Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

28.
Der Passagier


Bei Franziska von Solberg hatten sich heute Nachmittag noch einige Freundinnen eingefunden, um theils den morgenden Tag mit ihr zu besprechen, theils ihr noch ein wenig zu helfen, denn das arme junge Mädchen wußte mit Packen, Toiletteherrichten und Abschiedsbesuchen, die sie aber jetzt fast sämmtlich erledigt hatte, kaum noch wo aus und ein. Graf Rauten zeigte sich aber darin wirklich liebenswürdig gegen seine Braut sowohl, wie gegen die Mutter. Er begleitete sie bei den langweiligsten und ermüdendsten Besuchen, half ihr einkaufen, besorgte ihr einen Theil wenigstens der tausend Kleinigkeiten, die allerdings fast sämmtlich unnütz waren, die sie aber trotzdem nothwendig haben mußte, und schien dabei wirklich nicht zu ermüden.

Aber wo nur Hans eigentlich steckte? Er ließ sich seit einigen Tagen fast gar nicht mehr blicken, und Rauten versicherte, er erinnere sich kaum der Zeit mehr, in der er ihn zuletzt gesehen habe, so lang komme sie ihm vor.

»Ach,« sagte Franziska, es ist wirklich kaum noch mit ihm zum Aushalten, so voll von Geschäften steckt er, und schreibt und rennt – das ist ein richtiger Kaufmann geworden und zu allem Höhern rein verdorben!«

»Bei uns war er nur erst ein einziges Mal, seit er hier ist,« sagte Bertha von Noltje, die eben emsig beschäftigt war, eine sorgsam gepackte Hutschachtel wieder auszukramen, weil unten hinein noch ein paar Halskrausen sollten, die unter keiner Bedingung gedrückt werden durften. »Wenn man ihn wirklich einmal haben will, muß man ihn besonders einladen, und selbst dann ist er Einem noch nicht sicher.«

»Ach, was ich Dich noch fragen wollte, Bertha,« sagte Franziska, nahm die Freundin am Arm und führte sie an eins der entferntesten Fenster – »sieh, mir kannst Du es sagen, denn ich gehe ja doch jetzt fort von hier und es interessirt mich, zu wissen: ist es wahr, daß Lieutenant von Wöhfen um Deine Hand angehalten hat?«

»Ja, allerdings,« sagte Bertha, während ihre Augen blitzten, »ich brauche auch gar kein Geheimniß daraus zu machen, aber ich hielt mich doch für zu gut, um als Lückenbüßer für den Herrn Lieutenant zu dienen.«

»Als Lückenbüßer?«

»Nun, hast Du etwa nicht bemerkt, wie er sonst nur Augen und Ohr für Klingenbruchs hatte und Jettchen ununterbrochen anschmachtete? Er meinte aber damit nur die alte Tante Mäusebrod, und wie die ihm mit ihrem Testament einen Strich durch die Rechnung machte, zog er sich in so auffälliger und häßlicher Weise zurück, daß es mir eine ordentliche Genugthuung war, ihn abfahren zu lassen – und das nicht etwa Klingenbruchs wegen. Apropos, kommen die auch morgen?«

»Ja, gewiß! Wir konnten doch nicht umhin, sie ebenfalls einzuladen.«

»Daran liegt mir nun nicht so besonders viel,« sagte Bertha, »es sind ein paar unangenehme Mädchen.«

»Ich weiß es nicht, Flora ist immer so munter …«

»Dann hast Du sie nicht in der letzten Zeit gesehen,« sagte Bertha, »ich kann Dir versichern, sie weiß gar nicht mehr, wie hoch sie die Nase tragen soll, und sie kommt mir schon jetzt vor wie eine alte Jungfer, was sie auch hoffentlich einmal werden wird.«

»Aber Bertha!«

»Ich kann mir nun einmal nicht helfen,« sagte das junge Mädchen, »ich kann sie nicht leiden.«

»Waren sie nicht neulich auch bei Euch?«

»Ja, das ließ sich nicht gut ändern, und Papa mag den Oberstlieutenant so gern leiden.«

»Nun, was habt Ihr da für Heimlichkeiten,« sagte eine der anderen jungen Damen, die indeß mit Graf Rauten's Hülfe versucht hatte, einen zu voll gepackten Koffer zu schließen, »wir müssen hier arbeiten, daß wir unsere Arme nicht mehr fühlen, und Ihr steht da und plaudert!«

»Da kommt Hans,« rief Franziska, die einen Blick durch das Fenster geworfen hatte, »das wird aber auch Zeit^ sonst wäre ich wirklich ernstlich böse auf ihn geworden.«

Hans hatte allerdings das Haus betreten, aber er kam nicht herauf, sondern war auf sein eigenes Zimmer gegangen, wo er eine Cigarre anzündete und sich dann in seine Hängematte warf, aus der er den Rauch kräuselnd in die Luft blies.

»Das ist wirklich ein unausstehlicher Mensch geworden,« sagte Franziska nach einer Weile, in der sie ihn ungeduldig erwartet hatte –, »wo er nur wieder bleibt! Aus mir scheint er sich nicht mehr so viel zu machen. – Wo ist mein Bruder?« fragte sie jetzt das Mädchen, das gerade wieder mit einem Arm voll Wäschestücken in's Zimmer trat.

»Der gnädige Herr sind gleich auf seine Stube gegangen.«

»Er ist zu abscheulich, rief die Braut, »ich glaube wahrhaftig, er raucht; aber dann kann er sich vor mir in Acht nehmen,« und ohne Weiteres eilte sie nach Hans' Zimmer hinüber.

