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11.
Thé dansant


Der große Abend kam, zu dem von Schallers eine Menge von Einladungen erlassen hatten, und in der Etage selber war schon natürlich an dem ganzen Tage rumort und gewirthschaftet worden, als ob die Familie nicht im Begriffe sei ein Fest zu geben, sondern die ganze Wohnung zu räumen.

Der Salon wurde fast sämmtlicher Möbel entleert und nur an Stühlen herbeigeschafft, was sich möglicher Weise auftreiben ließ. Ein Gemach mußte dabei natürlich zum Spiel- und Rauchzimmer hergerichtet werden, denn Herr von Schaller wollte, daß sich alle seine Gäste, nicht nur die jungen Leute, behaglich bei ihm fühlen sollten. Ebenso wurde ein Garderobezimmer für die Damen arrangirt, und Kathinka hatte sogar die Idee gehabt, die junge, nebenan wohnende Näherin für den Abend als Garderobière zu engagiren, was diese zwar sehr artig, aber auch eben so entschieden abgelehnt. Es gab aber noch so viel zu thun, daß man über eine solche Bagatelle nicht lange nachdenken konnte; überhaupt brauchte man die Näherin noch sehr nothwendig an dem Tage, da die Toiletten der gnädigen Frau wie Tochter noch nicht einmal in Ordnung waren, und das Mädchen wurde abgehetzt mit Hinüber- und Herüberlaufen, bis »Mamsell Peters« endlich selber kam, um die letzte Hand mit anzulegen.

Herr von Schaller arrangirte dabei alles selber; er hatte dazu außerordentliches Geschick und war auf alles und jedes bedacht, ohne daß er vieler Maschinerie zu seiner Thätigkeit bedurfte. Es ging eben alles wie am Schnürchen, und dabei fuhr er aus dem Salon in die Küche, von da in das Spielzimmer, in Garderobe- und Eßzimmer, überwachte sowohl die Zimmerleute, die ein kleines Gerüst für die Musici aufschlagen sollten, arrangirte zu gleicher Zeit das Buffet und revidirte dann wieder seinen Keller, um sich auch sicher davon zu überzeugen, daß sein Vorrath langen würde.

Bis drei Uhr Nachmittags half ihm auch Frau von Schaller dabei, strich Caviarbrödchen, sah zu, wie die Köchin Puddings anrührte, die kalt aufgestellt werden sollten, und schickte nach Klingenbruchs und einigen anderen Bekannten herum, um Silberzeug, ebenso wie Gläser und Teller auszuborgen. Aber das alles geschah nicht mit jener geräuschlosen Thätigkeit, der schönsten Zier einer wirklichen Hausfrau, sondern diese war dabei mehr im Wege, als sie nützte; bald hatte dann ihr Mann, bald das Mädchen etwas unordentlich oder falsch gemacht, sie zankte mit allen, zerbrach dabei sogar einen der geborgten Teller und arbeitete sich zuletzt in eine solche Laune hinein, daß ihr Mann endlich Gott dankte, als sie sich in ihr Schlafzimmer zurückzog und die Thür fest verriegelte, um ihre Abendtoilette zu machen, und bei dieser ließ sie sich von keinem Menschen stören.

Es ist etwas Eigenthümliches um eine solche große Gesellschaft, und es giebt sogar Leute, die schon Vorlesungen über die Kunst gegeben haben, Gesellschaften zu halten. Aber diese finden ihre Berechtigung doch nur eigentlich in den corrumpirten Verhältnissen unserer Zeit sowohl als früherer – und vielleicht auch zukünftiger.

Weshalb werden sie gehalten? Um die eigenen Töchter angeblich in die Gesellschaft einzuführen, in Wirklichkeit aber, ihnen eine gute Partie zu verschaffen und nebenbei auch anderen jungen Damen Gelegenheit zu geben, sich in ihrem vollen Glanze – der Arbeit von Schneiderin und Friseuse – zu zeigen; erwartet man doch natürlich die Revanche auch von anderer Seite. Wem sonst ist damit gedient? Die meisten der Eingeladenen langweilen sich bis aufs Blut und danken Gott, wenn die ganze Geschichte vorüber ist, und welche Arbeit, welche Umstände, ja auch welche Kosten machte es den »freundlichen Wirthen«! Wie viel Unfrieden und Streit ist schon deshalb in Familien entstanden, ja wie Manche, die nun einmal ihrer Meinung nach den äußeren Schein wahren mußten, haben sich vollständig dadurch ruinirt oder doch wenigstens den ersten Grund dazu gelegt!

Aber Herr von Schaller bekümmerte sich gegenwärtig nicht um solche Reflexionen; er war einmal mittendrin, und als ihn seine Gemahlin mit allen Zeichen innerer Entrüstung verließ, blieb er an der Thür stehen, machte, sobald sich diese geschlossen, eine tiefe Verbeugung und sagte dann hinter ihr her: »Gnädige Frau, es war mir sehr angenehm, Ihre werthe Bekanntschaft zu machen. Ihre Ansichten sind allerdings verrückt und Sie selber ein weiblicher Drache, wie er nur im Buche steht, aber – ich habe dennoch die Ehre, mich Ihnen gehorsamst zu empfehlen – hol' Sie der Deubel!«

Und damit, wie er nur seinem Herzen Luft gemacht, ging er wieder an die Arbeit, um die Vorbereitungen für den heutigen Abend zu beenden.

Von Schaller befand sich erst seit kurzer Zeit – es war seit seiner Uebersiedelung nach Rhodenburg kaum ein volles Jahr verflossen – hier in der Stadt; aber sein geselliges und joviales Wesen wie auch ein gewisser vornehmer Reichthum, mit dem er gleich von Anfang an auftrat, gewannen ihm rasch eine Menge von Freunden, und zwar gerade in den aristokratischen Kreisen, und auch das hatte seinen Grund.

Rhodenburg war, wie schon früher erwähnt, keine wirkliche Residenz, wenn auch der Fürst des Landes eine kurze Zeit – etwa anderthalb Sommermonate – darin zubrachte. Der dortige Adel fand sich deshalb eigentlich etwas isolirt, es gab zu wenig Kreise, mit denen er verkehren konnte, denn von bürgerlichen Familien hielt er sich grundsätzlich fern, wie wir das in solchen Mittelstädten gewöhnlich finden. Außerdem herrschte gerade im dortigen Adel nur sehr wenig Reichthum; es waren fast lauter Familien, die einzig und allein vom Hofe erhalten wurden und deren Abkömmlinge man deshalb in alle möglichen Stellungen hineinschob, damit sie dem Staate oder vielmehr der fürstlichen Kasse etwas weniger zur Last fielen. Großen Aufwand konnten sie deshalb nicht machen; selbst ein Adels-Casino, das sie gründen wollten, mußte, weil sie nicht im Stande waren, es anständig zu erhalten, und Einzelne nicht das Geld für Alle hergeben mochten, wieder einschlafen. Sobald deshalb ein adeliger Fremder eintraf, durfte er sich fest darauf verlassen, daß er in diesen Kreisen, wenn er sich überhaupt umgangsfähig zeigte, auch die freundlichste Zuvorkommenheit fand. Herr von Schaller mit seiner Familie hatte davon denn auch natürlich keine Ausnahme gemacht, noch dazu, da er selber ein liebenswürdiger Gesellschafter war.

Er verstand sich auch in der That in alle Kreise zu finden, da er in seiner Jugend, wie er erzählte, Anstellungen bei verschiedenen Höfen gehabt und bald herüber, bald hinüber wechselte. Er stak voll von Anekdoten, die er für alle Schichten in Bereitschaft hatte und keineswegs prüde damit herauskam; dafür suchte er sich aber seinen Kreis von Herren und älteren Damen, die ihn dann unter halb ersticktem Lachen einen »nichtsnutzigen Menschen« nannten. Bei jungen Damen war er dagegen die Galanterie selber und ein wahres Lexikon von Schmeicheleien, die er mit einer solchen Unbefangenheit hervorsprudelte, daß man eigentlich nie recht wußte, ob er Spaß mache oder wirklich im Ernst sei.

