Emanuel Geibel
Gedichte
Emanuel Geibel

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Neugriechische Volkslieder.

I. Das Mädchen im Hades.
            O wie glücklich sind die grünen Felder,
O wie glücklich sind die hohen Berge,
Welche nimmermehr den Hades schauen!
Kommt der Winter, deckt er sie mit Reif zu
Und mit dichtem flockigem Gestöber;
Kommt der Frühling, grünen sie aufs neue,
Tragen Blumen, tragen würz'ge Kräuter,
Und der Sonnenschimmer schläft auf ihnen;
Aber nimmer brauchen sie dort unten
Jene trübe Dunkelheit zu fürchten.

Hatten sich drei Riesen einst verschworen,
In das Reich der Schatten einzubrechen.
Stiegen sie hinab die dunklen Pfade.
Wanderten drei Tage und drei Nächte,
Kamen endlich in das Reich der Toten.
Wie sie alles dort erforschet hatten,
Wollten sie zurück zum Lichte kehren.
Trat zu ihnen da ein schönes Mädchen,
Blond von Haaren, aber blaß von Wangen,
Sprach die Riesen an mit sanfter Stimme:
Nehmt mich mit hinauf, ihr lieben Riesen!
Möchte gern einmal die Sonne schauen
Und die roten Blümlein auf dem Felde.
Drauf versetzten die gewalt'gen Riesen:
Deine seidenen Gewänder rauschen,
Deine langen blonden Locken flüstern,
An den Füßen klappern die Pantoffeln;
Können dich nicht mit uns nehmen, Mädchen,
Charon, unser Fährmann, würd' es merken.
Sprach das Mädchen drauf mit sanfter Stimme:
Meine Kleider will ich von mir legen,
Will vom Haupt die langen Locken schneiden,
Die Pantoffeln lass' ich an der Treppe;
Nehmt mich mit hinauf, ihr lieben Riesen!
Sehen möcht' ich meine beiden Brüder,
Wie am Herd sie sitzen, mich beweinend;
Meine Mutter möcht' ich klagen hören,
Klagen in der rauchgeschwärzten Hütte,
Daß ihr liebstes Töchterlein gestorben.
Sprachen drauf die Riesen: Liebes Mädchen,
Bleib nur unten bei den bleichen Schatten!
Deine Brüder singen in den Schenken,
Und dein Mütterlein schwatzt auf der Gasse.

 
II. Hirsch und Reh.
        Auf dem hohen Berg Olympos, wo der Wald von Tannen rauscht,
An dem Quell im hohen Kraute steht ein Hirsch, der talwärts lauscht;
Tränen weint er, dicke Tränen, groß wie Beeren, rot wie Blut;
Wie aus liebem Menschenauge strömet seine Tränenflut.

Kommt ein Rehlein hergesprungen, Rehlein mit geflecktem Fell,
Sieht des Hirsches Tränen fallen auf die Kräuter, in den Quell,
Spricht: was weinst du solche Tränen, groß wie Beeren, rot wie Blut?
Wie aus liebem Menschenauge strömet deine Tränenflut.

»Türken sind ins Tal gekommen. Als empor den Berg ich sprang,
Sah ich ihrer Säbel Blitzen, hört' ich ihrer Trommeln Klang;
Hört' ich auch ein großes Bellen: denn sie haben sich zur Jagd
Aus der Stadt Konstantinopel sechzig Hunde mitgebracht.«

Rehlein spricht: Das grämt mich wenig; Läufe hab' ich flink und gut,
Jede Kluft zu überspringen, zu durchschwimmen jede Flut,
Und vom Berg die Klephten haben Pulver, Kugeln und Gewehr,
Um die Türken und die Hunde fortzujagen bis ans Meer.

Aber als die Sonn' hinabging, lag das Rehlein schon im Staub,
Blutig das gefleckte Hälschen, und sein Fleisch der Hunde Raub;
Eh' der Morgen wieder graute, war der stolze Hirsch erjagt,
Und die Türken höhnen jeden, der sie nach den Klephten fragt.

 
III. Das Kraut Vergessenheit.
            Es hat die Mutter mir gesagt: dort hinter jenem Berge,
Der Wolken um den Gipfel hat und Nebel um die Wurzel,
Dort wächst das Kraut Vergessenheit, dort wächst es in den Schluchten.
O wüßt' ich nur den Pfad dahin, drei Tage wollt' ich wandern,
Und wollte brechen von dem Kraut, und wollt's im Weine trinken,
Damit ich dich vergessen könnt' und deine falschen Schwüre
Und deine Augen, die so oft von Liebe mir gesprochen,
Und deinen süßen, süßen Mund, der tausendmal mich küßte.
 
IV. Lied des Mädchens.
        O Mond, mein leuchtend heller Mond im klaren Lichtgewande,
Der du dort oben ziehst im Blau und der du niederschauest,
O sahst du meine Liebe nicht, den vielgeliebten Jüngling?
In welchem Schlosse sitzt er nun, in welchem Schlosse trinkt er?
Wes Hände schenken ihm den Wein? – und ach, die meinen rasten.
Wes Augen schaun ihn an mit Lust? – und meine sind voll Tränen.
An wessen Tische ruht er aus? – und meiner steht verlassen.
Wes Lippe küßt und kost mit ihm? – und meine brennt in Sehnsucht!
 
V. Die Küsse.
                    In Salonichi war es nicht,
Nicht war's im schmucken Städtchen,
Im armen Wlachenlande liebt'
Ich einer Witwe Mädchen.

Jetzt schmücke, Mutter, schmück' das Haus
Und schmücke deinen Garten!
Die Tochter dein so hold und fein
Soll mich als Braut erwarten.

Sie hat die Lippen rosenrot
Gefärbt mit rotem Scheinen;
Ich neigte mich und küßte sie
Und färbte auch die meinen.

In dreien Flüssen wusch ich sie,
Und färbte rot die Flüsse
Und färbte rot das Meer dazu
Durch ihre roten Küsse.

 


 


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