»Aber, Hans, schämst Du Dich nicht! Gestern den ganzen Tag habe ich Dich beinahe nicht gesehen, heute bist Du schon früh mit Tagesanbruch fast fortgegangen, und wie Du zurückkommst, bietest Du mir nicht einmal einen Gruß – und übermorgen verlasse ich Euch auf immer!«

»Sei mir nicht böse, Fränzchen,« sagte der junge Mann, indem er in die Höhe sprang, auf die Schwester zuging und sie an sich zog und auf die Stirn küßte, »ich habe mich doch nur den ganzen Tag heute und auch gestern mit Dir allein beschäftigt.«

»Mit mir, Hans?«

»Ja, mein Herz, nur mit Dir, und will Dir auch morgen Abend sagen, inwiefern.«

»Aber das begreife ich nicht.«

»Würde Dir auch schwer werden,« lächelte der Bruder: »morgen aber wirst Du es begreifen und mir dann glauben, daß ich heute vom vielen Herumlaufen ein bischen müde war.«

»Und willst Du nicht jetzt mit zu mir herüber kommen? Sieh, es fällt so auf und die Leute reden darüber.«

»Wer ist drüben, Schatz?«

»Niemand als Bertha von Noltje, Marie von Hasting mit ihrer Schwester Clara, Gretchen von Boßwitz und Leopold.«

»Rauten?«

»Er versichert, er hätte Dich seit einer Ewigkeit nicht gesehen.«

»Seit einer Ewigkeit? Ja, ganz recht, seit gestern Morgen, und mir kommt es fast so vor, als ob eine Ewigkeit zwischen gestern und heute läge.«

»Was hast Du nur, Hans?« sagte die Schwester, ihn ängstlich anschauend. »Ich weiß gar nicht, Du bist seit kurzer Zeit so merkwürdig ernst – als Du von Deiner Reise zurückkamst, warst Du Lust und Leben selber.«

»Ja; aber, mein liebes Kind, wir werden mit jedem Tage älter und vernünftiger.«

»Aber doch nicht so rasch, Hans, denn da liegen ja kaum Wochen dazwischen! Hast Du etwas auf dem Herzen, Hans? Vielleicht irgend eine Sorge? Laß sie mich wissen, und wenn ich oder Leopold sie von Dir nehmen könnten, so sollte es ja mit Freuden geschehen.«

»Ich glaube es Dir von ganzem Herzen,« sagte der Bruder gerührt, indem er sie wieder an sich zog, »und ich verspreche Dir auch, daß das, was mich gegenwärtig wirklich beschäftigt und zerstreut macht oder trübe stimmt, morgen Mittag Dir kein Geheimniß bleiben soll, wenn es bis dahin nicht vollständig gehoben ist. Bist Du damit zufrieden?«

»Ja, Hans, vollkommen,« lächelte Franziska; »dann mußt Du mich aber auch jetzt begleiten und ein freundliches Gesicht machen, nicht wahr? Sieh, es sind so viele hübsche Mädchen drüben bei mir, und ein alter Junggeselle, wie Du denn doch nun einer bist, darf sich nicht zu grämlich zeigen, oder er macht sich ganz verabscheuungswerth.«

»Also werde ich liebenswürdig sein müssen,« sagte Hans mit einem doch etwas erzwungenen Lächeln, indem er seiner Schwester den Arm reichte – »so komm, Fränzchen.«

»Und mit der Cigarre im Munde willst Du mich hinüberführen?«

»Ja so,« seufzte Hans, »daran hätt' ich beinah' nicht gedacht – und ich habe sie eben erst angezündet!« – Er legte sie auf seinen Schreibtisch.

»Es ist nur ein einziges Glück, daß Leopold nicht raucht!« sagte das junge, fröhliche Mädchen.

Hans nickte, erwiderte aber nichts darauf und schritt mit seiner Schwester hinüber, wo ihn die kleine Gesellschaft schon erwartete und freundlich begrüßte.

»Aber, Hans,« sagte Rauten, indem er ihm die Hand reichte, »wo hast Du eigentlich die letzte Zeit gesteckt? Man bekommt Dich ja gar nicht mehr zu sehen!«

»Du weißt, was vorgefallen ist …«

»Ja, mit Dürrbeck – Du lieber Gott, des Menschen Wille ist sein Himmelreich! Er hätte es besser haben können, aber er hat eben nicht gewollt.«

»Was ich Dich fragen wollte: Du sollst an mich einen letzten Brief von ihm übernommen haben?«

»Ich erzähle eben den jungen Damen die Geschichte; ich hatte ihn natürlich in meine Brieftasche gelegt, und mit einer Frechheit, die mir wahrhaft unbegreiflich ist, wurde mir dieselbe kaum eine Viertelstunde später aus der Brusttasche gestohlen.«

»Das wäre ein ganz neuer Industriezweig für Rhodenburg, denn früher wußte man hier von nichts dergleichen.«

»Ach doch, Herr von Solberg,« fiel Bertha ein, »es ist in neuerer Zeit schon mehrfach vorgekommen! Denken Sie nur, meiner Mama haben sie das Portemonaie in der Kirche aus der Seitentasche ihres Kleides gestohlen!«

»In der That?«

»Ja,« rief Marie Hasting, »und dem Herrn Obergerichtsrath Schultes haben sie neulich die Uhr mit der Kette im Theater abgezwickt – sie wissen es so schlau anzufangen …«

»Cultur und Christenthum breiten sich immer weiter aus,« lächelte Hans – »so wenigstens wird uns erzählt –, und Rhodenburg scheint nicht außerhalb der Welt zu liegen. Was hast Du heut Abend vor, Rauten?«