Uebrigens hatte er viel erlebt und dabei einen klaren Kopf, wenn auch nicht gerade viel gelernt. In seinem ganzen Wesen lag etwas Oberflächliches, das er aber geschickt zu vertuschen wußte, und manchmal benahm er sich sogar wie ein freigewordenes Füllen, das, zum ersten Mal draußen, sich vor Lust und Wonne gar nicht zu lassen weiß und nur fortwährend hinten ausschlägt und Sätze macht. Das aber that er nur, wenn seine Gattin, die ein derartiges, wie sie es nannte, »rohes Betragen« haßte, nicht dabei war; der Schelm stak ihm aber trotzdem im Nacken, und daher kam es auch, daß er bald in all' den adeligen Familien ein gerngesehener Gast war. Langweilige Menschen hatten sie in ihren Kreisen zur Genüge, und was konnte ihnen willkommener sein, als auch einmal einen Gesellschafter zu finden, der eine Abwechselung in ihre gewöhnlich trockenen Zusammenkünfte brachte!

Indessen näherte sich mehr und mehr die Zeit, wo man das Eintreffen der Gäste erwarten mußte. Die Köchin, die den ganzen Tag gekocht, gebraten und gebacken und kaum Zeit gehabt hatte, ihre eigene Mahlzeit zu nehmen, war unter das Dach in ihr Zimmerchen gegangen, um sich selber ein klein wenig in Staat zu werfen, denn so konnte sie sich vor keinem Menschen blicken lassen, am wenigsten vor den Bedienten, von denen doch später mehrere kamen, um ihre Herrschaften wieder abzuholen.

Kathinka hatte ebenfalls ihre Toilette schon beendet: es war ein liebes und wirklich einfaches Mädchen, aber ganz von den Eltern verschieden im Charakter; sie zeigte sich weit eher still und zurückhaltend und hatte auch in der That schon etwas so Ernstes, wie man es ihren Jahren sonst eigentlich gar nicht würde zugetraut haben. Ja, es gab Momente, wo sie, besonders wenn sie sich unbeobachtet glaubte, recht tief aufseufzen und einen Ausdruck in ihren Zügen zeigen konnte, der auf ein tiefgehendes Herzeleid hindeutete, wenn es möglich gewesen wäre, daß solch ein junges Wesen eben ein anderes Herzeleid kannte, als vielleicht eine unglückliche Liebe. War das der Fall? Hier in Rhodenburg wußte man nichts davon, und wenn so, mußte sie den Pfeil von auswärts hierher getragen haben.

Kathinka konnte übrigens dem Vater, wie sich denken läßt, gar nichts helfen. Sie war in voller Toilette, aber trotzdem sehr einfach und dafür so viel geschmackvoller gekleidet. Sie trug ein weißes Mullkleid mit kleinen Rosen überstreut, eine Rosaschärpe und eine Rose im Haar – das war ihr ganzer Schmuck, eine Perlenschnur um den Hals ausgenommen –, und mit den klaren, aber ernsten Augen, mit der schlanken, edlen Gestalt blieb sie immer eine imposante Erscheinung, ohne trotzdem etwas Sympathisches zu haben. Man konnte sie bewundern, aber man fühlte sich nicht zu ihr hingezogen, und sie schien das auch nicht zu verlangen.

»Ist die Mutter noch nicht fertig?«

»Die Mutter?« rief Herr von Schaller, in voller Arbeit gerade, um noch eine Draperie vor der einen Thür anzubringen. »Segne Deine Seele, Kind, Du weißt, daß die nie bis zum letzten Augenblicke fertig wird, und dann muß sie noch drei- oder viermal gerufen werden – wenn Du mir nur hier das Tuch einmal halten könntest!«

»Aber, Vater, die Gäste müssen gleich kommen; ich habe schon meine Handschuhe an.«

Der Vater machte einen Ansatz, als ob er einer von seinen weniger liebenswürdigen Redensarten Luft geben wollte, aber er verbiß, was er auf der Zunge hatte, und sagte nur: »Dann sei wenigstens so gut und ruf mir einmal das Mädchen – Herr Du mein Gott, ist es denn schon so spät? Ich stehe ja noch hier in meinem Arbeitsrock, und die Lichter sind noch nicht einmal angezündet!«

Kathinka klingelte. – »Die Lohndiener sind da,« sagte sie, »und können das besorgen; Du wirst Dich aber selber eilen müssen.«

»Angenehm, sehr angenehm,« sagte Herr von Schaller, während er auf der Treppenleiter, in der einen Hand einen Nagel, in der andern einen Hammer, stand; »wenn doch gleich ein hei–teres Lüftchen die Wolken verscheuchen und den Mond herausbringen wollte – liebe Kathinka, kommt denn das ver–, das liebe Mädchen noch nicht?«

»Da ist sie schon, Vater.«

»Bitte, halten Sie mir hier einmal den Vorhang, mein Herz,« sagte Herr von Schaller, indem er an der einen Seite zupfte – »hier, sehen Sie denn nicht, wo ich es Ihnen zeige, Sie – Sie haben wohl in Ihrer Jugend einmal einen schweren Fall gethan – bitte, lieber Schatz, auf dieser Seite, Sie sehen doch, daß die andere fertig ist, oder haben Sie vielleicht etwas in's Auge bekommen?«

Das Mädchen, mit gerade nicht übermäßigen Fassungsgaben, hatte endlich begriffen, was sie sollte. Die improvisirte Gardine wurde festgesteckt, und Johanna durfte dann die Treppenleiter wieder mit hinausnehmen und aus dem Wege schaffen.

Jetzt mußte Baron von Schaller aber auch an seine eigene Toilette denken. Kathinka hatte Recht; es war die höchste Zeit, und wenn er noch länger zögerte, kamen ihm die Gäste auf den Hals und trafen ihn im Negligé. Er verschwand, und Kathinka veränderte indessen in aller Ruhe manche gemachten Vorbereitungen, traf noch einige Anordnungen, die sie überwachte, ließ die Lichter anzünden, durchspritzte den Saal mit Hülfe eines Lebensweckers mit Eau de Cologne – ihr Vater hatte natürlich die ganze Zeit die Cigarre nicht aus dem Munde gethan –, und war auch wirklich nur eben mit allem fertig geworden, als schon der erste Wagen vorfuhr und seine rauschende Fracht vor dem Hause entlud.

Herr von Schaller bedurfte aber nur einer unverhältnißmäßig kurzen Zeit, um seine Toilette zu beenden. Noch ehe die Erstkommenden den Saal betreten konnten, hatte er schon einen Wirbel an der Thür seiner Gattin geschlagen und stand jetzt mit lächelndem, freudestrahlendem Antlitz mitten im Saal, um seine Gäste mit vorgestreckten Händen zu begrüßen.

Hofrath Märzen, eine kleine untersetzte Gestalt und immer der Erste bei allen Festlichkeiten, ließ es auch heute an Pünktlichkeit nicht fehlen, und von Schaller war glücklich, ihn zu sehen. Der Hofrath galt viel bei dem regierenden Fürsten, er war sogar hoffähig und deshalb natürlich in den Gesellschaften der haute volée ein stehender Gast.

Wieder rollte ein Wagen vor, und Frau von Schaller fehlte noch immer. Herr von Schaller, während Kathinka die Gäste unterhielt, schoß hinaus, donnerte an das Zimmer seiner Frau und sagte zärtlich: »Liebes Herz, hast Du Dich vielleicht wieder zu Bett gelegt? Es wird gleich zehn Uhr schlagen, und der Saal ist voll von Menschen – eben fahren wieder zwei Wagen vor.«

»Ich komme gleich,« tönte die Stimme fast wie im tiefen Baß heraus – »ich kann nicht zaubern!«

»Nein,« bestätigte ihr Gatte, »das kann ich Dir bezeugen, mein Herz –« und die Augenbrauen finster zusammengezogen, schritt er zum Salon zurück, wo aber sein Antlitz augenblicklich wieder den freundlichsten Ausdruck gewann.

Solbergs waren eben eingetroffen, und Herr von Schaller konnte ihnen kaum mit Worten angeben, wie sehr er sich freue, sie bei sich zu sehen. Dem jungen Solberg schüttelte er dabei besonders kräftig die Hand, und Kathinka empfing dann an der Mutter Statt, die sie immer noch entschuldigen mußte, die Damen mit ihrem gewöhnlichen ruhigen, aber freundlichen Ernst.

