Karl Emil Franzos
Ein Kampf ums Recht
Karl Emil Franzos

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel

Am selben Tage, an dem die Herren in Kolomea den Kriegsplan gegen den ›Rächer‹ feststellten, dem Festtage Christi Himmelfahrt, vollzog sich im Dorfe Zulawce eine längst vorbereitete, merkwürdige Handlung.

Von allen Bewohnern des Kreises befanden sich sicherlich die Bauern dieses Dorfes in der seltsamsten Lage. Während es den anderen freistand, sich, je nach Gesinnung und Verhältnissen, der Sache des Kreisamts oder der des Taras anzuschließen, war ihnen beides unmöglich. Von Taras trennte sie der tiefe Groll über den Schimpf, den die Sendlinge statt der erwarteten Hilfe heimgebracht hatten, aber nicht geringer war die Entrüstung gegen die Beamten und Soldaten. So herrschte, nachdem die Kompanie abgezogen war, durch einige Tage die größte Verwirrung in den Köpfen und Gemütern. Doch gewährte gerade diese Zerfahrenheit der Meinungen dem Popen die beste Mithilfe in seinem schweren Werke, Gewalttat zu verhüten; auf eigene Faust wagte sich doch niemand an die Plünderung des nun schutzlosen Kastells. Da jedoch der wackere Jewgeni ganz einflußlos war, so bewirkte Vater Leo, von einigen besonnenen Hausvätern unterstützt, die Wahl eines Ausschusses, der die Verhältnisse des Dorfes regeln sollte. Auch unter diesen sechs Männern währte zwar der Streit der Meinungen fort, doch entwickelte sich aus demselben allmählich ein Übereinkommen, allerdings so seltener Art, daß es wohl in der Geschichte dieser Landschaft einzig dasteht. Sie fanden sich nämlich in folgenden Beschlüssen zusammen. »Da Taras sich von uns losgesagt und des Kaisers Schreiber uns Unrecht getan hat, so wollen wir von beiden nichts mehr wissen, weder jetzt noch in alle Zeit. Von beiden zurückgestoßen und uns selbst überlassen, werden wir, Männer von Zulawce, von nun ab auch unsere Angelegenheiten selbst ordnen und als Führer nur unseren selbstgewählten Richter anerkennen. Wir werden keinem Fremden Blut- oder Geldsteuer entrichten, keinem Herrn Abgaben leisten, aber stets rechtliche und friedfertige Leute bleiben, die niemanden angreifen, niemandes Eigentum kränken. Wir nehmen den Acker zurück, der uns gebührt, aber das Kastell und sämtliche Felder des Grafen werden von uns gewahrt, als gehörten sie einem unserer Brüder zu, der in der Fremde verweilt.« So kam der Ordnungsausschuß von Zulawce, ohne seine klassischen Vorbilder zu kennen, auf den Gedanken der Republik und schlug der Gemeinde vor, den Simeon Pomenko zum ersten ›freien Richter‹ zu wählen.

Alle stimmten begeistert zu, und am Festtage Christi Himmelfahrt fand eine ›große Versammlung‹ statt, um die neue Ordnung feierlich zu verkünden. Der Platz war so dicht von drängenden Menschen erfüllt, als da Taras gesprochen hatte, und es fehlte nur der Pope, der ja die neue Staatsform nicht öffentlich anerkennen durfte, obwohl auch er sich sagen mußte, daß diese Gestaltung vorläufig die Ruhe am besten verbürge, und die ›ärmste Witwe des Dorfes‹, die unglückliche Anusia, die seit jenem Kirchgang am Ostersonntag ihren Hof nur dann verließ, wenn es ihr die Pflicht gebot, nach den Äckern zu sehen. Die Leute sprachen viel von ihr, belästigten sie aber weder mit Besuchen noch, wenn sie ihr bei jenen seltenen Gängen begegneten, mit Anreden; auch die Rohesten empfanden Ehrfurcht vor diesem großen Unglück und der stillen Würde, mit der es getragen wurde. Selbst in den Tagen, nachdem Wassilj und Hritzko die Antwort aus dem Lager heimgebracht hatten und alle Gemüter von wildester Entrüstung gegen Taras erfüllt waren, hatte ihr niemand eine Kränkung oder gar eine Schädigung zugefügt.

Die Feier war ernst und würdig. »Brüder!« sagte Simeon, »es wäre eine rechte Schande, wenn es uns nicht gelänge, die Ordnung unter uns aus eigener Kraft zu erhalten! Draußen herrscht Kampf und Jammer, hier soll Friede und Arbeit sein! Das walte Gott!« Dann wurden, der vermehrten Geschäfte wegen, welche die Unabhängigkeit des Dorfes und der Drang der Zeit mit sich brachte, nicht, wie bisher üblich, zwei, sondern drei ›Älteste‹ gewählt. Von diesen sollte der erste, Alexa Sembrow, die Ordnung im Innern, namentlich die Bebauung des Gemeindeackers und die Verteilung der Frucht überwachen, der zweite, der Fleischer Wassilj, für die Sicherheit des Dorfes nach außen sorgen, der dritte, Wilko Sembratowicz, als Säckelmeister dienen.

Nachdem dies festgestellt worden, ordnete sich die Versammlung in Reihen zu fünf Köpfen und zog entblößten Hauptes, unter dem feierlichen Geläute der Glocken und den Hymnus: »Herrgott, dich loben wir!« mit Inbrunst anstimmend, auf den Gemeindeacker. Der ›freie Richter‹ und die drei Ältesten schritten dem Zuge voran, hoben mit eigener Hand, indes die anderen ihren feierlichen Gesang fortsetzten, das schwarze Kreuz von seiner Stelle und rammten es drei Schritte vom Ufer ein, da, wo es einstens gestanden. Dann sanken die vier betagten Männer in die Knie, breiteten die Arme aus und küßten dreimal den Boden, und also taten auch die anderen alle unter lautem Schluchzen.