»Ich? Nichts; ich werde bei den Eltern bleiben,« sagte der Graf. »Sie sind eben ausgefahren, müssen aber bald zurückkehren, und die Zeit, die wir noch zusammen verleben können, ist ja außerdem so kurz gemessen – was meintest Du?«

»Du bist ein sehr guter Sohn,« sagte Hans, langsam mit dem Kopf nickend; aber die Worte hatten eine so eigenthümliche Betonung, daß Rauten selber rasch zu ihm aufsah. Hans aber hatte sich schon zu Fräulein von Noltje gewandt, die ihn auf einen kostbaren Schmuck aufmerksam machte, den Rauten heute Morgen seiner Braut geschenkt, und Hans blieb wirklich staunend vor den kostbaren Steinen stehen.

Es war ein Schmuck, wie ihn eine Königin hätte tragen können, von prachtvollen Brillanten und einem einzigen außergewöhnlich großen Smaragd in der Mitte, und das Ganze so geschmackvoll gefaßt und überreich mit Gold durchwebt, daß man sich kaum etwas Schöneres und Kostbareres auf der Welt denken konnte. Wie nur das Kästchen wieder geöffnet wurde, drängten auch die jungen Damen von allen Seiten nochmals herbei und füllten auf's Neue das Gemach mit Ausrufen des Staunens und der Bewunderung.

»Ist das nicht schön, Hans?« sagte Franziska, indem sie beide gefalteten Hände auf die Schulter des Bruders legte, ihre Wange darauf lehnte und mit glücklicher Bewunderung den Schatz betrachtete – »ist das nicht himmlisch?«

»Das ist in der That das Schönste,« sagte Hans staunend, »was ich in derartiger Arbeit je gesehen, und gerade in Peru tragen die Damen sehr kostbare Steine und setzen einen Stolz darein. Fränzchen, das ist ein Geschenk, dessen sich eine Kaiserin nicht an ihrem Ehrentage zu schämen hätte.«

Die Blicke aller waren auf die blitzenden Steine geheftet, und Niemand achtete auf den Schmerz, der für einen Moment durch des jungen Solberg Züge zuckte – von Rauten selber stand er abgewandt. Aber Hans hatte auch rasch seine Fassung wiedergewonnen, denn nicht einmal Mißtrauen durfte er erwecken, ehe die richtige Zeit gekommen war.

»Wo ist der Schmuck gearbeitet, Rauten?« sagte er, den Kopf dem Grafen zudrehend. »Das sieht gar nicht so aus, als ob deutsche Hände da thätig gewesen, denn besonders die Goldverzierungen sind so eigenthümlicher, phantastischer Art.«

»Ich habe ihn aus Indien mitgebracht,« erwiderte Rauten. »Damals, als wir die Hauptstadt der Rebellen nahmen, schleppten die Soldaten das Unglaubliche an Beute aus den Trümmern, und wir Officiere erhandelten nachher die kostbarsten Gegenstände leicht um einen Spottpreis. Ich darf gar nicht sagen, was ich für den Schmuck bezahlte.«

»In der That? Du hast damit jedenfalls ein gutes Geschäft gemacht. Aber er ist fast zu schön und prachtvoll – wie selten wird ihn Fränzchen tragen können!«

»Und was schadet das,« sagte Rauten – »kann sie sich doch auch außerdem daran erfreuen, denn Schmuck haben alle jungen Frauen gern, nicht wahr, Fränzchen?«

»Ach, Leopold,« sagte das junge Mädchen schüchtern, »ich weiß gar nicht, wie ich Dir für das kostbare Geschenk danken soll! Es ist zu schön, viel, viel zu schön für mich!«

»Und kann etwas für Dich zu schön sein, Fränzchen? Eine indische Fürstin hat es jedenfalls früher getragen – jetzt trägst Du es, und es wird mehr Glanz von Dir empfangen, als Du ihm entleihst.«

»Ach, Fränzchen,« sagte Bertha von Noltje, »ich möchte mit Dir reisen – wie oft habe ich mir schon gewünscht, den Osten Europas kennen zu lernen! Merkwürdiger Weise zieht es mich gar nicht nach Westen, und wenn ich die Wahl hätte, Paris oder Ungarn und Galizien zu sehen, ich glaube bestimmt, ich entschiede mich für die letzteren beiden Länder.«

»Wenn Sie das nur nicht bereuen würden,« lächelte Rauten, »denn nur die Natur könnte Sie für das prachtvolle Paris entschädigen, und gerade die Natur würde Ihnen da viel weniger bieten, als der Süden des Reiches.«

»Das schadet nichts – aber es muß so interessant sein …«

Hans war an's Fenster getreten und sah hinaus; er war vollkommen mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und wurde nur erst wieder zur Gegenwart zurückgerufen, als sich die jungen Damen zum Aufbruch rüsteten. Sie mußten alle nach Hause zum Diner, und des zärtlichen Abschiednehmens zwischen ihnen und Fränzchen war kein Ende.

Junge Damen haben überhaupt – besonders in Gegenwart von jungen Herren – die etwas fatale Angewohnheit, sich einander abzuküssen, als ob sie Abschied für ein ganzes Leben nähmen, während sie sich doch aller Wahrscheinlichkeit nach schon am nächsten Morgen, vielleicht noch an demselben Abend wiedersehen. Es ist auch wohl Niemand im Stande, einen Grund dafür anzugeben, denn übergroße Zärtlichkeit trägt erwiesenermaßen nicht immer die alleinige Schuld. Wie dem aber auch sei, es geschieht eben, und die jungen Damen hier thaten sich eine ganz besondere Güte.