So waren schon etwa zwanzig Gäste eingetroffen, als sich die Thür wieder öffnete und Frau von Schaller im wahren Sinne des Wortes auf die Bühne rauschte. Sie erschien im höchsten Glanze, in einem nagelneuen, kirschfarbenen Seidenkleide mit riesiger Schleppe, decolletirt selbstverständlich, mit langen Hängelocken und oben darauf einer Garnitur von nachgebildeten Korallen und Schilf, eine Venus, eben dem schäumenden Meer entstiegen. Zu dem allen paßten natürlich das alte Gesicht und der magere Körper nicht recht; aber was schadete das in einer großen Gesellschaft, der sie noch außerdem als Wirthin vorstand. – Und wie huldvoll sie nach allen Seiten hin lächelte und wie glücklich sie war, so viele liebe Freunde bei sich zu sehen!

Jetzt begann das Vorstellen untereinander, bei dem besonders Hans von Solberg am schärfsten mitgenommen wurde, denn er kannte noch die wenigsten von den Gästen und hätte sich das alles auch gern erspart. Was halfen ihm alle die verschiedenen Namen, die da vor seinen Ohren herumsurrten – oft verstand er sie gar nicht, und wenn das wirklich der Fall war, vergaß er sie doch in demselben Augenblick auch wieder. Aber das konnte trotzdem nichts helfen, denn der Form mußte genügt werden, und er duldete schweigend das Unvermeidliche.

Jetzt kamen Klingenbruchs – der kleine, gemächliche Oberstlieutenant in voller Uniform, und zwar in Gala (aber Gott weiß, wie das mit seinen kurzen Beinen zuging, richtig wieder mit zu kurzen Hosen), und freute sich, wie man sah, aufrichtig, als er Hans wieder begrüßte. Dieser aber athmete erst wieder freier auf, als er den Hauptmann von Dürrbeck eintreten sah. Da war doch wenigstens ein Freund, mit dem er eine Weile plaudern und sich verständigen konnte, denn auf den mit seiner Braut zu sehr beschäftigten Rauten durfte er natürlich nicht zählen.

Das fortwährende Eintreffen von Spätlingen so wie das Herumreichen von Thee und Gebackenem ließ die Gäste aber noch zu keiner rechten Ruhe kommen. Nur im Saale bildeten sich einzelne Gruppen, und Schaller arbeitete noch im Schweiße seines Angesichts, um die Vorstellungen zu Ende zu bringen.

Hans stand mit Dürrbeck an dem einen Fenster, als Herr von Schaller mit Hofrath Märzen auf ihn zugeschoben kam.

»Lieber Solberg, erlauben Sie mir, Ihnen hier einen unserer ersten Koryphäen der schönen Künste vorzustellen, Herr Hofrath Märzen – Herr Hans von Solberg, lieber Hofrath, ein halber Peruaner; er ist auch, glaub' ich, tätowirt und Kazike eines der dortigen Stämme.«

»Es macht mich sehr glücklich, Herr Baron,« sagte der Hofrath, der selbstverständlich in schwarzem Frack, weißer Cravatte und Weste, wie ein paar Orden im Knopfloche, fortwährend seinen Hut vorhielt, als ob er um eine kleine Gabe bitte (alle die übrigen Herren hatten ihre Hüte schon längst abgelegt), »es macht mich sehr glücklich, persönlich die Ehre zu haben, Sie kennen zu lernen.«

»Herr Hofrath, Sie sind sehr freundlich …«

»Unser Hofrath hier,« ergänzte Herr von Schaller, »ist ein Licht in Rhodenburg, ja, ich könnte sagen, eine Fackel und ein höchst ausgezeichneter Mann …«

»Aber, bester Herr von Schaller,« schmunzelte der Hofrath in einer Art von verschämter Verlegenheit, was ihm aber nicht gut stand, denn er hatte ein entschieden dummes Gesicht – »Sie häufen Verdienste auf mich, die ich nicht besitze. Wenn mich Se. Königliche Hoheit ausgezeichnet haben …«

»Bst, bst, bst,« winkte Herr von Schaller mit der Hand, »Ihre Bescheidenheit allein will nichts davon wissen, sonst weiß es aber die ganze Stadt, und wir werden hoffentlich noch heut' Abend die Bestätigung selber hören.«

Hofrath Märzen zog wieder den Mund zu einem freundlichen Lächeln breit, aber von Schaller hatte ihn schon auf's Neue unter den Arm gefaßt, um ihn noch ein paar anderen Freunden vorzustellen, und Hans sagte lächelnd zu Dürrbeck:

»Jetzt bitte ich Dich um Gottes willen, Bernhard, das ist nun eine deutsche Salonfigur, hat Titel und Orden und wird herumgeschleppt und den Menschen gezeigt – und wie sieht er aus? Wie eine Carricatur – was ist er eigentlich?«

»Oh, so viel ich weiß, ein ziemlich wohlhabender Mann, der aber auch zu gleicher Zeit schriftstellert und überhaupt den Schöngeist spielt. Er schreibt Prologe und Gelegenheitsstücke, arrangirt kleine Festlichkeiten und wird besonders dazu in den verschiedenen Familien eingeladen. Sonst ist es ein entsetzlich langweiliger Patron und muß sogar in weißen Glacéhandschuhen schlafen, anders wenigstens habe ich ihn noch nie gesehen.«

»Er hält seinen Hut hartnäckig fest.«

»Tanzest Du?« sagte Dürrbeck.

»Wenn es sein muß, ja,« erwiderte Hans, »aber nicht leidenschaftlich und nicht lange.«

»Wir haben heut Abend einen sehr hübschen Mädchenflor.«

»Allerdings; ich hätte gar nicht geglaubt, daß Rhodenburg so viel davon aufzuweisen hätte.«

»Kennst Du Fräulein von Schaller näher?«

»Nein, ich sehe sie heut zum zweiten Mal. Sie sieht wunderhübsch aus, und so einfach, aber ernst.«

»Es ist ein eigenthümlicher Charakter, Hans, tief und, wie ich glaube, edel,« sagte Dürrbeck. »Ich bin mehrere Male mit ihr zusammengetroffen und hatte Gelegenheit, mich mit ihr zu unterhalten. So albern und eingebildet ihre Mutter sein mag – über den Vater bin ich noch selber nicht mit mir einig –, so hat mich dagegen die Einfachheit und dabei das warme Gefühl des Mädchens, mit besonders ganz gesunden Ansichten, überrascht.«

»Sie muß noch sehr jung sein,« sagte Hans, »und dabei schon dieser ernste Ausdruck in den Zügen! Da sind die Fräulein von Klingenbruch heiterer.«

»Das allerdings,« lächelte Dürrbeck; »die Jüngste, Fräulein Flora, ist besonders voller Leben. Der kleine Mund steht ihr keine zwei Minuten still. Aber ich will einmal hinüber zum alten Oberstlieutenant gehen; das ist ein prächtiger alter Herr und dabei herzensgut und immer fidel.«

»Der hat mir auch sehr gefallen,« nickte Hans – »seine Frau weniger.«

Dürrbeck war quer durch den Saal gegangen, und Hans setzte seine Beobachtungen indessen allein fort, als sich plötzlich ein Arm in den seinen schob und er, sich danach wendend, Herrn von Schaller bemerkte, der freundlich sagte:

»Nun, mein lieber Solberg, lassen Sie sich's bei uns gefallen, und je öfter Sie dann wiederkommen, desto besser. Hier aber thun Sie, als ob Sie bei sich zu Hause wären.«

»Sie sind so freundlich, lieber Baron …«

»Ich habe es uns auch behaglich gemacht,« flüsterte ihm Schaller lächelnd zu, »und da nebenan eine Nothröhre angebracht, wo wir zu Bau fahren und ganz gemüthlich eine Cigarre rauchen und ein Glas gutes Bier trinken können.«

»Vortrefflich!« rief Hans, »das ist allerdings eine Ueberraschung.«

»Aber ganz dürfen Sie sich den Damen auch nicht entziehen, lieber Solberg,« sagte der Baron. »Sie müssen bedenken, daß Sie von Allen mit einer gewissen Ehrfurcht betrachtet werden – aber in Zwischenpausen machen wir es uns nachher gemüthlich.«

»Das ist recht,« sagte Hans, »und da bin ich auch mit Vergnügen dabei, lieber Baron, denn ich muß Ihnen gestehen, daß ich mich von dem steifen Gesellschaftsleben ein wenig entwöhnt habe.«

»Aber das finden Sie auch nicht bei uns,« rief Schaller rasch. »Ich halte wenigstens darauf, daß sich in meinem Bereich Niemand Zwang anthut und Jeder etwas findet, das für ihn paßt. Sie sollen einmal sehen, lieber Solberg, Sie werden sich bei uns schon heimisch fühlen, und während wir uns geben wie wir sind, wünschen wir das auch von unseren Gästen. Nur auf Eins,« setzte er hinzu und warf den Blick etwas vorsichtig umher – »auf Eins möchte ich Sie aufmerksam machen und Ihre Nachsicht erbitten.«

»Meine Nachsicht, lieber Baron?«

»Meine arme Frau,« sagte Schaller leise, indem er seinen langen Körper etwas niederbog.

