dahin.
Da durchschnitt plötzlich ein seltsamer, schriller Ton die Stille. Wem er ungewohnt war, mochte unwillkürlich emporblicken, ob sich nicht eben zu seinen Häupten ein wilder Falke im blaugoldigen Äther wiege. Aber diesem Tone folgten andere, immer gedämpfter, immer milder, bis sie sich endlich zu einer eintönigen, klagenden Melodie zusammenfügten, die, anschwellend und verklingend und wieder sich hebend, wie ein Schluchzen durch die herbstliche Landschaft klang. Nun konnte auch ein ungeübtes Ohr erkennen, daß es eine Hirtenschalmei war, deren Töne das Tal durchzitterten. Nur eine kurze Weile währte die Melodie, dann ward sie von einem schrillen Ton unterbrochen, der jenem glich, mit dem sie begonnen hatte. Aber er kam aus anderer Richtung, aus einer andern Schalmei; der erste Hirte verstummte, und der zweite begann nun sein Spiel, das dem seines Gefährten in jedem Tone wie in der Dauer völlig glich und ebenso endete, als eine dritte Schalmei, diesmal schon aus weiter Ferne, mit demselben gellenden Tone einsetzte und nun die Melodie fortführte. So währte jenes melodische Schluchzen fort, von Trift zu Trift, von Gehöft zu Gehöft, und die Menschen, die es vernahmen, bekreuzten sich und sprachen ein Gebet. Dann aber eilten sie heim, holten ihr Feiergewand aus der Truhe und rüsteten zu ernstem Gange. Denn also ist die Sitte in den Bergen: ist ein Mensch in einer dieser Einschichten zum Sterben gekommen, so verkündet es den anderen ein Ruf aus dem Horn, dem Totenhorn, das dumpf und schauerlich klingt wie die Klage des ersten Schmerzes. Zwei Tage später aber ladet das sanfte, milde Klagen der Schalmeien, dem Toten die letzte Ehre zu erweisen.
Diesmal kam der Ruf aus dem größten Gehöfte des Talkessels, dem des Geschlechtes Rosenko. Die Leute hatten dem Totenhorn erschreckt gelauscht, von der Furcht erfaßt, daß es dem alten Hilarion gelte; bei dem Klange der Schalmei erschraken sie nicht mehr, sie wußten, daß es nur zum Begräbnisse des greisen Fremdlings rufe, der unter dem schützenden Dache jenes Hofes einen weichen Sterbepfühl gefunden. Der alte Jemilian war verschieden.
An die zehn Tage hatte er mit dem Tode gerungen, auch in diesem letzten Kampfe tapfer, mannhaft und ergeben. Hilarion, nicht bloß der Richter und Führer, sondern auch der Arzt seines Geschlechtes, hatte vergeblich die Wunde treu gewartet und die sinkenden Kräfte durch allerlei Tränke zu stärken gesucht. Und vergeblich war die fast leidenschaftliche Sorgfalt gewesen, mit der Tatiana Tag und Nacht den Todwunden bewacht, gelabt und getröstet hatte. Die arme Dirne, die bisher verschüchtert unter den fremden Menschen umhergeschlichen, fand nun die Gelegenheit, sich nützlich zu machen und dem Hetman den Dank für ihre Rettung darzubringen. Jemilian ließ sich all die Pflege und Sorgfalt kaum gefallen. »Ich weiß ja, daß ich sterben muß«, sagte er immer wieder. »Und es ist gut so. Denn ich habe ja nur noch eins im Leben zu erfüllen, und auch diese Last wird und kann mir Gottes Erbarmung noch vor dem Sterben abnehmen.«