Der Wagen der Eltern fuhr ebenfalls in diesem Augenblick vor, und bald darauf wurde zum Diner geläutet. Der alte Baron war heute außerordentlich heiter, und da Rauten, mit der nahen Erfüllung seines Glückes, ebenfalls jeden trüben Gedanken verscheucht hatte, so wurde das Gespräch bald belebt, und selbst die sonst etwas steife Frau Baronin gab sich der Unterhaltung mit vollem Eifer hin.

Nur Hans blieb einsilbig; er mischte sich wohl manchmal hinein, aber es geschah nicht mit fröhlichem, leichtem Herzen, und da er das selber fühlte, ließ er auch die Anderen kalt. Selbst sein Vater empfand das und bemerkte endlich:

»Höre, Hans, ich will Dir etwas sagen: heute sollst Du noch vollkommen freie Bahn haben und Deinen langweiligen Geschäften obliegen, so viel Du willst, ich werde Dich ruhig Deinen Weg darin gehen lassen, aber morgen bitte ich mir aus, daß Du einen andern Menschen anziehst, denn den morgenden Tag soll uns kein Misanthrop verderben. Was in aller Welt hast Du nur?«

»Mein lieber Papa,« sagte Hans, »sei mir nicht böse, ich gestehe ein, daß ich heute den Kopf voll von einer Masse trockener Geschichten hatte, die hier in dieses Haus der Freude und des Glückes nicht paßten; aber ich verspreche Dir auch, daß ich mich morgen ändern will. – Morgen früh freilich,« setzte er düster hinzu, »habe ich noch eine traurige Pflicht zu erfüllen. Wir geleiten schon um sieben Uhr morgens – denn er hat es so in seinem Testament verordnet – den armen Dürrbeck zu Grabe. Ist das aber vorbei, dann verlaß Dich fest darauf, daß ich mich keinem nutzlosen Grübeln und Träumen mehr hingeben will. Du sollst dann Deine Freude an mir erleben.«

»Topp!« rief der alte Herr und hob sein Glas gegen ihn. »Das soll ein Wort sein, und dann vergebe ich Dir auch von Herzen gern all' die finsteren Gesichter, die Du uns die letzten Tage geschnitten.«

» Hab' ich gar so finster ausgesehen?«

»Ja, das hast Du, Hans,« bestätigte auch die Mutter, »und das arme Fränzchen hat mir schon deshalb ein paar Mal ihr Leid geklagt.«

»Gut also, das ist abgemacht!« rief Hans. – »Aber wie ist es, Rauten, gehst Du morgen früh mit zur Leiche? Ich werde selber ein paar Worte am Grabe Dürrbeck's sprechen.«

»Du, Hans?« rief die Mutter erschreckt; »aber mit solchen Dingen solltest Du Dich nicht befassen. Er ist ja doch nun einmal keinen ehrlichen Tod gestorben.«

»Nein, Mama, da hast Du Recht,« sagte Hans bitter, und er wagte in diesem Augenblick nicht, Rauten anzusehen, denn er würde sich im Nu verrathen haben; »aber er war trotzdem ein braver, ehrlicher Mann, und gebe Gott, daß wir alle einst mit einem so reinen Gewissen vor Gottes Richterstuhl treten können, wie mein armer Bernhard.«

»Hans, schäme Dich, so etwas zu sagen,« tadelte die Mutter, »es war ein Selbstmörder.«

»Ja,« nickte Hans, »aber wir wissen nicht, was ihn dazu getrieben, und ob wir nicht in ähnlichen Verhältnissen auch so gehandelt haben würden.«

»Ein wahrer Christ wird nie Hand an sich selber legen,« sagte die Mutter, »denn sein Glaube und die heilige Schrift hindern ihn daran.«

»Reden wir nicht weiter davon, Mutter,« wehrte Hans ab, »unsere Meinungen weichen da zu weit auseinander, und ich möchte Dir nicht wehe thun oder Deine Gefühle verletzen. Also gehst Du mit, Rauten? Um sieben Uhr sollen wir uns vor Dürrbeck's Wohnung sammeln.«

»Ich weiß nicht, Hans,« sagte der junge Graf; »einmal war ich mit Hauptmann Dürrbeck kaum oberflächlich bekannt, und dann muß ich Dir auch aufrichtig gestehen, bin ich kein besonderer Freund von solchen Demonstrationen. Ich will den Geschiedenen nicht verdammen, aber ich möchte auch nicht dazu beitragen, ihm eine Ovation zu bringen. Bitte, entschuldige mich; ich ziehe vor, während der Zeit des Begräbnisses noch im Bett zu bleiben, denn morgen bekommen wir einen lebendigen Tag, und ich möchte meine Kräfte da ein wenig schonen.«

»Gut. Wie Du willst!« sagte Hans ruhig; »es ist ja auch nur ein vollkommen freiwilliger Zug, der sich anschließt, und Jemand, der nicht mit Herz und Seele dabei wäre, könnten wir deshalb nicht gebrauchen. Aber jetzt, Mama,« setzte er, vom Tisch aufstehend, hinzu, »will ich draußen im Garten meinen Kaffee trinken und meine Cigarre rauchen. Nachher gehe ich noch meinen Beschäftigungen nach, damit ich heute alles erledigen kann, und morgen, Papa, gehöre ich nur Euch und der Familie.« –

Die Nacht war eingebrochen; ein feiner, unangenehmer Regen sprühte auf die Erde nieder, und die Straßen von Rhodenburg hatten sich ziemlich geleert; man konnte wenigstens lange Strecken gehen, ehe man einem rasch vorübereilenden Wanderer begegnete. Nur ein Omnibus und ein paar einzelne Droschken rollten langsam durch die Straßen dem Bahnhof zu, denn die Zeit rückte heran, wo der letzte Personenzug heut Abend erwartet wurde, und ein paar Menschen mit Regenschirmen suchten sich unverdrossen ihren Weg. – Und wie kalt der Regen niederkam; der Wind mußte sich gedreht haben, und der Mai suchte noch einmal die schon fast vergessenen Aprilstürme zu wiederholen.