»Ihre Frau Gemahlin?« sagte Hans und sah erstaunt zu ihm auf.

Schaller antwortete aber nicht gleich, wenigstens nicht mit Worten, sondern machte nur eine ziemlich bezeichnende Bewegung, indem er mit dem dritten Finger der rechten Hand seine Stirn leise tupfte.

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Lieber Freund,« sagte Schaller vertraulich, »wir sind hier unter uns, und nur ganz unter uns – Sie verstehen mich schon – möchte ich Ihnen andeuten, daß sie – daß sie ein wenig überspannt ist und manchmal – na, ich habe kein anderes Wort dafür – ein bischen verrückte Einfälle hat – aber ganz harmlos, bester Freund, ganz harmlos. Es hat gar nichts zu sagen, nur ein wenig Nachsicht muß man mit ihr haben und ihre Worte nicht immer zu genau auf die Wagschale legen; sonst ist sie herzensgut, wie gesagt, nur ein wenig confus – ein paar Schrauben losgegangen, verstehen Sie mich. Aber entschuldigen Sie,« unterbrach er sich in dem Augenblick, als er sah, daß die Lohndiener anfingen Stühle zurecht zu setzen, »ich glaube, unser Hofrath hat eine kleine Ueberraschung in petto – ein famoser Mensch, nur manchmal ein bischen langweilig; aber das sind alle geistreichen Männer, wenigstens für uns arme Sterbliche, die wir solchem Gedankenflug nicht immer zu folgen vermögen. Wenn es die Noth verlangt, gehen wir nachher durch unsere Nothröhre ab.«

»Ich glaubte, es sollte getanzt werden?«

»Ja, nachher. Meine liebe Frau schwärmt aber für das Aesthetische und hat da immer einige Ueberraschungen – ich bin gleich wieder bei Ihnen.«

Hans beobachtete jetzt den Hofrath, der mit einem ganz eigenthümlichen Eifer zu Werke ging. Seinen hohen, schon etwas schäbigen Cylinderhut trug er noch immer, vielleicht als Zierrath, in der Hand; das verhinderte ihn aber nicht, einen kleinen Tisch selber in die Mitte der Stube zu schleppen und sich dann, immer mit dem Hute fest zwischen den Fingern, ein paar Lichter eigenhändig herbei zu holen. Dabei flüsterte er einem der Lohndiener etwas zu, der denn auch bald nachher mit einem großen Glase zurückkehrte und es auf ein Zeichen des Hofraths zwischen die beiden Lichter setzte.

Die Gäste schienen schon zu wissen, was ihnen bevorstand, welcher Genuß nämlich –, und die älteren Damen rangirten sich mit einem huldvollen Lächeln auf die nächsten Stühle; nur die jungen Damen trippelten ein wenig ungeduldig mit den kleinen Füßen. Sie hatten sich auf etwas ganz anderes gefreut und im Stillen gehofft, daß gleich mit Tanzen angefangen würde. Einige von ihnen wußten dabei aus schwer erkaufter Erfahrung, daß Hofrath Märzen, wenn er einmal das Wort hatte, auch nicht so rasch wieder vom Schauplatze abtrat, und wie viel kostbare Zeit vergeudeten sie dabei!

Hofrath Märzen indessen, sich in diesem Augenblicke seiner bevorzugten Stellung vollkommen bewußt, versuchte, ein sehr dickleibiges Buch aus der hintern Tasche seines Fracks heraus zu ziehen; aber es war mit einer Hand nicht möglich, der Hut genirte ihn, und er stellte das unglückselige Filzdach endlich in reiner Verzweiflung unter seinen Stuhl. Er durfte die Zuhörer nicht so lange in Spannung halten.

Hans amüsirte sich vortrefflich bei diesen Vorbereitungen und war selber neugierig geworden, was der komische kleine Herr wohl zum Besten geben würde, als er plötzlich die Dame des Hauses direct auf sich zukommen sah.

»Aber, mein lieber Herr von Solberg,« sagte sie, indem sie ihren Fächer kokett gegen die rechte Wange hielt, »warum stehen Sie hier so einsam und verlassen? Warum mischen Sie sich nicht unter das junge Volk und entziehen ihm so Ihre schätzbare Gegenwart?«

»Gnädige Frau,« sagte Hans etwas verlegen, denn er dachte in dem Augenblick an das, was ihm Herr von Schaller noch vor wenigen Minuten gesagt hatte.

»Wirklich, lieber Baron,« sagte die gnädige Frau vertraulich, »Sie dürfen sich hier bei uns nicht so isolirt halten und als Fremder fühlen. Sie sind uns auch gar nicht mehr fremd. Sie glauben nicht, wie viel wir schon von Ihnen gesprochen haben. Aber hoffentlich lernen Sie uns in der nächsten Zeit besser kennen; betrachten Sie unser Haus wie das Ihrige, und auch mit meinem Manne werden Sie sich näher befreunden. Nur ein bischen Nachsicht müssen Sie mit ihm haben, darum bitte ich Sie.«

»Nachsicht, gnädige Frau, wie so?«

»Ach,« sagte Frau von Schaller und warf den Blick etwas über ihre bloße Schulter, »er ist ja seelensgut und hat auch wohl manche geselligen Talente, aber …«

»Aber?«

»Aber,« sagte Frau von Schaller leise, indem sie sich ein wenig zu dem jungen Manne hinüber neigte und den Fächer rechts an ihren Mund hielt, »er hat oft so sonderbare – ich habe eigentlich keinen Ausdruck dafür – Schrullen, möchte ich sagen, um das mildeste Wort zu gebrauchen. Wissen Sie, hier –« und sie deutete mit dem Fächer nach ihrer Stirn, genau so, wie es vorher ihr Gatte mit dem Finger gethan hatte, als er von ihr sprach – »fehlt es ihm manchmal. Es hat mir auch schon ernstliche Besorgniß gemacht,« setzte sie hinzu, »wenn ich daran dachte, daß es mehr um sich greifen könnte. Bis jetzt ist er aber vollkommen harmlos, und kleine Schwachheiten muß man ihm eben nachsehen.«

»Aber, gnädige Frau,« lächelte Hans, dem diese gegenseitige Empfehlung der Gatten doch ein wenig komisch vorkam, »ich versichere Ihnen, ich habe noch nichts Derartiges an Herrn von Schaller entdeckt und halte ihn im Gegentheil für einen sehr scharfsichtigen Menschen, der auch dabei ein gutes Theil gesunden und vollkommen natürlichen Humors hat.«

»Er täuscht,« sagte die gnädige Frau flüsternd, »er täuscht entsetzlich, und ich werde manchmal selber an ihm irre; aber das ist dann der böse Geist, der in ihm lauert, und man muß ihn eben zu behandeln wissen. Ich leite ihn mit Liebe wie an einem Gängelbande, und dann ist er wirklich der seelensbeste Mensch und ein Ehrenmann durch und durch.«

»Daran zweifelt wohl Niemand, gnädige Frau – aber ich glaube, der Herr Hofrath wird dort eine Art von Vortrag beginnen. Ob das wohl lange dauert?« setzte er vorsichtig hinzu.