Was dieses eine sei, das ihn noch an die Erde kette, erfuhr vorläufig niemand, selbst Taras nicht, der sich in edelmütigem Wetteifer mit dem Mädchen um den Todwunden mühte. Nur einmal, da der Hetman, einer harten Pflicht zu genügen, für mehrere Tage scheiden mußte, schien diesem das Geheimnis über die Lippen treten zu wollen. Es war dies kurz nach der Heimkehr aus Czernowitz. Taras hatte die Nachricht erhalten, daß der ›grüne Giorgi‹, durch den Zuzug mehrerer Schelme aus der aufgelösten Bande verstärkt, plötzlich wieder sein Unwesen treibe. Sofort stand ihm der Entschluß fest, die Elenden für immer unschädlich zu machen, und Jemilian bestärkte ihn in diesem Vorsatz. Als jedoch die kampfgerüstete Schar bereits vor dem Hofe harrte und Taras noch einmal an sein Lager trat, Abschied von ihm zu nehmen, wurde der Verwundete plötzlich sehr unruhig und blickte unschlüssig auf das Mädchen. Tatiana verstand den Blick und ging hinaus. »Herr!« sagte der Kranke, »du bleibst für mehrere Tage aus, und ich könnte in der Zwischenzeit sterben, und da möchte ich dir noch eines sagen!« »Ich werde dich lebend finden«, tröstete Taras, »und, so Gott will, stärker, als ich dich verlasse. Aber wenn es dir das Herz erleichtert . . .« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er endlich zögernd, »ich will lieber noch warten, bis ich den Tod deutlich am Herzen fühle. Denn wenn ich vielleicht doch durch ein Wunder davonkäme und es dir gesagt hätte, das wäre ja entsetzlich! Nein, geh mit Gott, ich warte noch!«
Taras mußte, während er an der Spitze seiner Schar dahinritt, viel an diese rätselhaften Worte denken. Dann aber nahm sein nächstes Vorhaben seine Gedanken völlig in Anspruch. Es glückte gleichfalls, wenn auch nicht ganz, denn wohl gelang es ihm, die Räuber zu umzingeln, aber der ›grüne Giorgi‹ war nicht darunter. So mußte sich Taras begnügen, seine Spießgesellen zu richten. Die beiden gefährlichsten unter ihnen ließ er erschießen, den anderen allen die Waffen nehmen und die Häupter kahl scheren.
Als er wieder den Hof der Rosenko betrat, fand er den Knecht noch am Leben, aber sichtlich seiner letzten Stunde nahe. Gleichwohl begann der Alte nicht wieder von seinem Geheimnis zu sprechen, und Taras mochte ihn nicht darum fragen. Erst als er den Tod wirklich am Herzen fühlte, erschlossen sich seine Lippen. Es war um Mitternacht, er war lange mit geschlossenen Augen dagelegen, dann aber versuchte er sich plötzlich aufzurichten und starrte dem schönen, bleichen Mädchen, welches an seinem Lager saß, ängstlich ins Antlitz. »Tatiana«, flüsterte er, »um Gott! Wo ist mein Herr? Hole ihn, ich sterbe.« Sie eilte, den Wunsch zu erfüllen. Taras trat an das Lager des Sterbenden und faßte seine Hand. »Schicke das Mädchen fort«, flüsterte dieser. Und erst als Tatiana gegangen war, begann er: »Ich habe dir ein Geständnis zu machen und ein Versprechen abzufordern. Höre, ein Sterbender kann nicht viele Worte machen. Weißt du, was deiner schließlich doch harrt?« Taras starrte schweigend zu Boden. »Der Henker!« flüsterte der Alte schaudernd. »Das ist ein schlimmer Tod, Taras! Viele Qual und dann die große Schmach für die Nachkommen! Und darum war ich fest entschlossen, dich, meinen armen, lieben, lieben Herrn, davor zu bewahren. Ich schwor mir zu, wenn wir etwa umstellt wären und uns keinerlei Hoffnung bliebe, lebend zu entrinnen, dich mit eigener Hand zu erschießen.« – »Jemilian!« – »Entsetze dich nur, es ist die Wahrheit, und nie hat dir ein Mensch größere Liebe erwiesen als ich, da ich mir dies zuschwor. Denn was es für mich bedeutet hätte, dich zu töten, kannst du dir selbst sagen. Aber du bist der edelste Mensch, der je gelebt hat, und ein solcher Mensch soll nicht langsam und stückweise durch des Henkers Strick zu Tode gequält werden . . .«