Der Bahnhof selber, ein ziemlich großes, nicht unschönes Gewölbe von Eisen und Glas, lag in einem Halbdunkel; nur die Seite, an welcher der Zug eintraf, war erleuchtet, und einige Hausknechte und Eisenbahnbeamte trieben sich darauf herum. Auch einzelne Bewohner aus Rhodenburg trafen ein, und in den Wartesälen befanden sich schon die Passagiere, die den Nachtzug zum Weiterfahren benutzen wollten; aber wie lange blieb der heute wieder einmal aus! Es schlug schon ein Viertel nach neun Uhr in der Stadt, wo er dem Plan nach eintreffen sollte, und das Zeichen war noch nicht einmal herein, daß er von der letzten Station abgegangen, und von da brauchte er dann noch immer zehn bis elf Minuten.

Endlich kam für Rhodenburg das Nachtsignal, daß der erwartete Zug die letzte Station verlassen habe und also in etwa zehn Minuten dort eintreffen würde. Die Gepäckträger rollten auf ihren kleinen Karren die hier aufgegebenen Gepäckstücke heraus. Vornehm zwischen ihnen her bewegten sich die Postbediensteten mit ihrem unter Verschluß gelegten Karren und hielten an der ungefähren Stelle, wo sie gewöhnlich das Postcoupé erwarteten. Aber noch wurde kein Zeichen mit der Glocke für die Passagiere gegeben; nicht eher, als bis der Zug in Sicht kam, dann war es noch Zeit genug, denn die Ankommenden mußten erst aussteigen, ehe man neue Passagiere einnehmen konnte.

Auf dem Perron hin schritt ein junger Mann in einem dunkeln Paletot, seinen Regenschirm in der Hand; er warf den Blick umher und fand bald, geduldig an einen der eisernen Pfeiler gelehnt, eine kleine, verwachsene Gestalt, die in ihrem dünnen Röckchen auch die Unannehmlichkeit des Wetters zu empfinden schien.

»Herr Mux?«

Der Kleine, der wohl die nahenden Schritte gehört, aber nicht darauf geachtet hatte, schrak schon bei der Stimme, die seinen Namen nannte, empor und schaute bestürzt zu dem Herrn auf.

»Sind Sie schon auf Ihrem Posten?« sagte dieser freundlich. »Ich habe mir aber überlegt, daß ich Ihnen lieber Gesellschaft leisten will, denn es kann Manches vorfallen, worin Sie sich nicht zu helfen wissen. Ich glaube überhaupt kaum, daß die Dame Deutsch versteht.«

»Ich verstehe Englisch, Herr von Solberg,« sagte Mux leise.

»In der That, das habe ich nicht gewußt, dann wäre meine Gegenwart vielleicht nicht nöthig gewesen; aber da ich gerade hier bin, kann ich die Dame auch eben so gut mit erwarten. Fühlt sie sich nicht zu angegriffen von der Reise, so ist es vielleicht noch möglich, Einiges mit ihr auf morgen zu besprechen. – Aber da kommt der Zug! Da geht auch schon die Glocke – und nun, Herr Mux, seien Sie so gut und passen Sie dort auf die Coupés zweiter und erster Klasse auf, ich werde mich hierher stationiren und sehen, ob ich die Dame treffe. Wer ihr aber von uns begegnet, wartet auf den Andern, nicht wahr?«

»Gewiß, Herr von Solberg.«

Rasches, heftiges Läuten auf dem Perron. Aus den Wartesälen zweiter Klasse drängen sich Herren mit Reisesäcken und Handkoffern, mit Schirmen und Stöcken, die quer vor die Thür kommen und den ganzen Gang blokiren, mit Fußsäcken und anderen Reise-Utensilien heraus; aus dem dritter Klasse kommen Leute mit Körben, Päcken und manchmal sogar mit Kisten, die sie, um ein paar Groschen Fracht zu ersparen, mit in's Coupé hineinzwängen wollen, von dem Schaffner aber regelmäßig zurückgewiesen werden und nun wieder in die Gepäckexpedition stürzen.

Passagiere, viele noch in Pelzen, ihr Gepäck hinten nachschleifend, suchen die Restauration oder rufen nach einer Droschke; Hausknechte drängen sich zwischen sie und bieten unbekannte Hotels an – zehn Minuten Aufenthalt – das drängt und wogt alles durcheinander und schreit und schiebt, und dazwischen werden Achsen geschmiert, Lichter nachgesehen, Gepäckkarren herüber und hinüber gerollt. Vorsehen! tönt der dumpfe, mürrische Ruf, denn die Passagiere sind ihnen, wie den Billardspielern beim Billard die Zuschauer, immer im Wege. Das schreit und lacht durcheinander – hier nimmt eine Mutter Abschied von ihrem Sohne, dort kommt der Vater von längerer Reise zurück, kurz, zahllose kleine Gruppen bilden sich, die aber mit dem Glockenzeichen auch im Nu wieder wie in Luft zerfließen.