Hierauf erhoben sie sich insgesamt, Simeon trat vor und sprach: »Hört mich, ihr alle, und höre du mich, Gott, da oben. Wir haben zurückgenommen, was uns von Rechts wegen gehört und nur durch einen Frevel entwendet worden ist. Wende du, Herrgott, es ab, daß sich dieser Frevel wiederhole. Wir aber wollen alles daran setzen, unser Recht zu wahren, dies schwören wir!«

»Dies schwören wir!« fielen alle ein und hoben die Rechte empor. Dann zogen sie in freudiger Rührung ins Dorf zurück.

. . . Diese Zuversicht verließ sie auch in den nächsten Tagen und Wochen nicht. Das Wort des freien Richters erfüllte sich; hier war Friede und Arbeit, indes draußen Krieg und Jammer herrschte. Das Dorf blieb unbehelligt, weil die Gerichte und die Truppen wahrlich schwerere Sorgen hatten. Nirgendwo kam es zu einem Zusammenstoß, nirgendwo bekamen die Truppen auch nur einen Hajdamaken zu Gesicht; sie trafen entweder zu spät ein oder suchten die Schar am Dnestr, während sie am Czeremosz verweilte, beschützten die Gegend von Sniatyn, während Taras um Tysmienice streifte. Vergeblich wurde Woche für Woche neue Verstärkung herbeigezogen, vergeblich warb man entlassene Verbrecher und ähnliches Gesindel als Kundschafter: Taras fuhr in seinem furchtbaren Werke während des Mai und Juni so ungestört fort wie in den letzten Apriltagen, wo noch kein Soldat im flachen Lande gestanden war, ja noch mehr, er wagte sich immer weiter in die Ebene hinein und beherrschte nun in seiner Art die vier südlichen Kreise Galiziens sowie den Norden der Bukowina. Obwohl er in der Wahl seiner Opfer einen wahrhaft verblüffenden Scharfblick erwies und in der Tat keinen Unschuldigen richtete, auch seinen Befehl an die Bauern, sich ruhig zu verhalten und ihren rechtlichen Leistungen nachzukommen, immer wieder ergehen ließ, ergriff doch das Grauen über diesen Zustand, den man in einem geordneten Staatswesen nie für möglich gehalten hätte, immer weitere Kreise. Beamte und Offiziere mußten von der erregten Bevölkerung die schwersten Vorwürfe erdulden, obwohl sie ihre Pflicht erfüllten. Konnten sie doch trotz allen Grübelns nicht einmal darüber ins klare kommen, durch welche Mittel sich dieser entsetzliche Mann auch nur eine Woche lang gegen sie behaupten könne. Da sie die Zahl seiner Leute weitaus überschätzten, von seinen Verstecken, unter denen die ›Burg‹ bei Nazurna das wichtigste war, nichts ahnten und endlich auch kaum die richtige Anschauung davon hatten, mit welcher Opferfreudigkeit sich die Bauernschaft dem Kundschafterdienst für ihn unterzog, so mußte ihnen allerdings diese Beweglichkeit, diese Tollkühnheit rätselhaft erscheinen. Um Mitte Juli standen etwa viertausend Mann gegen Taras unter Waffen, und dennoch war ein Ende des Schreckens nicht abzusehen.

Die Leute von Zulawce verfolgten dies natürlich nicht gerade mit Mißvergnügen. Je vergeblicher sich die Anstrengungen der Truppen erwiesen, um so mehr wuchs ihnen die Zuversicht, im Genusse der errungenen Freiheit ungestört zu bleiben. Da brach plötzlich der Tag herein, an dem sie daran erinnert werden sollten, daß es kein Kinderspiel sei, sich vom ›Herrn in Wien‹ loszusagen.

Das war ein trüber, grauer Julimorgen; der Regen goß vom Himmel nieder, die durchweichte Straße lag verödet, auch auf den Äckern war weit und breit kein Mensch zu gewahren. Die beiden Burschen, die der Fleischer Wassilj als Wachtposten in das Mauthaus neben der Brücke postiert hatte, blieben zwar dort, weil es im Stübchen trocken war, hatten sich aber behaglich auf ihr Strohlager gestreckt und schnarchten friedlich um die Wette. Da weckte sie plötzlich ein dröhnendes Hallen der Holzbrücke, eine Abteilung Infanterie zog im Eilschritt daher, an ihrer Spitze ritt ein Offizier, die Burschen erkannten ihn, es war Hauptmann Stanczuk. Erschreckt stürzten sie aus dem Häuschen und rannten unter wilden Rufen, ihre Flinten zum Signal abfeuernd, die Dorfstraße empor. Die Soldaten hingegen vermochten die steile, vom Regen aufgeweichte Straße nur langsam emporzuklimmen, und so gewannen die Burschen allmählich doch einen beträchtlichen Vorsprung.

Als der Hauptmann endlich in die Nähe der Schenke gelangt war, fand er die Straße bereits durch einige umgestürzte Wagen gesperrt; aus den nächsten Hütten wurden Heubündel herbeigeschleppt, und etwa fünfzig Männer hielten schon, die Flinten im Anschlag, die improvisierte Barrikade besetzt. Stanczuk hatte den Befehl, Blutvergießen möglichst zu vermeiden, aber es hätte dieser Weisung kaum bedurft, um den klugen, humanen Mann von jedem vorschnellen Angriff abzuhalten. Er ließ die Kompanie auf etwa zweihundert Schritte Entfernung haltmachen, ritt ruhig heran und verlangte den Richter zu sprechen. »Mein Vater ist noch nicht zur Stelle«, erwiderte Hritzko. »Aber was immer du verlangst, so werden dir nur unsere Flinten Antwort sagen.«

»Nun«, erwiderte der Hauptmann ruhig, »wenn euch euer Glück und Leben so wenig wert ist, so kann es mir recht sein. Da ich aber ein wenig älter und besonnener bin als du, Gelbschnabel, so werde ich noch einige Minuten auf deinen Vater warten.« Sprach's, wendete sein Pferd und ritt zu seinen Leuten zurück.