Taras war, keines Wortes mächtig, neben dem Lager in die Knie gesunken und barg sein Haupt in die Felldecke, welche die Glieder des Sterbenden umhüllte. Dieser aber fuhr fort: »Gott wehrt es mir, dir diesen letzten Liebesdienst zu erweisen. Aber ich kann nicht ruhig sterben, ehe ich dich und die Deinigen, die lieben Kindlein, die ich mit aufziehen geholfen habe, vor diesem Schicksal bewahrt weiß. Darum bitte ich dich, versprich es mir, dich selbst, wenn es zum Äußersten kommt, davor zu retten.« – »Ich kann nicht«, stöhnte Taras. – »Warum? Armer Herr! Du fürchtest ja den Galgen so sehr! Nicht den Tod, aber den Strick! Der bloße Gedanke erfüllt dich mit entsetzlichem Ekel. Ich weiß es, Herr, ich kenne dich ja so genau! Aus keinem andern Grunde hast du ja selbst dem schlimmsten Schurken, den wir gerichtet haben, den Tod durch Pulver und Blei gegönnt. Und dir selbst willst du ihn versagen! Warum?« – »Es wäre eine Feigheit und eine Versündigung gegen Gott!« – »Gott wird deine Seele mit gleicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit richten, ob du einen Monat früher oder später vor seinen Richterstuhl trittst! . . . Und gar eine Feigheit! Ich verstehe dich nicht.« – »Eine Feigheit!« rief Taras leidenschaftlich. »Mir ist durch mein Schicksal die Pflicht auferlegt, ein Hüter des Rechts zu sein und Gottes sichtbaren Willen auf Erden, zu vollstrecken. Von dieser Pflicht darf ich mich nicht selbst befreien. Nehmen sie mich gefangen, so werde ich noch immer hoffen, ihnen entrinnen und meine Pflicht ferner erfüllen zu können. Und selbst im Angesichte des Galgens wird mich die Hoffnung nicht verlassen, daß Gott seinen Streiter durch ein Wunder errettet.«
Der Sterbende erwiderte nichts. Er sank in die Kissen zurück und schloß die Augen. Taras beugte sich über ihn. Da schlug er diese treuen Augen noch einmal auf und flüsterte kaum vernehmlich: »Leb wohl, lieber Herr, und möge deine Sterbestunde leicht sein.« Dann atmete er tief auf und starb.
Sie bahrten ihn am nächsten Morgen auf, wie es Sitte ist in den Bergen. Zu Häupten ein mächtiges Kruzifix, aber zur Rechten ein Krüglein Wasser, zur Linken Salz und Brot, am Fuße das Fell eines eben geschlachteten Zickleins ›für die anderen Götter‹. Zwei Tage später begruben sie ihn unter einer mächtigen Tanne des Dembronia-Waldes. Kein Priester sprach seinen Segen, nur der alte Hilarion flüsterte, ehe sie die Grube schlossen, seine uralten Sprüche, die sich, gleich geehrt wie unverstanden, seit grauen Tagen bis heute vererbt haben. Sie schaufelten die Erde darüber, schossen ihre Flinten ab und kerbten vorne ein großes Kreuz in den Baum, zur Rechten und Linken aber seltsame Zeichen ›für die anderen Götter‹.
Dann schritten sie aus dem Walde zurück nach dem Hofe, wo das Trauermahl gerüstet war. Vor der Hecke gewahrte Taras einen Jüngling, bei dessen Anblick er vor Überraschung aufschrie. Es war der Jungknecht Halko. Mit feuchten Augen stürzte der treue Bursche auf seinen Herrn zu und küßte seine Hand, »Gottlob«, schluchzte er, »nun hat alle Trübsal ein Ende! Dein Weib und deine Kinder sind frei! Sie harren deiner im Weiler Magura, eine Stunde von hier.« – »Mein Pferd!« rief Taras seinen Leuten zu. »Und warum sind sie nicht hierhergekommen?« – »Der beiden Herren wegen. Die wollten nicht weiter und meinten: Taras soll nicht vermuten, daß wir sein Lager auskundschaften wollen. Nämlich unser Väterchen Leo und der alte Herr aus der Stadt, welcher einst deine Sache vor den Schreibern geführt hat.« – »Was wollen sie von mir?« – »Nur Gutes, Herr! Die Gemeinde soll ihren Acker zurückerhalten und alles Unrecht gutgemacht werden.« Taras erbleichte, dann schlug glühende Röte über sein Antlitz, um wieder einer fahlen Blässe zu weichen. Doch tat er keine Frage mehr. Er bestieg sein Pferd und jagte so rasch den Pfad talab dem Weiler zu, daß ihm Halko kaum zu folgen vermochte . . .