Zwei Schläge – Einstigen! – Der Zug hat sich verspätet und kann nicht einmal seine eigentlich bestimmten zehn Minuten einhalten: ob die Passagiere Zeit bekommen, etwas zu verzehren, bleibt sich vollkommen gleich, denn Andere harren schon wieder in fernen Städten auf das eiserne Dampfroß, und es darf nicht länger säumen.

Hans sowohl wie Mux hatten sich indessen mitten in das dichteste Gewühl gestürzt, um die erwartete Dame zu finden – Hans besonders in Todesangst, daß sie am Ende noch einmal verhindert worden sein sollte, zu kommen, und der morgende Tag mußte ja in seiner Familie die Entscheidung bringen. Es ließ sich nirgends in einem der Coupés, die sie beaufsichtigten, eine Dame blicken, die allein war und dem Bilde entsprach, das sich Beide, wenn auch Jeder verschieden, von ihr gemacht. Ueberall, wenn sie auch schon glaubten, sie hätten die Betreffende gefunden, wurde sie schon von Verwandten oder Freunden begrüßt und zeigte dann, daß sie sich in Deutsch, als ihrer Muttersprache, unterhielt.

Eine Menge Leute verließen dabei den Bahnhof, die Mitpassagiere waren schon eingestiegen, die Pfeife des Oberschaffners schrillte ihren trillernden Laut – ein Herr in weiten Pelzstiefeln kam noch in Todesangst, seinen Pelz im linken Arm, ein belegtes Butterbrod in der rechten Hand, angestürzt. Einer der Schaffner öffnete ihm eine Thür.

»Das ist nicht mein Coupé …«

»Wollen Sie mit?«

Die Locomotive that einen grellen Pfiff und der Zug einen Ruck. Der Herr mit den Pelzstiefeln und dem Butterbrod warf sich kopfüber in den offenen Wagen – noch ein Ruck, und langsam erst, dann immer schneller setzte sich der Zug in Bewegung, bis er draußen vor dem Bahnhof erst in Schwung kam und nun mit keuchendem Athem und roth und unheimlich glühenden Augen hinausstürmte in die dunkle Nacht.

Hans stand in Verzweiflung, und als Mux jetzt zu ihm trat, sagte er, sich mit der Hand durch die Locken fahrend: »Und was nun? Sie ist richtig nicht gekommen. Was machen wir jetzt? Das Beste ist, wir telegraphiren gleich.«

»Was ist das für eine Frau, die da drüben steht?« sagte Mux, der den Blick über den Perron warf und eine dunkle Gestalt bemerkte, die, wie es schien, in sehr dürftiger Kleidung dort stehen geblieben war und augenscheinlich auf Jemand wartete.

Hans warf den Blick hinüber. »Das ist eine Frau, die aus der dritten Klasse ausgestiegen ist; sie sieht zerlumpt und elend aus. Es ist nicht die, welche wir erwarten. Nicht wahr, Ihr Notar weiß die Adresse in Hamburg – wenn wir nun gleich telegraphirten?«

»Ich werde mir doch die Frau dort einmal genauer ansehen,« sagte Mux, der sie indessen nicht aus den Augen gelassen hatte, ohne daß sie sich aber auch nur im Geringsten bewegte. Nicht einmal den Kopf wandte sie weder nach rechts noch links und schien in voller Geduld der Dinge zu harren, die da kommen sollten.

»Sie glauben doch nicht, daß das die Lady ist?«

»Nein; aber sie kann Jemand dort gelassen haben, um sie Suchenden Auskunft zu geben, während sie selber in die Restauration gegangen ist.«

»Das wäre möglich,« sagte Hans, und Mux war auch schon unterwegs und ging direct auf die dort noch immer allein stehende Frau zu, die nur, als er sich näherte, ihren Blick fest auf ihn richtete.

»Sagen Sie, liebe Frau,« redete er sie an, als er an sie herankam, »erwarten Sie hier Jemand?«

Es war eine schlanke, aber dürftige Gestalt, noch jung und, wie er jetzt zu seinem Erstaunen erkannte, bildhübsch; die Armuth aber, die aus ihr sprach, wurde um so ausfälliger durch frühere Spuren einer besseren Zeit. Ihr schon an den Seiten zerrissenes und geflicktes Kleid war von schwerem Seidenstoff; sie trug einen ächten, aber ebenfalls zerrissenen Spitzenkragen um den Hals, allerdings nicht die geringste Spur von irgend einem Schmuck, aber doch einen kleinen, noch modernen und nur vom Wetter mitgenommenen Hut, wie denn auch ihre Hände weiß und zart aussahen und ihr ganzes Aeußere den Eindruck machte, als ob sie einst bessere, vielleicht recht gute Zeiten gesehen haben müsse. ?

Die fremde Frau sah ihn starr an, erwiderte aber anfangs kein Wort, schüttelte nur mit dem Kopf und sagte dann in englischer Sprache: »Ich verstehe die deutsche Sprache nicht.«

»Sie sind doch nicht Mrs. Rehberg?« rief Mux wirklich erschreckt, aber jetzt ebenfalls in Englisch aus.

»Mein Name ist Ellen Riberk,« erwiderte die Frau. »Hat Sie der Advocat geschickt?«

Mux vergaß wirklich im ersten Augenblick zu antworten, so erschreckt war er über das trostlose Aussehen der Frau, die er in den besten Umständen zu finden erwartet hatte; aber da mußte Solberg helfen, und nur mit den Worten: »Bitte, Madame, verweilen Sie einen Augenblick« – eilte er zu der Stelle zurück, wo ihn Hans noch erwartete, und theilte diesem seine Entdeckung mit.