Er hatte lange zu harren, aber nicht vergeblich. Denn wohl sammelten sich allmählich an der Barrikade fast alle Männer des Dorfes und sämtlich in streitbarer Stimmung, aber hinter ihnen her jammerten ihre Weiber und erleichterten es dem Pfarrer und dem Richter, durch warnende Reden die Kampflust zu dämpfen. Mindestens, meinten sie, gebiete die Vernunft, den Offizier vorher anzuhören. Und so traten endlich Simeon und sein Sohn, die drei Ältesten und der Pfarrer den Weg zu den Soldaten an.

Der Hauptmann ritt ihnen entgegen. »Guten Morgen, Herr Pfarrer! Guten Morgen, Leute!« begann er mit freundlichem Lächeln. »Was treibt ihr denn für Dummheiten? Schickt sich das für vernünftige Hausväter in einer ohnehin so bitteren Zeit?« Dieser Ton, auf den sie wahrlich nicht gefaßt gewesen, verblüffte sie sehr. Endlich fragte der Richter: »Nun, was wünschest du, Herr Hauptmann? Wenn du gekommen bist, in eurer Art Ordnung hier zu machen, so werden wir uns wehren. Der Acker bleibt jedenfalls uns oder . . .« – »Euer Acker kümmert mich nicht«, erwiderte der Offizier. »Auch darfst du, was mich betrifft, noch einige Wochen Kaiser von Zulawce bleiben, mein guter Simeon. Ich habe bloß die Anusia Barabola samt ihren Kindern zu verhaften und nach Kolomea zu schaffen.« – »Nimmermehr!« schrie Hritzko wütend auf, und auch dem Popen stieg die Röte der Entrüstung ins Antlitz. »Herr Hauptmann!« rief er. »Das wäre ein Frevel. Ich bürge mit meinem Leben dafür, daß das unglückliche Weib keinen Anteil an den Taten ihres Mannes hat.« Der wackere Offizier blickte zu Boden. »Herr Pfarrer«, sagte er halblaut, »der Soldat hat nicht zu fragen, sondern zu gehorchen.« – »Und die Kinder? Sind auch sie Frevler?« – »Ich muß gehorchen«, wiederholte Stanczuk. »Und wenn Sie, Herr Pfarrer, dahin wirken, daß mir die Familie des Taras ohne Widerstand ausgeliefert wird, so werden Sie nur im Sinne Ihres heiligen Amtes handeln.«

Schweigend trat der Pope zurück, aber es wäre vergeblich gewesen, selbst wenn er dem Wunsche des Offiziers sofort mit Feuereifer entsprochen hätte; denn die Bauern hatten ihren Entschluß gefaßt, der alte Simeon trat vor, schlug ein Kreuz und sagte dann laut und feierlich: »Herr! So lange einer von uns sie noch schützen kann, bekommst du diese Unglückliche und ihre Kinder nicht in deine Gewalt. Es tut uns bitter leid um uns und unsere armen Weiber und Kinder, aber wir können nicht anders. Gottes Blitz würde uns hinwegraffen, wenn wir solchen Frevel gegen eine Witwe und Waisen dulden würden. Und nun, tue, was du willst, wir tun, was wir müssen!« Er wendete sich, zu gehen. »Richter«, sagte der Hauptmann fast bittend, »hab Erbarmen mit deinem Dorfe, erschwere mir meine Pflicht nicht. Bedenk, es fließt ohnehin genug Blut in diesen Tagen. Berate dich mit deinen Leuten, ich warte noch eine Viertelstunde.« Simeon schüttelte schweigend das Haupt und ging, die anderen, auch der Pfarrer, folgten ihm. Als sie die Barrikade erreicht und den Harrenden die Forderung mitgeteilt hatten, erwiderte ihnen ein einmütiger Ruf des Zornes und der Entrüstung. Nur der Jungknecht Halko stürzte ab, seine Herrin zu benachrichtigen, die anderen alle blieben und riefen: »Wir dulden es nicht!« Auch die Weiber jammerten nicht mehr, und Vater Leo starrte stumm vor sich hin.

Hritzko übernahm den Befehl. Die beiden nächsten Hütten wurden besetzt, ebenso der Hügel, auf dem sich die Kirche erhebt. Die Männer verteilten sich und suchten geschützte Stellen, da knieten sie hin, die Flinte in Anschlag. »Ihr lasset sie auf dreißig Schritte herankommen«, schärfte ihnen Hritzko ein. »Erst wenn ich mit diesem Pfeifchen hier das Signal gebe, schießen alle und in demselben Atemzuge.«

Der Hauptmann hatte zwanzig Minuten geharrt. Dann stieg er schweren Herzens vom Pferde, zog den Säbel, stellte sich in die erste Reihe und kommandierte zum Sturm. Die Trommeln wirbelten, die Kompanie setzte sich im Laufschritt, mit gefälltem Bajonett, in Bewegung. Die Bauern ließen sie näher herankommen, ohne einen Schuß zu tun. Als die Soldaten die Hütte des Wilko erreicht hatten, hob Hritzko, der auf der Barrikade stand, langsam das Pfeifchen zum Munde . . . Da legte sich eine Hand auf seinen Arm und drückte ihn kräftig nieder. »Ihr werdet nicht schießen!« sagte eine laute, gebieterische Stimme. »Ich dulde es nicht!«

Der Jüngling wich betreten zurück. Vor ihm stand das Weib des Taras, die kleine Tereska auf dem Arme; eine alte Dienerin, welche die beiden Knaben führte, folgte ihr unter heftigem Schluchzen. Auch die Kinder weinten. Anusia aber stand hoch aufgerichtet da, denselben Ausdruck starrer Ruhe in den Zügen, wie er seit jenem Palmsonntag in diesem sonst so leidenschaftlich bewegten Antlitz heimisch war. »Ihr werdet nicht schießen!« wiederholte sie. »Ich gehe mit den Soldaten.« – »Anusia!« rief Simeon. »Willst du dich und deine armen Kindlein dem Henker überliefern?« – »Wir stehen alle in Gottes Hand«, erwiderte sie. »Um meinetwillen soll kein Weib zur Witwe, kein Kind zur Waise werden . . . Komm«, befahl sie der Dienerin.