Das Wiedersehen der beiden Gatten war tief ergreifend. Als Taras vom Pferde sprang, stürzte er, ohne die Umstehenden eines Blickes zu würdigen, auf Anusia zu, die mit einem wilden Schrei in seine Arme flog. So standen die beiden lange in innigster Umarmung, ohne ein Wort zu sprechen; nur ihre Tränen flossen vereint. Dann machte sich Taras frei und stürzte auf die Kinder zu. Die kleine Tereska begann vor Schreck zu weinen, als der fremde, grauhaarige Mann sie emporriß und ihr Antlitz mit Küssen bedeckte; das Kind erkannte den Vater nicht, ebenso der jüngere Knabe. Nur der älteste, Wassilj, rief schluchzend: »Ach, Vater, du bist gewiß recht krank gewesen!« Taras erwiderte nichts, er nahm den Knaben aufs Knie, liebkoste ihn innig und schloß ihm den Mund mit Küssen, wenn er sprechen wollte. Es war, als fürchtete er, daß ihm jedes Wort die Seligkeit dieser Stunde zerstören müßte. Auch mied er es ängstlich, den Popen oder den Advokaten auch nur anzublicken, geschweige denn zu begrüßen. Immer wieder hob er die Kinder auf seinen Schoß, zog dann sein Weib neben sich nieder und strich ihr mit sanfter Hand über das verhärmte Antlitz und die früh gefurchte Stirn. »Sprich nicht«, bat er, »kein Wort.« Sie nickte, lehnte das Haupt an seine Brust und weinte sich da still aus. Die beiden Herren hielten sich weit abseits und lugten nur zuweilen verstohlen auf das rührende Bild. »Es wird gelingen«, flüsterte Starkowski dem Priester zu. »Möge es Gott so wenden«, erwiderte dieser bewegt; er schien die Zuversicht seines Begleiters nicht zu teilen.
So mochte eine halbe Stunde seit der Ankunft des Taras verflossen sein. Da richtete er sich auf und küßte und umarmte noch einmal sein Weib und die Kinder mit einer leidenschaftlichen Innigkeit, als gälte es, wieder Abschied von ihnen zu nehmen. Dann trat er auf die beiden zu und begrüßte sie freundlich, wenn auch gedrückt, fast bange. »Und was bringt ihr mir?« fragte er endlich.
»Uns sendet das Kreisamt«, begann Starkowski, zog ein Schriftstück hervor, übersetzte und erläuterte es. Es war ein Ersuchsschreiben des Kreishauptmanns, an die beiden Herren gerichtet, das jenes Reskript der Wiener Regierung in getreuer Umschreibung mitteilte. »Morgen«, schloß der Advokat, »trifft der Kreishauptmann in Zulawce ein, die Untersuchung zu führen. Da er alles aufbieten wird, die Wahrheit zu erkunden, so wird der Acker ohne Zweifel wieder der Gemeinde zugesprochen und der Frevel des Meineids sowohl an jenen, die ihn begingen, als auch an dem Schurken, der ihn anstiftete, auf das strengste gestraft werden. Dies wird, wie ich dir verlesen habe, jedenfalls geschehen, wie immer dein Entschluß lauten mag; denn nicht aus Furcht vor dir, sondern um des Rechtes willen ist es angeordnet. Dich aber fragen wir, ob du nun noch einen Grund hast, dem Kaiser, dem Hüter und Schützer des Rechts, den Gehorsam zu weigern?«
Taras stand schwer atmend da; aber er erwiderte nichts. »Mann!« schrie Anusia gellend auf, »du besinnst dich noch?«
»Laß ihn«, bat der Pope, »gönne uns die Zeit, die Sache ruhig zu erörtern . . . Taras, ich will nicht von der Klugheit sprechen, die dir gebieten sollte, diese Gelegenheit zu ergreifen, um für dich, um für deiner Kinder Ruf und künftiges Gedeihen dein Leben vor dem Henker zu bewahren. Denn ich weiß ja, daß du niemals auf dich und die Deinen aus Klugheit Rücksicht genommen, sondern stets nur getan hast, was dir dein Gewissen gebot. Wohlan denn, erlaubt es dir dein Gewissen, ferner eigenmächtig und gewalttätig eine Aufgabe zu erfüllen, die von denen, die Gott hierzu berufen, treulich in Ruhe und Frieden gelöst wird?«