»Es ist nicht möglich!« rief Hans bewegt aus – »jenes unglückliche Weib – und warum nicht?« setzte er leise und düster hinzu. »Ist es nicht dasselbe, zu dem jener Bube auch meine Schwester bringen wollte? Aber Gott sei Dank, daß sie nun da ist, denn jetzt muß sich auch alles rasch entscheiden!« – und ohne einen Moment weiter zu versäumen, eilte er auf die bezeichnete Gestalt zu.

»Madame, habe ich das Vergnügen, Frau Rehberg vor mir zu sehen?« redete er sie in englischer Sprache an.

Als die hohe, schlanke Gestalt auf sie zukam, hatte das Auge der Frau rasch und fast erschrocken seine Züge gesucht, aber ein vollkommen fremdes Gesicht stand ihr gegenüber, und mit einer schmerzlichen Bitterkeit im Tone erwiderte sie nur: »Wenn Sie das ein Vergnügen nennen – ja, Sir, mein Name ist leider so.«

»Dürfte ich Sie dann bitten, mir zu folgen?« sagte Hans, der wohl sah, daß sie hier auf dem zugigen Perron keine weitere Unterhaltung führen konnten. »Es ist alles bereit, um Sie bequem unterzubringen, und Sie werden von der Reise ermüdet sein.«

»Und ist er hier?« rief die Frau und mußte sich Mühe geben, ihre Aufregung zu verbergen.

»Wir besprechen das alles unterwegs oder im Hotel,« sagte Hans, der rasch sah, daß er es hier mit einer wirklichen Dame zu thun hatte, wenn auch ihr Aeußeres wenig mehr davon verrieth. »Dürfte ich Sie bitten, mir Ihren Arm zu geben – mein kleiner Freund hier wird Ihr Gepäck besorgen, und draußen wartet eine Droschke auf uns. Haben Sie Ihren Gepäckschein bei der Hand?«

»Meinen Gepäckschein?« sagte die junge Frau, und wieder zuckte das bittere Lächeln um ihre Lippen. »Was ich auf der Welt noch mein nenne, birgt alles diese kleine Tasche – erst etwas Wäsche – ich habe kein Gepäck bei mir.«

»Dann können wir augenblicklich in das Hotel fahren,« sagte Hans, der rasch darüber hinging – »bitte, Madame, erlauben Sie mir die Tasche und nehmen Sie meinen Arm.«

Die Fremde überließ ihm ruhig die Tasche und nahm den Arm, und Mux, der unfern davon stand, wollte zurückbleiben. Hans aber rief ihn an und bat ihn, sie zu begleiten, und wenige Minuten später saßen die drei Personen in der schon vorher bestellten Droschke und rasselten dem »Römischen Hause« entgegen. Unterwegs wurde kein Wort gesprochen, denn das Rhodenburger Pflaster duldete keine Unterhaltung, bis der Wagen endlich vor dem bestimmten Hotel hielt und in demselben Moment auch schon ein paar Kellner, die Servietten unter dem Arm, in das Licht der hellen Gaslaternen sprangen, um die erwarteten Gäste in Empfang zu nehmen.

»Oh mein Gott,« sagte die Frau – es war das erste Wort, welches sie wieder gesprochen hatte – »das ist ein vornehmes Hotel, ich bin nicht im Stande, hier einzukehren!«

»Ueberlassen Sie das alles mir, Madame,« sagte Hans freundlich. »Mein Name ist von Solberg – Notar Püster, der an Sie geschrieben hat, kennt mich genau –, Sie sind mein Gast, so lange Sie sich hier befinden, und auch die Reise wie sonstige Auslagen werden Ihnen vollständig vergütet …«

»Sir …«

»Sie handeln vielleicht hier in Ihrem eigenen Interesse,« fuhr Hans fort, »aber Sie erweisen meiner Familie auch einen großen Dienst dadurch, worüber wir dann später sprechen.«

»Aber meine Kleidung ist nicht derart, ein solches Hotel zu betreten,« sagte die junge Frau, und hohe Röthe goß sich über ihr ganzes Antlitz.

»Auch das läßt sich vielleicht arrangiren,« beruhigte sie Hans. »Vor allen Dingen bedürfen Sie guter Pflege, und die soll Ihnen hier werden – also bitte, steigen Sie aus, wir sind am Ziel.«

Er sprang aus dem schon durch die Kellner geöffneten Wagen, half dann der Frau heraus, bot ihr seinen Arm und führte sie rasch in das Hotel. Die Kellner stießen sich allerdings untereinander an und lachten mitsammen heimlich; einer unter ihnen hatte aber den jungen von Solberg erkannt, und daß sie gegen das, was er that, keinen Einspruch erheben durften wußten sie gut genug.

»Wo ist das Zimmer der Dame?« fragte er, als sie die erste Etage erreichten.

»Noch höher – bitte,« sagte der Zimmerkellner.

»Im zweiten Stock?«

»Im dritten, wenn ich bitten darf – wir haben jetzt so wenig Platz …«

»Dann rufen Sie die Droschke zurück, denn ich werde ein anderes Hotel aufsuchen,« sagte Hans bestimmt: »ich verlange ein Zimmer im ersten Stock.«

»Wenn Sie nur einen Augenblick verziehen wollten,« sagte der Kellner artig – »ich werde den Herrn fragen – vielleicht können wir es noch möglich machen.«

»Was haben Sie?« fragte die junge Frau scheu, denn sie fühlte sich in der hellen Beleuchtung und zwischen den vielen fremden Menschen unbehaglich.