»Ach, er liest himmlisch,« sagte Frau von Schaller, mit einem schmachtenden Blick nach der Zimmerdecke, »so seelenvoll, so geistreich! Er ist eine wahre Perle von einem Menschen, und wie uns gesagt wurde, will ihn Se. Königliche Hoheit auch in den Adelstand erheben.«

»In der That? Hofrath von Märzen würde sehr gut klingen.«

»Ach, er verdient es auch,« sagte Frau von Schaller entzückt, »er verdiente einen Lorbeerkranz! Es ist eine rein poetische Natur, und so schwärmerisch, so weich, nur fast ein wenig zu melancholisch. Ich sage Ihnen, wenn ich ihn höre, wird mir immer, als wenn ich mich so recht von Herzen ausweinen müßte.«

Das sind angenehme Aussichten für einen vergnügten Abend! dachte Hans; aber eine Antwort wurde ihm erspart, denn der Hofrath begann. Frau von Schaller winkte dem jungen Manne bedeutungsvoll mit ihrem Fächer, sich ja recht ruhig zu verhalten, und glitt dann hinüber auf ihren Platz.

Wenn ich sage: der Hofrath begann, so meine ich damit, daß er anfing, sich laut zu räuspern, gewissermaßen ein Zeichen für die Gesellschaft, wie die Glocke eines Präsidenten, daß sich gefälligst Jeder ruhig verhalten möge. Dann schnäuzte er sich gewissenhaft in ein weiß gesticktes Batisttaschentuch, wischte sich die Brille mit dem nämlichen noch einmal sauber ab, rückte die Lichter ein wenig, nahm einen Schluck Wasser und mußte sich wieder den Mund wischen, sah dann nach seinem Hut, ob der noch immer unter seinem Stuhle stand, und begann nun mit einer Grabesstimme – ein Capitel aus Reuter's »Ut mine Stromtid« in einem ganz schauerlichen Plattdeutsch vorzulesen.

Hans traute zuerst seinen Ohren kaum, aber es war richtig, und die Zuhörer saßen dabei geduldig wie die Lämmer und ließen sich ohne ein Wort des Widerstandes gesellschaftlich mißhandeln.

Wohl eine Viertelstunde stand Hans und fühlte, wie es ihm anfing eiskalt über den Rücken herunter zu laufen; da bemerkte er von Schaller, der ihm vorsichtig zuwinkte, und als er sich so geräuschlos als möglich und immer auf den Zehen dort hinüber zog, flüsterte ihm der alte Herr zu: »Es wird Zeit, daß wir durch die Nothröhre abgehen. Ich wollte Klingenbruch auch mitnehmen, aber der schläft schon sanft, und ich mochte ihn nicht stören; er hätte auch zuviel Spectakel gemacht.«

Beide glitten jetzt durch eine offen stehende Thür in ein Nebencabinet und durch dieses hin in eine andere kleine, ganz gemüthliche Stube: das Studirzimmer des Barons.

»Alle Wetter,« rief Hans vergnügt aus, als er dort ein Kistchen Cigarren und Bierflaschen auf dem Tische stehen sah, »Herr von Schaller, das war eine sehr glückliche Idee!«

»Heh, nicht wahr?« lachte der lange Baron. »Das ist hier mein Zufluchtsort, wenn sie mir's da draußen zu arg treiben. Der Hofrath ist jetzt aufgezogen und muß erst wieder ablaufen, und so lange haben wir Zeit. Da, helfen Sie sich selber, lieber Solberg, langen Sie zu; ich will sehen, daß ich noch einen oder den anderen Unglücklichen aus dem Strudel rette.«

»Aber weshalb fordern Sie den entsetzlichen Menschen zum Lesen auf?«

»Auffordern?« sagte von Schatter und sah Hans mit einem komischen Blick über die Brille an. »Glauben Sie, der läßt sich auffordern? Der kommt schon, die ganzen Taschen voll Bücher und Manuscripte, an und kann nie die Zeit erwarten, bis der Thee getrunken ist. Uebrigens schwärmen die Frauen für ihn – aber ich bin gleich wieder da, machen Sie sich's bequem.«

Hans ließ sich nicht lange nöthigen, und nach kaum fünf Minuten kehrte Schaller auch schon mit Hauptmann Dürrbeck, dem Hausarzte Doctor Potter und noch ein paar anderen Herren zurück, die auch gleich beschlossen, hier eine gemüthliche Whistpartie zu arrangiren. Der schloß sich aber Hans nicht an, da es ihn amüsirte, wieder einmal eine ächt deutsche Gesellschaft vom Anfang bis zum Ende durchzukosten.

Eine gute halbe Stunde verbrachte er aber doch in dem Rauchcoupé und kehrte dann erst wieder in den Saal zurück.

Dort fand er den unseligen Hofrath allerdings in einer sehr hohen Transpiration, denn er trocknete sich mit seinem Tuch mehrfach die Stirn, aber noch immer unverdrossen bei der Arbeit – jedoch nicht mehr bei Reuter's Stromtid. Er hatte das Plattdeutsche aufgegeben und mit Hülfe eines starken Manuskriptes den Pegasus bestiegen, der ihn, nicht mit klappernden Hufen, aber doch ähnlichen Versen, gegen die Wolken trug. Es war eine Betrachtung über den Tod, die er vortrug, und Hans kam eben dazu, wie er mit wahrhaft entsetzlicher Gewissenhaftigkeit die Verwesung der beigesetzten Leichname schilderte.

Vor ihm, etwas zurück von den Uebrigen, saß der alte Oberstlieutenant, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen; aber Niemand achtete auf ihn, denn Grausen hatte die Hörer erfaßt.

Als Hans vorsichtig hinter dem Stuhle des Oberstlieutenants hinweg wollte, um hinüber zu gehen, wo er Rauten stehen sah, der mit stoischem Gleichmuth alles über sich ergehen ließ, bemerkte er, wie er sorgsam das Terrain sondirte, unter dem Stuhle des alten Klingenbruch, aber etwas nach hinten geschoben, eine gestickte Fußbank, die ihm genau so aussah wie neulich die musikalische. Er warf den Blick umher, Niemand achtete auf ihn, und in einem Anflug von wahrhaft teuflischem Humor schob er langsam seine Fußspitze vor, drückte fest damit auf das Polster, zog dann den Fuß rasch zurück und hatte sich schon wenigstens fünf oder sechs Schritt davon entfernt, so daß nicht der geringste Verdacht auf ihn fallen konnte, als das Mittel wirkte.

War er selber aber auf das »Heil Dir im Siegerkranz« gefaßt gewesen, so überraschte ihn die Fußbank jetzt mit

»Oh seht, wie herrlich strahlt der Morgen
Hier am Gestad', nach trüber Nacht –«

»Entsetzen faßt und Grausen packt mich an,« las der Hofrath – »Der weiche Körper, noch vor kurzer Frist …«

»Di diddel di diddel, besteigt den Nachen ohne Sorgen,« sang die Fußbank.

»Gesund und kräftig und ein Scheusal dann, an dem der Wurm in Wollust gierig frißt,« sagte der Hofrath.

»Und trotzet kühn der Wogen Macht.
Doch führ' Dein Schifflein klug und weise.«

Die Fußbank hatte gesiegt, denn selbst der Vorleser war stutzig geworden und horchte hinüber, und alles wandte erstaunt den Kopf dem unglücklichen Oberstlieutenant zu, der ahnungslos über der Barcarole fortschlief.

»Kamerad, plaudre nicht – Kamerad, plaudre nicht
Und wirf Dein Netz mit Vorsicht leise!
Kamerad, plaudre nicht!
Dem Meertyrannen gilt die kühne Jagd, dideldum di,
Dem Meertyrannen gilt die kühne Jagd –«

Lieutenant von Wöhfen stand glücklicher Weise neben ihm und stieß ihn an; der arme Klingenbruch wachte auch augenblicklich auf, sah aber bestürzt alle Blicke auf sich gewandt und hörte dazu unter seinem eigenen Stuhle das hellklingende Nachspiel: »Di deldiddel di dum – di – etc.,« das wie mit Glockenklängen durch die Todtenstille des Saales tönte.