»Darauf eben kommt es an«, erwiderte Taras. »Ich habe diese Überzeugung auch jetzt noch nicht. In Zulawce sind schwere Verbrechen geschehen, Raub und Meineid. Ich habe sie rechtzeitig angezeigt, habe keine Opfer gescheut, Hilfe zu erwirken, es war vergeblich! Der Räuber behielt den Raub, der Meineidige verspottete den Rechtlichen. Mehr als drei Jahre sind es her, seit dies geschehen ist; die Sache war abgetan für immer. Nun plötzlich erinnern sich die ›Schreiber‹ ihrer Pflicht. Warum? Wie kommen die Herren dazu, die Schriften jetzt plötzlich wieder zu prüfen? Weil ich die ›Schreiber‹ seit einem halben Jahre so oft und so nachdrücklich an mich gemahnt habe. Wäre der Prozeß wieder aufgenommen worden, wenn ich mich, nach deinem Rate, Herr Doktor, still gefügt und als friedlicher Hausvater auf meinem Hofe geblieben wäre?«
»Vielleicht doch!« erwiderte der Advokat fest. »Denn es ist immerhin denkbar, daß ein anderer Zufall –«
»Das genügt!« fiel ihm Taras ins Wort. »Du gibst zu: es hing vom Zufall ab, und dieser Zufall bestand darin, daß ich zu den Waffen griff. Ohne mein Zutun wären also Frevel und Frevler höchstwahrscheinlich fröhlich weiter gediehen. Dies darf aber nicht sein, denn es widerstreitet dem Willen Gottes. So beweist auch dieser Fall, wie notwendig ein Richter und Rächer diesem Lande ist. Nun ist mir aber diese Sache nicht das einzige, was ich zu sühnen habe, ja nicht einmal das Wichtigste. Darum habe ich mich, da ich viel größeres Unrecht auszugleichen hatte und meinen Dorfgenossen zutrauen konnte, daß sie sich nun selbst zu ihrem Rechte verhelfen würden, nicht weiter um den Acker gekümmert. Und da ich ferner erkannte, daß es Schurken im Lande gibt, die zwar nicht strafwürdiger, aber schädlicher sind als der Wenzel Hajek, so habe ich beschlossen, ihn nur dann zu richten, wenn es ohne besondere Opfer und Zeitverlust geschehen könnte, und lieber jene anderen zu beseitigen, die noch schaden können. Nun denn, wie steht es um jene anderen Fälle? Wer hätte, um nur eines zu nennen, die Bauern von Kossowince von dem Unhold befreit, wenn es mir nicht gelungen wäre? Wer bürgt mir, daß sich ähnliche Dinge nicht auch ferner wiederholen, einmal, zehnmal, hundertmal? Könnt ihr diese Bürgschaft übernehmen, könnt ihr mir verbürgen, daß fortan kein Unterdrückter in diesem Lande vergeblich nach seinem Rechte rufen wird?«
»Das nicht«, sagte der Advokat, »aber . . .«
»Jedes weitere Wort ist überflüssig. Ich bleibe dabei, ein Richter und Rächer war notwendig und wird notwendig sein. Und darum . . .«
»Taras!« schrie Anusia abermals gellend auf. »Überlege, was du sagst. Es geht um Tod und Leben!«