Der Offizier hatte die seltsame Szene gewahrt und kommandierte: »Halt!« Auch die Bauern standen regungslos vor Staunen. Langsam schritt das Weib auf den Hauptmann zu. »Hier bin ich«, sagte sie, »und hier sind meine Kinder.« Den Mann ergriff, als er dieser armen Bäuerin ins starre, tränenlose Antlitz sah, eine Empfindung, wie er sie vor den Mächtigen dieser Erde nie gefühlt hatte; ihm war's, als müßte er sich tief, tief vor ihr beugen. »Komm«, sagte er mit ehrfurchtsvoller Scheu, »wir haben einen Wagen mitgebracht.«

Sie nickte und ging auf das Gefährte zu, das bei der Nachhut hielt. Nun erst faßten sich die Leute wieder und drängten heran. Der Hauptmann ließ sie gewähren, er sah es; ihrem Antlitz ab, daß sie nichts Feindliches mehr im Sinne führten. In tiefster Bewegung, laut schluchzend, umgaben sie den Wagen, den Anusia mit den Kindern bestieg. Sie küßten den Saum ihres Gewandes, herzten die Kleinen und riefen unter Tränen: »Leb wohl, Anusia! Wir danken dir!« Und der Pfarrer rief: »Weib! Keine Heilige hat Größeres vollbracht als du. Dein Name wird unvergessen bleiben, so lange dieses Dorf steht! Und deines Hofes wollen wir uns annehmen, mehr als unseres eigenen Besitzes.« – »Ich danke euch«, sagte sie leise. Nun erst brachen Tränen aus ihren Augen und rollten rasch die Wangen herab. Dann wurde ihr Antlitz wieder starr und ruhig. »Ich bin bereit«, sagte sie dem Hauptmann. Die Trommeln wirbelten, der Zug setzte sich in Bewegung, die Dorfstraße hinab, über den Pruth, gegen die Kreisstadt zu . . .

In der Dämmerung des nächsten Tages langten sie in Kolomea an, noch am selben Abend stand Anusia vor dem Kreishauptmann. Der alte, wackere Herr hatte dieser Stunde als der bittersten seines Lebens entgegengeharrt und sich wie ein Verzweifelter dagegen gesträubt, daß sie über ihn komme. Seine Vorstellungen an das Gubernium, denen sich der Richtersenat einstimmig angeschlossen hatte, waren vergeblich geblieben, ebenso das Entlassungsgesuch, mit dem er wie die anderen Räte dem wiederholten Befehl begegnet waren. Die Herren in Lemberg hatten kurz und kühl geantwortet: das Gesuch werde zu geeigneter Zeit sicherlich erfüllt werden, vorläufig müßten sie auf dem Posten bleiben und die Weisung ihrer Vorgesetzten ausführen. So mußte der alte Richter mit eigener Hand den Haftbefehl fertigen, der in seinen Augen die schlimmste Gewalttat bedeutete, und übernahm es, selbst die Untersuchung zu führen, damit nicht etwa das Unrecht noch durch Härte gemehrt werde. Da Herr Wenzel Hajek die unfreiwillige Gastfreundschaft des Kriminals nicht mehr in Anspruch nahm, sondern, leidlich wieder hergestellt, seine frühere Stadtwohnung bezogen hatte, so ließ der Kreishauptmann diese beste Stube des Hauses, die eigentlich zur Wohnung des Kerkermeisters gehörte, für die Verhaftete und ihre Kinder instand setzen und gab persönlich die Weisung, ihr jede mögliche Erleichterung der Haft zu gewähren. Dann ging er in sein Büro zurück und erwartete da klopfenden Herzens ihre Ankunft.

Als Anusia eintrat, blickte er kaum auf, griff nach einem Bogen Papier und fragte mit so unsicherer Stimme, daß es die Frau kaum verstand: »Weißt du um die Taten deines Mannes und hast du ihm Vorschub dabei geleistet?« – »Nein, Herr!« – »Ich muß dich dennoch in Haft behalten. Du sollst es gut haben. Ich werde mich täglich erkundigen, wie es dir und den Kindern geht.«

Er winkte, der Kerkermeister geleitete das Weib wieder zur Tür hinaus. Der alte Mann blieb allein. Er erhob sich und schritt wohl eine Stunde in tiefster Erregung, laut vor sich hinsprechend, auf und nieder. Dann setzte er sich wieder und schrieb in dem sonderbaren Kurialstil jener Zeit seine Meldung an das Gubernium. Aber in diesem ›gehorsamsten Bericht‹ standen auch die Worte: »Möge nie und nimmer ein österreichischer Richter ein Verhör mit einem Verhafteten mit denselben Empfindungen aufnehmen müssen wie heute ich. Und möge ein hohes Gubernium nie die Folgen dieser Maßregel zu bereuen haben!«