Aber das war zu viel für die Lachmuskeln des jungen Volkes, das sich lange nach einer Unterbrechung dieser wirklich schauderhaften Verse gesehnt. Der Anblick des Oberstlieutenants, der jetzt mit einem ganz verdutzten Gesicht seitwärts unter seinen Stuhl schielte, war zu überwältigend. Erst begann ein leises, noch halb verstecktes Kichern, dann aber ließ sich der Strom nicht länger zurückdämmen. Man konnte natürlich nicht anders denken, als daß der alte gemüthliche Oberstlieutenant im Schlafe auf die Spieldose getreten habe, und ein lautes, fröhliches Gelächter füllte den Saal.

In diesem Augenblick trat Schaller, sehr erstaunt über die Heiterkeit, in die Thür, hörte aber kaum durch eine momentane Pause die vergnügte Fußbank, welche schon im zweiten Vers ganz ruhig fortleierte: »Sind List und Muth mit Euch im Bunde«, als er auch im Nu begriff, was hier vorgegangen. Der Hofrath war aufgesprungen und stand, in der rechten Hand sein Manuskript, wie ein zürnender Gott vor dem kleinen Tische und zwischen den Lichtern. Schaller aber sprang augenblicklich zu, erfaßte die unglückselige Fußbank und trug sie fort, während sie hartnäckig weiter spielte: »Doch führ' Dein Schifflein klug und weise« – und in der Ferne verklangen die Töne: »Kamerad, Plaudre nicht!«

Frau von Schaller war natürlich gleich auf den Hofrath zugestürzt, um ihn zu beruhigen und den »unglücklichen Zufall« zu entschuldigen; er solle sich nur nicht stören lassen und weiter lesen – und das unselige Menschenkind hätte es auch gethan, aber es ging nicht mehr. Die Geduld der Zuhörer hatte überhaupt ihre äußerste Grenze erreicht. Das junge Volk war von seinen Sitzen aufgesprungen und plauderte und lachte mit einander, und ein Versuch, sie wieder zum Niedersitzen zu bewegen, blieb vollständig erfolglos; das drängte schon herüber und hinüber, und dem Hofrath blieb in der That nichts anderes übrig, als sein schon wieder aufgeklapptes Manuskript in die Brusttasche zurück zu schieben, seinen Hut unter dem Stuhle vorzuholen und sich in die Stille des Privatlebens zurück zu ziehen.

Als Schaller wieder in den Saal kam, traf er auf Hans, der sich bei der ganzen Zwischenscene vortrefflich amüsirt hatte.

»Wer zum Henker,« sagte er, »hat denn eigentlich das verfluchte Ding in Gang gebracht? Der Hofrath wird wüthend gewesen sein! Wo ist er denn jetzt?«

»Dort hinüber,« lachte Hans, »es war kostbar! – Aber was machen die Damen dort drüben?«

Schaller seufzte, hob dann den Kopf hoch in die Höhe, fuhr sich mit dem linken Zeigefinger in die Cravatte und arbeitete darin herum – »sie werden ein wenig musiciren wollen; ohne das geht's nicht ab.«

»Zum Tanz?«

»Vor der Hand wohl nur zum Gesang. Sind Sie musikalisch?«

»Sehr wenig, aber ich höre gern gute Musik …«

»Dann wollen wir wieder hinübergehen und unsere Cigarre ausrauchen.«

»Weshalb?« lachte Hans. »Versprechen Sie sich nicht viel davon?«

»Meine Frau singt!« sagte der Baron mit solcher Resignation, daß Hans laut auflachen mußte. Schaller war aber schon wieder hinaus, und er beschloß, jetzt jedenfalls den Anfang anzuhören.

Der ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Frau von Schaller stand richtig am Clavier, ein Notenblatt in der Hand, schob sich die Locken etwas von den Wangen – ein junger Officier, der mit der Familie bekannt war, accompagnirte –, und »auf Flügeln des Gesanges« schallte mit einer schneidenden, aber außerordentlich getragenen und schwärmerischen Stimme durch den Saal – daß sie manchmal ein paar Zoll daneben hinauskam, schadete nichts.

Hans lachte still in sich hinein und sah, wie die Damen, als das Lied beendet war, sich um die gnädige Frau herumdrängten und ihr mit den aufrichtigsten Gesichtern Elogen machten. Fast unwillkürlich suchte sein Blick Kathinka. Sie stand unfern davon allein, aber ein bitterer Zug hatte sich um ihre Lippen gelegt und ihr Auge haftete am Boden. Sie mußte fühlen, wie traurig der Gesang gewesen, wie unberechtigt und gemacht jetzt all' diese Lobeserhebungen waren.

Es war etwas Räthselhaftes in dem verschlossenen Charakter des Mädchens, und Hans beschloß, ihr doch etwas näher zu treten; es interessirte ihn, ohne daß er sich Rechenschaft davon zu geben wußte weshalb, etwas tiefer in das Geheimniß einzudringen.

Der Gesang, oder vielmehr dieses Lied war jetzt glücklicher Weise beendet – aber die Musik noch nicht, denn verschiedene andere Damen wurden jetzt aufgefordert, zu singen, und Hans, der die Augen überall hatte, bemerkte zu seinem innigen Vergnügen, wie Frau Oberstlieutenant von Klingenbruch ihrer ältesten Tochter Henriette heimlich einen Puff gab, damit sie doch vortreten und sich hören lassen sollte.

Zuerst sang eine junge Dame, Fräulein von Noltje, mit einer wirklich klang- und seelenvollen Stimme den »Erlkönig« von Schubert; dann kam richtig Henriette, die ebenfalls eine recht hübsche, volle Stimme hatte, aber ein heiteres Lied wählte.

Fräulein von Schaller war indeß von verschiedenen Seiten gebeten worden, ebenfalls etwas zu singen. Es schien ihr nicht angenehm, sie sträubte sich wenigstens so lange, wie sie es höflicher Weise thun konnte. Endlich setzte sie sich an's Clavier, während Hans sich in ihre Nähe gezogen hatte, und sich selber begleitend, sang sie

»Das Meer erglänzte weit hinaus
Im letzten Abendscheine –«

mit einer so wunderbaren Altstimme, mit einem solchen Gefühl, daß Hans unwillkürlich die Thränen in die Augen traten und er sich abwandte, um seine Bewegung Niemanden merken zu lassen.

Dem jungen Volke waren diese Gesangvorträge indeß keineswegs erwünscht, denn sie verzögerten nur noch immer den lang herbeigesehnten und erhofften, ja fest versprochenen Tanz; von Schaller ließ aber in dieser Hinsicht auch nichts zu wünschen übrig, denn er kannte seine Gäste gut genug. Jetzt gab er deshalb das Zeichen, das Buffet zu eröffnen, und schon während die Gesellschaft aufgefordert wurde, sich dort hinüber zu begeben und einen Imbiß zu nehmen, begann die in einem kleinem Cabinet hinter einer Gardine verborgene Musik den Marsch aus »Tannhäuser« zu spielen, damit sich die Paare arrangiren und dem Rufe Folge leisten konnten.

Hans war noch nahe am Instrument geblieben, und da er Kathinka unfern davon stehen sah und außerdem bemerkte, wie die verschiedenen jungen Herren den jungen Damen schon den Arm boten, trat er auf sie zu und sagte freundlich: »Darf ich mir erlauben, mein gnädiges Fräulein, Sie hinüber zu führen?«

Als er sie anredete, hatte sie den Blick nicht auf ihn gerichtet gehalten, sondern mehr links, und er bemerkte, daß von dort schon jemand anderes wahrscheinlich in derselben Absicht herbeigekommen war. Wie er flüchtig dort hinsah, erkannte er den jungen Doctor Potter, der aber natürlich augenblicklich einbog. Kathinka aber dankte ihm mit einem freundlichen Lächeln, was sie gar so lieb kleidete, und legte ohne Weiteres ihren Arm in den seinen.