Wieder trat der Pfarrer dazwischen. »Höre, Taras«, sagte er und zwang sich in Stimme und Gebärde zur Ruhe, »ich verdamme dich nicht um deiner Worte willen, die du uns bisher gesagt hast. Sie entsprechen deiner Art und Gesinnung, die mir ja seit Jahren wohlbekannt ist. Und wie ein Strauch nicht plötzlich rote statt grüner Blätter trägt, so konntest du uns nicht plötzlich anders antworten. Aber verdammenswert wärest du, wenn du das, was ich dir nun sagen will und woran du nicht gedacht zu haben scheinst, in den Wind schlagen würdest! Also höre! Du bist in großem Irrtum, wenn du glaubst, daß die Gesetze schlecht sind oder daß der Kaiser den Richtern befohlen hat, den armen Bauern gegen die reichen Herren kein Recht zu gewähren. Die Gesetze sind vortrefflich, und der Kaiser läßt seine Beamten die strengste Unparteilichkeit beschwören. Und ebenso bist du im Irrtum, wenn du glaubst, daß die Richter zuweilen Unrecht tun, weil sie es tun wollen.« Taras machte eine heftige Bewegung, er wollte sprechen. »Ich weiß, was du sagen willst«, rief der Pope, »du willst mich an die Verhaftung deines Weibes, deiner Kinder erinnern. Von diesem einzelnen Falle später. Im allgemeinen ist der Wille des Richters ebenso gut, als ob es die Gesetze sind. Fasse alle Erfahrungen deines Lebens zusammen und antworte mir so wahr und offen, als ob du vor Gottes Thron stündest: Sind dir mehr gerechte als ungerechte Entscheidungen bekannt geworden oder etwa umgekehrt?«
»Ich habe oft darüber nachgedacht«, erwiderte Taras. »Es sind mir wirklich mehr gerechte als ungerechte Urteile bekannt geworden. Aber was soll dies, was kann dies beweisen?«
»Es beweist, daß nicht die Böswilligkeit der Richter Schuld daran trägt, wenn hier und da eine ungerechte Entscheidung erfolgt. Woran aber liegt nun die Schuld? Erstens an einer unglückseligen Einrichtung aus alter Zeit. Der Gutsherr ist zugleich Richter seiner Untertanen, also zuweilen Richter in eigener Sache, und dies ist vom Übel. Das sehen nicht bloß wir beide ein, sondern auch der Kaiser und seine Räte. Aber gewaltsam läßt sich dies nicht ändern, denn die Gutsherren üben ihre Gerichtsbarkeit kraft wohlverbrieften Rechts, das sie sich vom Landesherrn in alter Zeit um bares Geld erkauft haben. In dieser unglücklichen Einrichtung liegt also der Grund, warum hier vielleicht mehr Unrecht geschieht als anderwärts. Aber auch anderwärts, Taras, ja überall auf Erden geschieht zuweilen Unrecht, und jene herrliche, tröstliche Leiter, die du dir einst erträumt hast, steht nirgendwo so ehern und unerschütterlich, wie du sie wähnst. Warum? Weil es ja nicht Engel Gottes sind, die über dem Recht auf Erden wachen, sondern nur eben arme, sündige Menschen wie du und ich. Gott allein ist allweise, allwissend und allgerecht; des Menschen Erbteil aber ist es, die Dinge nie so zu beurteilen, wie sie sind, sondern wie sie ihm erscheinen. Es mag sein, daß es unter den Richtern zuweilen auch böse Menschen gibt; aber nicht daran liegt es, wenn das Unrecht unsterblich ist auf Erden, sondern an der Schwäche unserer Art. Alles Menschenwerk ist Stückwerk, volle Gerechtigkeit ist nur bei Gott zu finden, und darum wirst du deinen Kampf, wenn du ihn auch jetzt noch fortsetzest, nicht gegen den Kaiser, nicht gegen das Unrecht führen, sondern gegen das Wesen der Menschen, wie es nun einmal ist.«
Taras blickte lange sinnend vor sich nieder; dann schüttelte er das Haupt. »Ich verstehe, was du sagst«, erwiderte er, »und im einzelnen magst du recht haben. Allein das Wichtigste kann ich dir nicht glauben: daß ein Mensch, der ehrlichen Willens und bei gesunder Vernunft ist, ungerecht sein müßte. Und darum fahre ich fort in meinem heiligen Werke, denn ich habe nicht nach den Gründen zu fragen, warum ein Unrecht geschehen ist, ob aus Irrtum, aus Dummheit oder aus Böswilligkeit eines ›Schreibers‹. Genug, daß es geschehen und daher getilgt werden muß.«