Diese Zeilen waren noch nicht in Lemberg angelangt, als sich die Warnung furchtbar erfüllte. Zwei Tage, nachdem Anusia in der Stadt eingetroffen, wurde der Kreishauptmann gegen Mitternacht aus dem Schlafe gepocht: der Diurnist Joseph Dorn bringe eine Meldung von höchster Wichtigkeit. Der alte Herr erschrak sehr; Dorn war am Morgen dem Rate Hochenau, der im Flecken Jablonow einen ›gerichtlichen Augenschein‹ aufzunehmen hatte, als Schreiber beigegeben worden. Obwohl Taras sich nie wieder an einem Beamten vergriffen und der alte, würdige Hochenau, ein Deutscher aus dem Breisgau, als der weitaus beliebteste Richter des Amtes, kaum etwas von ihm zu fürchten hatte, so hatte der Kreishauptmann dennoch auch ihm eine Eskorte von vierzig Dragonern mitgegeben. Er sollte in der Nacht zurückkommen; wie, wenn der Schreiber allein heimgekehrt war? Herr v. Bauer suchte den Gedanken abzuwehren. »Unsinn«, murmelte er und trat ins Vorzimmer. Aber ein Blick auf das Antlitz des Mannes bewies ihm, daß seine Ahnung begründet war. Dieser wetterharte Mann, der sein halbes Leben als Wachtmeister verbracht hatte und durchaus nicht schreckhaften Wesens war, lehnte wie gebrochen an der Wand und hielt sich mühsam aufrecht. »Hochenau ist tot?« rief der Kreishauptmann. »Tot!« stieß der alte Schreiber hervor.

Der Kreishauptmann wankte und mußte an die nächste Stuhllehne fassen, um nicht umzusinken. Ihn überwältigte jene qualvolle körperliche Empfindung, die alle Menschen gedankenlos im Munde führen, aber wenige zu erleben verdammt sind, die niemand vergißt, über den sie je gekommen ist . . . Der alte Mann fühlte, wie es plötzlich kalt über seine Kopfhaut wehte, während jede einzelne Haarwurzel schmerzhaft wie eine eingestoßene Nadel fühlbar wurde: sein Haar ›sträubte‹ sich.

So lehnten die beiden Männer einander eine Minute lang schweigend, vor Entsetzen stumm, gegenüber, bis die Gattin des Kreishauptmanns ins Vorzimmer gestürzt kam, den Grund der nächtlichen Störung zu erkunden. Da rüttelte sich der alte Herr gewaltsam zusammen, wies sie hastig fort und wendete sich an Dorn: »Wie ging es zu?«