Als er zur Seite schaute, bemerkte er noch immer den Doctor, der den Blick auf seine Dame gerichtet hielt, und es kam ihm fast so vor, als ob er einen ängstlichen Ausdruck in dessen Zügen entdecke. Das alles war aber nur ein Moment, denn zu einer längeren Beobachtung blieb ihm keine Zeit. Die Paare drängten herbei, neben ihm Lieutenant von Wöhfen, der glücklich in Henriettens Besitz gelangt war, und Hauptmann von Dürrbeck, als Bräutigam, galant mit der Dame vom Hause.

Im Buffet selber mußten aber die Herren natürlich den Damen den Vorrang lassen, das nicht geräumige Local wäre sonst überfüllt worden, und ein geselliges, fröhliches Leben entwickelte sich jetzt, denn es war fast, als ob dem jungen Volke ein Alp von der Brust wäre, der in der Gestalt des Hofraths auf ihnen gesessen und sie »im Schlaf gequält« hatte.

Dem Oberstlieutenant war aber ebenfalls durch die rasche Wendung, welche die Gesellschaft in ihrer Beschäftigung erhielt, ein großer Gefallen erwiesen, denn seine Gattin hatte sich schon zu ihm durchgearbeitet gehabt, um ihm heimliche, aber mit Dolchblicken begleitete Vorwürfe über sein vollständig tactloses Benehmen bei der Vorlesung zu machen. Darin wurde sie jetzt gründlich gestört, und der Oberstlieutenant bot in seiner Verzweiflung, um nur rasch von ihr los zu kommen, der ersten besten Dame, der alten Frau von Noltje, seinen Arm. Wie man sich in der Stadt boshafter Weise erzählte, hatte gerade diese Dame die schärfste Zunge im ganzen Umfange des Reiches, aber er brauchte sie ja auch nur bis zur Thür zu führen, und bis dahin hielt er's aus – er kannte überhaupt noch eine schärfere Zunge im Reiche.

Hans hatte indessen für seine Dame (der Oberstlieutenant vernachlässigte die seine gründlich) einen Platz an einem der kleinen, jetzt rasch von den Lohndienern arrangirten Tische reservirt, wo sich noch andere junge Paare zu ihnen fanden. Es gelang ihm auch wirklich, seine Nachbarin gesprächig zu machen; sie unterhielt sich freundlich mit ihm, und er fand bald, daß Dürrbeck wohl Recht gehabt, als er ihm gesagt, daß sie einen ganz eigenthümlichen und merkwürdigen Charakter besitze. Sie konnte kaum achtzehn Jahre zählen, aber sie benahm sich gar nicht wie ein so junges Mädchen, und ihren andern Nachbar, der versuchte, ihr einige fade Schmeicheleien zu sagen – es giebt junge Officiere, die das manchmal versuchen –, führte sie mit ein paar hingeworfenen Worten so gründlich heim, daß er ganz bestürzt schwieg und sich dann mit seiner Unterhaltung nur auf die eigene Dame beschränkte.

Als sich Hans im Saale umsah, bemerkte er an dem ihnen gegenüber stehenden Tische den Doctor Potter, der dorthin Frau von Klingenbruch geführt hatte, aber sehr zerstreut in seiner Unterhaltung schien und fortwährend nach ihnen hinsah. So scharf er aber auch seine Nachbarin beobachtete, ob sie das fühle, konnte er nicht das Geringste entdecken, was ihn darin bestärkt hätte. Sie wandte den Blick nicht ein einziges Mal dorthin und schien sich ganz und vollkommen ihrer Unterhaltung hinzugeben.

Aber das Abendessen dauerte nicht lange. Dem jungen Volke zuckte es in den Füßen; die Tafelmusik hatte, wenn auch noch gedämpft – wie das bei jeder Tafelmusik der Fall sein sollte, aber leider so selten ist –, einen muntern Galopp begonnen, und dem konnten die tanzlustigen Paare nicht länger widerstehen. Die älteren Gäste sahen mit Entsetzen, wie ihnen der Boden zu einem ruhigen Genuß unter den Füßen weggezogen wurde; rings umher wurden die eben unbesetzten Tische hinausgeschafft. Wo Jemand seinen Stuhl verließ, um sich neuen Vorrath zu holen, fand er ihn bei der Rückkehr gewiß nicht wieder. Ein förmlich revolutionärer Geist hatte sich des ganzen Saales bemächtigt, und wer noch irgend Anspruch auf eine Erquickung machen wollte, sah bald ein, daß er die nur einzig und allein im Buffetzimmer selber suchen mußte.

In kaum zehn Minuten war der Saal vollständig geräumt. Lieutenant von Wöhfen hatte das Arrangement des Tanzes übernommen; er schlug die Hände, die Paare ordneten sich, und mit den Tönen flogen sie mit freudestrahlenden Gesichtern durch den Saal, glücklich, in dem Augenblicke schwelgend, und nur ein einziges düsteres Menschenantlitz leuchtete wie Nordlichtschein über das fröhliche Volk hin, und das gehörte dem Hofrath Märzen, der, die Hand auf seinem Manuscript, ein verächtliches, todtbitteres Lächeln um seine Lippen zuckend, an dem einen Fenster lehnte und dieses bunte Gewirr überschaute.

»Kein Kunstsinn mehr in der Welt,« murmelte er dabei vor sich hin, »in Kopf und Herzen haben sie nichts mehr; in die Beine ist es ihnen gefahren; kein Gefühl für das Schöne und Erhabene – pfui über die Menschen!«

Und der Hofrath ging zurück in's Buffet, um dort seinen Aerger zu vertrinken.

Hans von Solberg hatte seine Tischnachbarin natürlich zu dem ersten Tanze engagirt; sie ging auch auf seine Unterhaltung aufs Freundlichste ein und überraschte ihn manchmal durch ihre Antworten. Aber er war nicht im Stande, sie wirklich heiter zu stimmen, so daß er sich des Gedankens nicht erwehren konnte, sie tanze überhaupt nicht gern. Sie bestätigte ihm seine Frage.

»Ich finde keine große Freude daran,« sagte sie ruhig, »und begreife eigentlich nicht, wie sich dem Viele mit solcher Leidenschaft hingeben können.«

»Aber bei einer recht lebendigen Gesellschaft, im Kreise froher, glücklicher Menschen fühlt man sich doch dazu angeregt.«

»Ja,« sagte Kathinka leise, und es war, als ob ihr ein recht weher Schmerz durch das Herz zuckte – »zwischen glücklichen Menschen.«

Fast unwillkürlich drängte es Hans; er hätte so gern fragen mögen: »Und sind Sie nicht glücklich, Kathinka?« Denn es war ihm in dem Augenblicke fast, als ob er schon lange, lange Jahre mit dem jungen Wesen an seiner Seite bekannt und befreundet gewesen wäre. Aber es ging nicht; welches Recht konnte er, der vollkommen Fremde hier im Hause, für sich geltend machen, eine solche Frage an sie zu richten?

Der Tanz war vorüber; Andere drängten sich hinzu, um mit der Tochter des Hauses anzutreten. Hans gab ihnen Raum, aber das junge Mädchen fing doch an, ihn zu interessiren. Er beobachtete sie aus der Ferne, aber sie blieb sich gegen alle gleich; ja, als sie selbst mit dem jungen Doctor Potter tanzte, War sie eher noch stiller geworden, als vorher, und beantwortete wohl freundlich, aber immer nur kurz seine an sie gerichteten Bemerkungen.

Graf Rauten hatte zweimal mit seiner Braut und einmal mit Kathinka wie einmal mit Flora von Klingenbruch getanzt; jetzt zog er sich etwas zurück in das Spielzimmer, und Hans folgte ihm bald dorthin, wo sich schon einige Spieltische besetzt und die Herren eigentlich ein wenig stark gequalmt hatten. Graf Rauten stand noch in der Thür.