»Verblendeter!« rief der Pope. »Bist du dir auch darüber klar, was mehr gegen den Willen Gottes streitet: ob die Tatsache, daß irgendein Bauer dem Gutsherrn monatlich zehn Stunden länger als gebührend frondet, oder die, daß du das Land mit Mord und Entsetzen füllest? Ist nicht schon um deinetwillen von anderen Unrecht verübt worden? Haben sich nicht, durch dich ermutigt, die Bauern gegen ihre Herren erhoben, ihnen den Tribut geweigert, sie am Leben bedroht? Schreit nicht das Blut der Soldaten gegen dich, die im Kampfe mit dir gefallen sind, wie auch das Blut deiner eigenen Leute? Und hast du etwa vergessen, was in Zulawce geschehen ist?«
»Das werde ich zu verantworten wissen«, erwiderte Taras. »Das Recht steht höher als jedes Menschenleben. Dies sagt mir mein Gewissen und meine Vernunft, denn auf Recht ist die Welt gebaut.«
»Auf Recht ist die Welt gebaut!« rief der Pope. »Wer aber sagt dir, daß du immer einen gerechten Spruch gefällt hast? Bist du denn nicht auch ein Mensch wie wir, dem Irrtum unterworfen?«
»Auch dies sagt mir mein Gewissen und das Vertrauen auf die Gnade Gottes, der mit seinem Streiter ist. Du kennst ja meine Taten, nenne mir eine ungerechte darunter.«
»Der alte Rat Hochenau!«
»Er hat einem Frevel beigestimmt und sich nicht dagegen gestemmt, aus Furcht vor irdischer Strafe.«
»Taras«, sagte der Pope, und es war ihm deutlich abzusehen, wie mühsam er sich zur Ruhe zwang, »deine einzige Entschuldigung kann es sein, daß du nicht genau wußtest, wie die Sache . . .«
»Ich wußte es«, fiel Taras ein, »und glaubte ihm sogar, daß die Schreiber in Kolomea ihre Entlassung eingereicht hatten, um den Befehl aus Lemberg nicht ausführen zu müssen. Aber was folgt daraus? Du wirst mir einwenden, daß sie, nachdem ihr Gesuch abgewiesen war, durch ihren Eid gebunden waren, auf dem Posten zu bleiben und die Befehle ihrer Oberen zu erfüllen. Ich aber sage dir: zu einem Frevel verpflichtet kein Eid!«
Der Advokat trat dazwischen. »Darüber wäre jeder Streit vergeblich! Aber antworte doch, wie steht es um die Zukunft? Woher schöpfst du die Zuversicht, daß du allein nie einen ungerechten Spruch fällen wirst?«
»Vor allem«, erwiderte Taras feierlich, »aus dem Vertrauen in die Gnade Gottes. Er sieht mein Herz, er weiß, daß ich nur um seinetwillen den Kampf begonnen habe, und wird mich darum nicht schmählich enden lassen. Aber auch davon abgesehen, bin ich überzeugt, daß ein ehrlicher, vernünftiger, vorsichtiger Mann stets das Rechte finden kann.«
»Wie aber, wenn die Stunde käme, da auch du einsehen mußt, daß du Unrecht geübt hast?«
»Es wäre die unglückseligste Stunde meines Lebens«, erwiderte Taras dumpf, »und in meinem Munde hat dies Wort Bedeutung . . . Ich habe bisher nie darüber nachgedacht, was ich dann zu tun hätte, doch ergibt es sich ja von selbst. Duldet es Gott, daß ich Unrecht tue, dann war er nie mit mir. Dann werde ich erkennen, daß es unmöglich ist, jene Leiter zwischen Himmel und Erde so aufzurichten, wie es mir vorgeschwebt hat. Dann bin ich kein Rächer mehr, sondern ein Frevler, der selbst Strafe verdient, statt andere zu richten. Und komme ich zu dieser Überzeugung, so stelle ich mich selbst euren Gerichten. Früher jedoch nicht.«