»Zu Befehl, Herr Kreishauptmann«, erwiderte der Veteran und suchte sich gleichfalls stramm aufzurichten. »Wir hatten in Jablonow viel zu tun und konnten erst um acht Uhr die Rückreise antreten. Vor und hinter dem Wagen ritten die Dragoner, ganz sorglos, auch der arme Herr Rat waren guter Dinge und sagten mir sogar scherzend: ›Hör' er, Dorn, diesen Taras möchte ich wohl einmal sprechen. Ist ja auch so eine Art Kollege, ein ganz furchtbar praktischer Jurist, und hör' er, Rechtsgefühl hat der Kerl, das muß man ihm lassen!‹ ›Halten zu Gnaden, Herr Rat‹, erwiderte ich, ›aber ein elender Mordbrenner ist er, und der Allmächtige bewahre uns vor ihm.‹ ›Nun‹, lachten der Herr Rat, ›wünschen mag ich mir die Begegnung grad auch nicht, obwohl ich überzeugt bin, daß er uns nichts täte. Er taxiert den Kerl falsch, Dorn, ich habe seine ›Gerichte‹ genau verfolgt, er ist noch immer ein Mensch und keine Bestie.‹ Kaum hatten der Herr Rat diese Worte gesprochen, und wir waren eben zum Brückchen über den Krasnikbach gelangt, als plötzlich das Schilf zu beiden Seiten des Wassers lebendig wurde und die Räuber auf uns einsprengten. Herr Kreishauptmann, ich bin selbst ein alter Dragoner, und wie es so rasch zugehen konnte, fasse ich nicht, aber binnen drei Minuten waren unsere Leute überwältigt. Die Kerls, die wohl in fünffacher Übermacht waren, benahmen sich, der Wahrheit die Ehre, menschlich: wer Pardon annahm, wurde bloß entwaffnet und geknebelt. Auch der Herr Rat bemerkten es und flüsterten mir zu: ›Mut, Dorn, er tut uns nichts.‹ Und es ließ sich anfangs wirklich so an. Die Reiter, die bisher, die Pistolen auf unsere Augen gerichtet, um die Wagen gehalten hatten, ließen nun die Waffen sinken, und einer von ihnen, offenbar ein Jude, sagte höflich: ›Wollet aussteigen, ihr Herren, und vor den Rächer treten.‹ Dies taten wir; sie schlossen einen Kreis um uns, und Taras trat uns entgegen. Er war mir aus der Zeit, da er viel im Amte verkehrte, als ein blonder, kräftiger, rotbackiger Mensch in Erinnerung, und es sind ja kaum zwei Jahre her, aber erkannt hätte ich ihn nicht. Denn vor uns stand ein hagerer, alter Mann, mit wirrem, grauem Haar und durchfurchtem Gesicht, und es wollte mir scheinen, als hielte er sich nur mit Mühe aufrecht. Er blickte uns lange schweigend an, eher mitleidsvoll als zürnend; auch seine Stimme klang fast sanft, als er endlich begann, zunächst zu mir gewendet: ›Mit dir habe ich nichts zu schaffen, Alter; du schreibst bloß auf, was dir die Herren befehlen. Du könntest dich sofort entfernen. Aber vielleicht hat dieser Mann noch einen letzten Wunsch, den er dir auftragen möchte.‹ Ich erschrak so heftig, daß ich mich kaum auf den Füßen zu erhalten vermochte, der Herr Rat wurden zwar sehr bleich und griffen nach meinem Arm, wie um sich zu halten, sagten dann jedoch gefaßt: ›Ich bin der Kreisgerichtsrat Hochenau; jeder Mensch im Kreise kennt mich und weiß, daß ich nie Frevel geübt habe. Wes klagst du mich an, Taras?‹ ›Unerhörten Unrechtes und feiger Gewalt! Mein Weib und meine Kinder schmachten in eurem Kerker.‹ Da richtete sich der alte Herr hoch und rief feierlich: ›Mein Ehrenwort, Taras, ihre Verhaftung ist nicht auf unseren Beschluß erfolgt, sondern der Kreishauptmann hat sie vollziehen müssen, weil das Lemberger Gubernium es ihm befahl.‹ Taras blickte ihm fest ins Auge: ›Es wird mir schwer zu glauben, daß du lügst; aber der andere hat ja bei allen Heiligen geschworen. Habt ihr dem Kaplonski nicht schon am Mittwoch nach Ostern den Befehl gegeben, mein Weib mit der Verhaftung zu bedrohen?‹ ›Nein! Tat er das? Oh, der Schurke! Uns sagte er, nur diese Drohung habe sein Leben aus deiner Gewalt errettet.‹ ›Lüge!‹ erwiderte Taras dumpf. ›Hat er euch nicht ausgerichtet, daß ich euch den Tod angedroht habe, falls ihr den Frevel verüben würdet?‹ ›Nein! Im Gegenteil, er riet dazu, und auf seine Einflüsterungen hin gab uns das Gubernium den Befehl.‹ Der Herr Rat waren in höchster Erregung, behielten aber doch die Fassung, ganz klar zu erzählen, wie das hohe Kreisamt dem Befehle des hohen Guberniums erst zum dritten Male und unter Protest gehorcht habe. Taras hörte ruhig zu, dann senkte er den Kopf und stand regungslos da, wie in tiefem Sinnen; zuweilen, ich konnte es deutlich sehen, überlief ein Schauer seine Glieder . . . Wieder begann ich zu hoffen, aber es kam anders. Er richtete sich plötzlich auf und sagte: ›Ich will glauben, was du gesprochen hast, alter Mann, Wort für Wort. Aber antworte, warum ließet ihr euch schließlich doch zur Gewalttat herbei? Der Soldat ist willenlos und muß gehorchen, weil er sonst erschossen wird; aber von des Kaisers Schreibern gilt dies doch nicht?‹ ›Nein! Aber wir wären schimpflich entlassen und außerdem bestraft worden.‹ ›Und so war euch euer Amt und eure Versorgung lieber als euer Gewissen! Und ihr seid doch Richter, die vor Gott dem Allmächtigen einen Eid darauf geschworen haben, das Recht zu schützen!‹ Der furchtbare Mensch sagte dies noch immer in demselben langsamen, ruhigen Ton, und nun erst brach er los: ›Nein! Richter, die dies getan haben, verdienen den Tod! Bereite dich zum Sterben! Ich kann dir nicht helfen!‹ Ich sank auf die Knie: ›Taras!‹ rief ich, ›hab' Erbarmen, töte diesen edlen Mann nicht.‹ Der Herr Rat aber bedeuteten mich aufzustehen und sagten, noch immer die heldenmütige Fassung bewahrend, die ihn auch bis ans Ende nicht verließ: ›Ich bin an siebzig Jahre alt und habe mein Leben in Ehren verbracht. Ich darf dem höchsten Gericht da oben mit Ruhe entgegensehen, und meine Tage sind ohnehin gezählt. Auch habe ich weder Weib noch Kind, die um mich klagen würden. Es ist also nicht Todesfurcht, Mann, wenn ich dir sage: Du darfst mich nicht töten, wenn du nicht einen gemeinen Mord aus blinder, wütiger Rache auf dein Gewissen laden willst. So weit ich deine Taten kenne, wäre es der erste ruchlose Frevel, den du verübt hast.‹ Die Räuber schrien drohend auf, aber Taras winkte sie zur Ruhe und stand wieder regungslos da, das Haupt gesenkt, in tiefes Sinnen verloren. Das waren furchtbare Minuten; wie lange es eigentlich währte, weiß ich nicht; mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Einer von den Leuten des Taras, es war jener Jude, trat auf ihn zu und begann mit flehender Miene zu ihm zu sprechen, so leise, daß ich die Worte nicht verstand, aber er bat offenbar um Schonung für den Herrn Rat. Das war aus der Antwort des Taras zu entnehmen, er hob abwehrend die Hand gegen ihn und sagte mit zitternder, heiserer Stimme, als könnte er die Worte nur mühsam hervorbringen: ›Gott helfe mir und ihm, und wenn es ein Frevel ist, so mag ich seinen Tod am Galgen büßen, aber der alte Mann muß sterben. Er und seine Gefährten haben ihren Eid um irdischen Vorteils willen und aus Furcht vor den Menschen vergessen; in ihre Hand ist der Schutz der heiligen Sache gelegt, und sie nützen ihre Macht zu Unrecht. Das ist die schlimmste Sünde, und weil in ihren Händen die Macht liegt, so muß sie zu endlosen Sünden führen. Ich habe mich bisher an den Gedanken geklammert, daß die Schreiber in der oder jener Sache nur aus Irrtum, aus Torheit, aus Leichtsinn eine ungerechte Entscheidung treffen, und habe darum nur das Unrecht bekämpft, nicht aber den Schreibern selbst an Leib und Leben gegriffen. Seit heute weiß ich, daß sie, die Hüter des Rechts, gegen die eigene, bessere Überzeugung Frevel üben, und darum darf ich mich nicht begnügen, hier oder dort den Lauf eines Wässerchens zu ändern, sondern muß die Quelle verstopfen. Es tut mir leid, daß gerade dieser alte Mann, der wohl noch der Bravste unter ihnen ist, den Anfang machen muß, aber ich kann ihm und mir nicht helfen, Gott sei uns beiden gnädig!‹ Noch einmal wollten der Herr Rat zu sprechen beginnen, aber er fiel ihm ins Wort: ›Es ist nutzlos! Ich kann dir ja nicht helfen!‹ und als ich seine Füße umklammerte, machte er sich los und trat zur Seite. Da richteten sich der Herr Rat hoch empor und sagten mit starker Stimme: ›Steh' er auf, Dorn, das geziemt braven Männern nicht, vor dem da zu knien! Geb' er mir ein Blatt Papier und einen Stift!‹ und schrieben diese Zeilen und sprachen ein kurzes Gebet und – und –«. Der alte Mann begann zu schluchzen; die Augen blieben trocken, aber die Lippen bebten, und die Brust hob sich krampfhaft.