»Ich weiß wahrhaftig nicht, ob man sich hineinwagen darf,« sagte er zu Hans, der an ihn herantrat; »man wird den Tabaksgeruch nachher nicht wieder los.«

»Die paar Momente schaden nichts,« lachte dieser, »wenn auch Mama oder Fränzchen ein wenig Tabaksqualm an Dir riechen.«

»Du weißt, daß sie es nicht vertragen können.«

»Bah, Unsinn,« sagte der junge Mann, »rede mir nur nicht von vertragen können; Einbildung ist es und weiter nichts! Glaubst Du, daß sie zartere Nerven haben oder anders organisirt sind als Fräulein von Schaller? Und der alte Herr qualmt den ganzen Tag.«

»Wie gefällt Dir Kathinka?«

»Gut, sehr gut!« sagte Hans mit Nachdruck; »Dürrbeck machte mich schon auf sie aufmerksam. Es ist ein ganz eigenthümlicher Charakter.«

»Dürrbeck ist ein alter Jugendfreund von Dir, wie?«

»Ja, und ein prächtiger, braver Mensch.«

Rauten sah still vor sich nieder, ohne etwas darauf zu erwidern, und Hans sagte endlich, indem er ihn von der Seite ansah:

»Hast Du etwas auf den Hauptmann?«

»Ich? Nein,« meinte Rauten kopfschüttelnd. »Was soll ich auf ihn haben?«

»Ich weiß nicht, aber es ist mir schon ein paar Mal so vorgekommen, als ob Dir seine Gegenwart nicht besonders angenehm wäre. Ich kann mich irren, aber den Eindruck hat es wenigstens auf mich gemacht.«

»Mein bester Hans,« sagte Graf Rauten, »es giebt im Leben Sympathien und Antipathien; ich brauche Dir das gewiß nicht zu sagen. Wir fühlen uns manchmal zu Jemand, ohne daß wir einen Grund anzugeben wissen, hingezogen, ebenso wieder, unter den nämlichen Verhältnissen, von ihm abgestoßen. Ich muß Dir allerdings gestehen, daß etwas Aehnliches bei mir mit Hauptmann von Dürrbeck der Fall ist, und ich wäre trotzdem nicht im Stande, Dir dafür die geringste Ursache zu nennen. Wir haben noch nie ein unfreundliches oder nur unhöfliches Wort zusammen gewechselt; unsere Bahnen laufen außerdem so parallel neben einander hin, daß sie sich, allen menschlichen Berechnungen nach, nie kreuzen, also auf einander stoßen können, und wenn sie sich rings um den Erdball zögen.«

»Du thust ihm gewiß, wenn auch unbewußt, Unrecht.«

»Ich habe dann den Trost,« sagte Graf Rauten, »daß ich von ihm genau das Nämliche dulde, denn solche Gefühle sind fast stets – ja, ich brauche nicht einmal zu sagen: »fast« – gegenseitig. Ich bin fest überzeugt, daß er für mich eben so wenig Sympathie hat, wie ich für ihn.«

»Er hat noch nie ein unfreundliches Wort über Dich gesprochen.«

»Ich auch noch nie über ihn, wie ich auch wirklich keine Veranlassung dazu hätte. Er beträgt sich stets höchst anständig und gentlemanlike.«

»Dann ist aber doch auch ein solches Vorurtheil merkwürdig und kaum gerechtfertigt.«

»Mein lieber Hans,« sagte Rauten, »wer kann für seine Gefühle? Nehmen wir zum Beispiel die Liebe – das gerade Gegentheil, den Contrast. Wie manche Liebe ist vollkommen ungerechtfertigt – es läßt sich wenigstens kein vernünftiger Grund dafür angeben, weshalb die Wahl eines Mannes oder eines jungen Mädchens gerade auf diese eine Person und nicht schon vorher auf hundert Andere fiel. Es kommt eben über uns, ohne daß wir es wissen und oft selbst wollen, und wenn es unser Herz erfüllt hat, ist es nicht wieder auszurotten.«

»Darin magst Du Recht haben,« nickte Hans, »und ich begreife eigentlich gar nicht, weshalb ich selber mich zum Beispiel noch gar nicht verliebt habe. Gelegenheit dazu hatte ich genug.«

»Was ich sage,« lächelte Rauten, »Du hast das Wesen noch nicht gefunden, das Deiner Seele sympathisch ist. Triffst Du das einmal, oder wirst Du Dir erst selber des Gefühls klar, dann bricht auch die Flamme lichterloh heraus.«

»Möglich,« lachte Hans, »ich werde es also indessen ruhig abwarten; aber wovon sprachen wir doch? Wir sind auf ein ganz anderes Capitel gekommen.«

»Von Kathinka.«

»Ah, ganz recht, von Fräulein von Schaller! Sie ist wirklich ein liebenswürdiges Wesen. Hast Du sie vorhin singen hören?«

»Ja; sie hat eine prachtvolle Stimme.«

»Ach, das ist es nicht allein – dieser seelenvolle Ausdruck, das Weiche, Herzfassende im Ton – ich muß Dir gestehen, daß ich förmlich davon ergriffen war, und das will bei mir etwas sagen!«

»Es ist ein talentvolles Mädchen; Du solltest ihre Studienmappe sehen – sie zeichnet und malt noch besser als sie singt.«

»In der That? Da wundert es mich aber wirklich, daß sich noch keine Bewerber um sie gefunden haben, oder ist das schon geschehen? Vielleicht ist sie sogar verlobt?«

»Nein; sie wohnen allerdings erst etwa ein Jahr in Rhodenburg, und sie hätte ihre Hand schon mehrere Male vergeben können, und noch dazu sehr vortheilhaft. Die Eltern sollen auch außer sich gewesen sein; aber sie hat bis jetzt Jeden, der nur die geringste stärkere Neigung für sie zeigte, augenblicklich so kalt und abweisend behandelt haben, daß wohl noch Niemand recht gewagt hat, ihr zu nahen.«

»Merkwürdig – doch treten wir nicht näher?«

»Wir können einmal durchgehen,« sagte Rauten, »aber lange möchte ich mich in dem Tabaksqualm nicht aushalten.«

Im Rauchcoupé wurde gespielt, und zwar nicht allein Whist, sondern einige der Herren hatten auch eine kleine Bank gelegt, an der man aber noch nicht so hoch pointirte. Rauten trat dort hin und setzte ein paar Mal; er gewann und verlor wieder und ging dann zurück in den Saal. Er durfte seine Braut nicht zu lange allein lassen und schien sich auch nicht in dieser Atmosphäre wohl zu fühlen.

»Dem Rauten stecken heute die Damen im Kopfe,« lachte ein alter Oberst, der seine Familie ebenfalls im Saale hatte; »sonst läßt er sich doch wahrhaftig nicht zum Spiel nöthigen und hat ein Heidenglück …«

Aber das Spiel selber nahm die Herren zu sehr in Anspruch und fesselte bald wieder ihre ganze Aufmerksamkeit.

Hans hielt sich auch nicht lange dort auf. Er spielte nie Hazard, nur manchmal einen Robber Whist, und dazu fehlte ihm heute die Ruhe; er wollte noch ein paar Mal tanzen, und ehe er es fast selber wußte, war er wieder mit Kathinka angetreten und wurde nachher im Cotillon so von den jungen Damen, besonders von Flora und Bertha von Noltje, in Anspruch genommen – Kathinka forderte ihn nicht ein einziges Mal auf, – daß er gar nicht mehr zu Athem kam.

Den letzten Tanz tanzte Kathinka mit Doctor Potter, und es konnte Hans nicht entgehen, daß das Gesicht des jungen Mannes vor Wonne strahlte. Sie selber aber, obgleich er sie scharf im Auge behielt, blieb dabei so ruhig, wie sie es den ganzen Abend gewesen. Als sich Hans bei ihr endlich verabschiedete, reichte sie ihm die Hand und sagte mit ihrer klangvollen und doch so weichen Stimme: »Leben Sie wohl, Herr von Solberg, und möge Ihnen dieser Abend eine freundliche Erinnerung bleiben.«

Er hätte ihr gern darauf erwidert und war sonst wahrlich nicht um eine Antwort verlegen, aber – es ging nicht; eine gewöhnliche Schmeichelei brachte er nicht über die Lippen, und er fühlte auch, daß sie hier übel angebracht gewesen wäre, und was konnte er sonst sagen? Kathinka wurde auch schon wieder von Anderen in Anspruch genommen. Er drückte leise die ihm dargebotene Hand zum Abschied und verließ dann mit seinen Eltern und dem Brautpaare, eine Masse der wirrsten Gedanken im Kopfe, das Haus.



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