Eine lange Stille folgte dieser Rede. »Ist dies dein letztes Wort?« klang endlich eine heisere, halb erstickte Stimme in diese Stille hinein. Es war Anusia. Totenfahl, das Haupt vorgebeugt, stand sie da, an allen Gliedern zitternd. Es war, als müßte sie im nächsten Augenblicke zusammenbrechen. Die beiden Männer erschraken, auch Taras fuhr zusammen. »Anusia«, begann er, »du weißt . . .!« – »Kein Wort, nur deine Antwort!« Sie trat dicht an ihn heran und fuhr in demselben unheimlichen Flüstertone fort: »Aber damit du genau wissest, was von dieser Antwort abhängt, will ich es dir sagen. Ich habe bisher nur das eine gewußt: daß du getan hast, was dir dein Gewissen gebot, und weil du einst edler und gerechter warst als alle übrigen Menschen, die ich kannte, zwang ich mich, auch ferner nicht an deinem Edelmut und deiner Gerechtigkeit zu zweifeln. Ich fand mich darein, den Kindern den Vater zu ersetzen, der Wirtschaft den Herrn, meinem eigenen Herzen freilich bist du bis zu dieser Stunde unersetzlich geblieben. Aber wenn es mir vor Weh brechen wollte, so tröstete ich mich: ›Sei stolz, du bist ja nicht eines gewöhnlichen Mannes Weib! Hast du dir alles Glück und allen Stolz, der dir früher daraus zukam, willig gefallen lassen, so trage nun auch den Schmerz. Er hat es sich zum Ziele gesetzt, der Gemeinde den Acker zu erkämpfen, und weil er es nicht im Frieden erreichen konnte, so strebt er es mit Gewalt an. Und weil unser gutes Recht mit ihm ist, so wird er siegen und dann wieder heimkehren und mit ihm alles Glück.‹ So habe ich bisher gedacht und war daher trunken vor Seligkeit, als mir die Herren sagten, was sie dir zu verkünden hätten. Dann freilich erfuhr ich, daß du deshalb nicht straflos ausgehen, sondern wohl lange Jahre im Kerker bleiben müßtest. Aber auch darein fand ich mich. Er ist deshalb doch ein Held, dachte ich, der Kerker wird und kann ihn nicht beflecken! Und tausendmal besser ist es doch, wenn er diese Jahre abbüßt, als wie es bisher war, denn, Taras, was es heißt, das Weib des ›Rächers‹ zu sein, während er im Lande umhertobt, das – sagt kein Wort! . . . Nun aber willst du das Furchtbarste auf mich und diese Kinder häufen, eine Last von Schmach und Elend, unter der wir zusammenbrechen werden.«
»Anusia!«
»Schweig! Auch ich habe lange genug geschwiegen. Kehrst du jetzt nicht zurück, da der Acker erkämpft ist, so bist du in meinen Augen, wie in denen aller rechtlichen und vernünftigen Menschen kein edler und gerechter Mann mehr, den sein Gewissen zum Kämpfer und Rächer gemacht hat, sondern ein elender Mordbrenner, der aus Lust am Frevel . . .«
»Weib!«
»Ob ich dein Weib noch bin, hängt von deiner Antwort ab. Ein Mordbrenner ist nicht mehr mein Gatte, diesen Kindern nicht mehr ein Vater. Nun – antworte: willst du jetzt diesen Herren folgen oder nicht?«
»Ich kann nicht!«
»Dann geh – und selbst in deiner Sterbestunde soll mich dein Auge vergeblich . . .« Sie brachte die furchtbaren Worte nicht ganz über die Lippen; sie brach zusammen, nicht ohnmächtig, sondern vor Übermaß des Schmerzes und des Zornes . . .
Der unglückliche Mann schlug die Hände vors Gesicht. Dann ging er langsam, wankenden Schrittes, ohne wieder den Blick zu erheben, auf sein Pferd zu, band es los, schwang sich mühsam in den Sattel und ritt, ohne umzublicken, wieder dem ›Schwarzen See‹ zu.