»Sie haben ihn . . . erschossen?«

Der Mann nickte und zog mit zitternder Hand aus der Brusttasche ein Blatt Papier hervor. Aber der Kreishauptmann gewahrte es nicht; er lehnte wie gebrochen an der Wand; hinter den halbgeschlossenen Lidern brachen zwei jähe Tränen hervor und rannen über das durchfurchte Antlitz. »Friede seiner Seele!« murmelte er. »Fahre wohl, du bester Kamerad!«

Es war eine lange Stille. Dann sagte der Schreiber endlich schüchtern: »Hier dieses Blatt« – der Kreishauptmann las: »Leb wohl, Franz, und Dank für die treue Freundschaft. Klage mir nicht lange nach; schütze dich und die anderen; bereite dem Kaplonski, was er verdient. Mein bißchen Vermögen soll deinem Ältesten gehören, ich bitte dich darum. Ich sterbe nicht gern, aber leicht. Dein Karl v. Hochenau.« Herr v. Bauer faltete das Blatt und steckte es zu sich. Dann fragte er: »Wo ist die Leiche, Dorn?«

»Neben dem Brückchen. Da liegen auch noch die geknebelten Dragoner. Der Unhold sagte mir selbst: ›Ihr könnt sie holen!‹ Er ließ mich durch einige Reiter bis gegen die Stadt begleiten, dann fuhr ich allein hier ein.«

Noch in der Nacht brachen der Kreishauptmann und der General, von starker Eskorte begleitet, an den Ort der Untat auf. Es war ein trauriger Zug durch die milde Sommernacht. Auf halbem Wege begegnete ihnen eine Schar Dragoner, die bei dem Überfall bloß geknebelt worden. Einem von ihnen war es gelungen, seine Bande zu lösen und dann die andern zu befreien. Sie bestätigten, daß die Schar sofort nach verübter Untat aufgebrochen sei.

Im Morgengrauen erreichten sie das Krasnik-Brückchen und fanden in der Tat nur einige Verwundete und die Leiche. Ein Schauer tiefster Ehrfurcht erfaßte die Männer, als sie dem Richter ins Antlitz blickten und darauf den Ausdruck stolzer Ruhe gewahrten; nie war ihnen die Majestät des Todes so erschütternd entgegengetreten. Und selbst der alte General fühlte ein ungewohntes Brennen der Lider, als Herr v. Bauer herantrat und sich über den toten Freund beugte. Er ließ es sich nicht nehmen, die Leiche mit eigenen Armen emporzuheben, und duldete kaum, daß ihm Dorn dabei helfe.

Nachdem der Zug wieder zur Stadt gelangt war, begab sich der Kreishauptmann sofort ins Gefängnis und ließ die Anusia vorführen. Er stellte nur eine einzige Frage, ob ihr Kaplonski wirklich gedroht habe. »Ja!« erwiderte sie ebenso kurz und wiederholte die Worte des Kommissärs. Der Kreishauptmann nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet, und begab sich ins Amt. Herr Wroblewski kam ihm erregt entgegen; soeben sei ein Bote des Lemberger Guberniums mit einer eigenhändigen Zuschrift des Gouverneurs angelangt und harre auf Antwort. »Es wird Zeit haben«, erwiderte Herr v. Bauer bitter. »Hinterher sind ihnen doch Bedenken gekommen, und sie revozieren den Haftbefehl. Ich weiß es, als ob ich es schon gelesen hätte.«

In der Tat stand Ähnliches in dem Briefe. Der Gouverneur schrieb, daß er auf seine Meldung an die Wiener Regierung die Ordre erhalten habe, nichts gegen die Familie des Taras zu unternehmen. ›Sollte jedoch‹, hieß es ferner, ›der Haftbefehl bereits vollstreckt sein, so muß es dabei bis auf weiteres bleiben, da mindestens ich auf meine eigene Verantwortung hin nicht wage, dem Mordbrenner eine so törichte Schwäche zu zeigen. Ferner befiehlt die Regierung die sofortige Vorlage sämtlicher auf Taras bezüglichen Akten, auch des Zivilprozesses, den er namens der Gemeinde gegen den Gutsherrn geführt hat. Endlich ist sie mit Rücksicht auf das Vorleben und den Charakter dieses Rebellen, die ihr wohlbekannt sind, der Ansicht, daß der Weg friedlicher Unterhandlung sich zum Zwecke baldiger Herstellung der Ruhe am meisten empfiehlt; sie meint, daß seine Unterwerfung nicht etwa durch Zusicherung gänzlicher Straflosigkeit, sondern vielmehr schon durch die Erfüllung gewisser, keineswegs ungesetzlicher Forderungen erzielbar sein wird, wünscht jedoch darüber auch die Ansicht der untergebenen Behörden zu hören.‹ Vorläufig, schloß das Schreiben, habe sich das Verhalten gegen Taras, etwaige besonders günstige Gelegenheiten ausgenommen, streng auf die Verteidigung zu beschränken. Diesem amtlichen Briefe lagen einige Privatzeilen bei: »Ich erfahre aus bestimmtester Quelle, daß es Se. kaiserliche und königliche Hoheit der Herr Erzherzog Ludwig ist, der die Ihnen beiliegend mitgeteilten Weisungen veranlaßt hat. Senden Sie die Akten sofort ein, ich will hoffen, daß die Zivilsache in voller Ordnung geführt wurde und Ihnen nicht etwa hinterher noch schwere Unannehmlichkeiten macht. Sie wissen, nimmt sich einmal der Herr Erzherzog einer Sache an, so führt er sie auch durch. Rätselhaft ist mir nur, wie dieser verdammte Kerl, der Taras, zu einer solchen Protektion gekommen ist. Was nun die gütlichen Unterhandlungen betrifft, über die wir uns äußern sollen, so will ich Ihnen zwar meine Meinung nicht aufzwingen, denke aber, daß wir uns dadurch nur blamieren würden. Der Kommissär Kaplonski, nebenbei bemerkt, ein durch und durch ehrenwerter und verläßlicher Mann, rät gleichfalls dringendst davon ab. Jede Nachgiebigkeit gegen Taras, meint dieser sicherlich kompetente Ratgeber, werde nur seine Frechheit ins maßlose steigern. Ich bin derselben Überzeugung, möchte jedoch, wie gesagt, die Ihrige nicht beeinflussen.«

Der Kreishauptmann berief sofort seine Räte und ließ ihnen durch den Sekretär nicht bloß den offiziellen Erlaß, sondern auch das Privatschreiben vorlesen. »Se. Exzellenz der Herr Gouverneur und meine Wenigkeit«, sagte er grimmig, »stehen nicht auf dem Fuße, einander Geheimnisse mitzuteilen.« Nach kurzer Debatte wurde der Beschluß über die Antwort gefaßt. Die Herren waren darin einmütig, daß von gütlichen Unterhandlungen abzusehen sei. »Es ist allerdings ersichtlich«, lautete ihre Begründung, »daß Taras Barabola, mit so furchtbaren Freveln er sich auch befleckt hat, gleichwohl kein Mordbrenner gewöhnlichen Schlages ist, und insofern liegt allerdings der Gedanke nahe, ihn durch einen Appell an sein Ehr- und Rechtsgefühl wieder in die Bahn der Ordnung zurückzuleiten. Auch sind wir durchaus nicht der Ansicht, daß ein derartiger Versuch seine Verwegenheit mehren würde. Gleichwohl müssen wir davon als von einer, aller menschlichen Voraussicht nach fruchtlosen und die Autorität der Staatsgewalt doch immerhin tief schädigenden Maßregel abmahnen. Taras handelt sichtlich unter dem Zwange der Idee, daß er die Aufgabe habe, alles ›Unrecht‹ auf Erden auszutilgen, jede Tat oder Unterlassung, die ihm als ›Unrecht‹ erscheint, zu bestrafen. Davon wird ihn weder die Erfüllung berechtigter Forderungen noch sonst ein Einfluß abbringen; er wird seine Tätigkeit fortsetzen, bis ihr durch Gewalt ein Ende gemacht ist.« Hingegen befürworteten sie nochmals dringend die Entlassung seiner schuldlosen Familie, »nicht aus Furcht vor diesem Menschen, sondern unserem Gewissen gemäß und aus Ehrfurcht vor dem allmächtigen Gott.« Schließlich aber knüpften sie an den Bericht über die Ermordung des Rates Hochenau und die Aussagen der Anusia die Bitte, den Kommissär Kaplonski sofort nach Kolomea zurückzusenden, um gegen ihn die Disziplinaruntersuchung eröffnen zu können. Mit dieser Antwort und einem riesigen Aktenballen ging der Eilbote nach Lemberg zurück.

Die nächste Zeit brachte nur eine Entscheidung der Oberbehörde über den letzten Punkt. Es habe sich, schrieb das Gubernium, trotz der sonstigen Vertrauenswürdigkeit des Kommissärs Kaplonski doch dagegen gesträubt, den Klagen dieses trefflichen Beamten über die Mißgunst seiner Kollegen Glauben zu schenken. Nach dieser Probe jedoch, da das Kreisamt, auf die Aussage eines Mordbrenners und seines Weibes gestützt, die Untersuchung gegen eines seiner verdienstvollsten Mitglieder eröffnen wolle, sei jeglicher Zweifel an dieser ›Gehässigkeit‹ unmöglich. Das Gubernium dürfe sich daher nicht damit begnügen, das ungebührliche Verlangen zurückzuweisen, sondern müsse auch seine schärfste Rüge über dieses ›unkollegialische und unwürdige Benehmen‹ aussprechen. Die Richter des Kreisamtes beantworteten dieses Schriftstück durch ein nochmaliges, in den schärfsten Ausdrücken abgefaßtes Entlassungsgesuch. Aber weder darüber, noch in Sachen des Taras kam in den nächsten Wochen irgendeine Entscheidung.

So hatte sich die Stellung des Kreishauptmannes immer qualvoller gestaltet, als plötzlich eine Wendung zum Besseren einzutreten schien. Die ›Gerichte‹ des Taras wurden immer seltener, und in den beiden ersten Wochen des August langte keine einzige Anzeige mehr ein. Der ›Rächer‹ und seine Schar schienen plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Wie sich diese plötzliche Stille erkläre, war den Herren ebenso rätselhaft wie die frühere furchtbare Tätigkeit des Mannes. Die Angst vor der Staatsgewalt konnte es unmöglich sein. Denn der General hielt nun allerdings seine gesamte Macht in einem Lager zwischen Kossowince und Zulawce vereinigt; doch konnte dies die Schar noch weit weniger vom Flachlande abwehren als früher die fliegenden Kolonnen. Und so glaubten sie gerne dem Gerücht, das anfangs nur unbestimmt, dann immer sicherer auftrat und zu melden wußte, daß die Mehrzahl der Hajdamaken sich mit dem Hetman überworfen habe und daß innere Zwietracht ihm jede Tätigkeit nach außen unmöglich mache.

 


 << zurück weiter >>