»Nichts, was Sie beunruhigen dürfte, Madame,« sagte Hans freundlich; »ich wollte nur dafür sorgen, daß Sie ein behagliches Quartier bekommen, und Mr. Mux und ich werden Sie dahin geleiten. Mr. Mux ist die rechte Hand des nämlichen Notars, der mit Ihnen in Verbindung getreten, und ich hoffe nur, daß Sie sich morgen früh kräftig genug fühlen, eine vielleicht schwere, aber trotzdem nothwendige Scene zu durchleben.«

»Ist er hier?« sagte die Frau leise und zusammenschaudernd.

»Ja,« antwortete Hans; »doch warten wir einen Augenblick, denn ich sehe den Kellner da mit anderen Schlüsseln – ich denke, Sie werden wohl gleich unter Dach und Fach kommen.«

Er hatte ganz recht vermuthet. Als der Wirth hörte, daß Herr von Solberg die Frau begleite, war auf einmal Platz geworden, und der junge Mann in einer sehr kurzen Jacke öffnete jetzt ein allerliebstes kleines Boudoir, das mit jedem Comfort ausgestattet war.

»Und da hinein soll ich mit dieser Kleidung?« sagte die junge Frau wehmüthig, indem sie einen scheuen Blick umherwarf. »Darf ich das annehmen?«

»Sie dürfen, Madame,« sagte Hans herzlich, und der Ton seiner Stimme war so gut, und er sah sie dabei so treuherzig mit den klaren Augen an, daß sie nur einen Blick auf ihn warf und dann ohne Zögern die Schwelle betrat.

»So,« sagte Hans, als er im Zimmer drin die kleine Tasche auf den nächsten Stuhl legte und Mux dabei winkte, mit herein zu kommen, »Wir werden Sie nun gleich sich selber überlassen, nur das Abendbrod, das Sie auf Ihrem Zimmer nehmen müssen, will ich noch unten beordern. Und jetzt, Madame, erlauben Sie mir nur eine Frage, damit wir morgen ganz sicher gehen. Ist die Photographie, die Sie an Herrn Notar Püster gesandt haben, wirklich und wahrhaftig das Bild des Mannes, der Sie auf so nichtswürdige Art verlassen hat?«

»Verlassen und beraubt – wirklich und wahrhaftig!«

»Sie erinnern sich einer kleinen Narbe an seinem Gesicht?«

»Gewiß, hier an der linken Backe. Er erzählte mir, daß er die Narbe im Kampf mit den Indianern bekommen habe.«

»In Amerika?«

»Ja; wir wohnten in Cincinnati.«

»Und beraubt hat er Sie ebenfalls?«

»Um alles, was ich hatte,« sagte das junge Weib düster, »um mein ganzes Vermögen: zwanzig Staaten-Bonds zu tausend Dollars – mein ganzes Silber und einen Diamantschmuck, der, wie mir mein Vater sagte, von sehr großem Werth sein soll.«

»Ein Diamantschmuck mit einem großen Smaragd in der Mitte?« rief Hans rasch.

»Kennen Sie ihn?«

»Großer Gott!« rief Hans, »ist es denn möglich und denkbar, daß es einen solchen Schuft auf der weiten Erde geben könnte! – Aber, Madame, der Schmuck wenigstens ist Ihnen sicher und in guten Händen.«

»Sie wollen mir den Schmuck wieder schaffen?« rief die Frau erregt.

»Den Schmuck gewiß, und vielleicht noch mehr,« sagte Hans; »aber glauben Sie, daß Sie sich schon morgen früh kräftig genug fühlen werden, jenem Manne gegenüber zu treten?«

»Heute, wenn es sein müßte!« rief das junge Weib, und ihr Auge blitzte. »Oh, Sie wissen nicht – Sie können nicht ahnen, wie teuflisch er an mir gehandelt, sich in das Vertrauen meines Vaters, in mein Herz gestohlen und mich dann wie ein feiger Dieb verlassen hat! Ich war jetzt dem Elend nahe, meine letzte Krankheit hat alles aufgezehrt, was ich noch mein eigen nannte, der Arzt, die Wärterin, die Apotheke, das Kosthaus. Was ich hier bei mir führe, ist der Rest meiner Habe, und nur jener Brief des deutschen Notars, der mir wenigstens, wenn auch ganz unbestimmte Hoffnung gab, hielt mich ab, meinem elenden Leben ein rasches Ende zu machen.«

»Arme Frau!« sagte Hans leise; »aber ich denke, Ihre schwerste Zeit ist jetzt vorüber, und wenn Sie auch den Buben nicht mehr als Gatten anerkennen können, denn hier erwartet ihn verschiedener Vergehen wegen sicher das Zuchthaus, so hoffe ich doch, daß Sie wenigstens einen Theil Ihres Eigenthums wieder zurück erhalten sollen. Aber nun,« unterbrach er sich selber, »dürfen wir Ihnen die nöthige Ruhe nicht länger vorenthalten. Nur noch eins: wenn Ihnen das Fremdenbuch vorgelegt werden sollte, um Ihren Namen einzuschreiben, so geben Sie nicht Ihren eigenen, sondern irgend welchen fremden. Morgen gegen Mittag wird Herr Mux Sie hier abholen und zu dem Notar führen.«

Die Frau warf einen schmerzlichen Blick auf ihren ärmlichen und selbst zerrissenen Anzug, aber sie erwiderte kein Wort, sondern verneigte sich nur leicht. Sie hatte ja jetzt keinen freien Willen mehr und mußte thun, was die fremden Männer von ihr verlangten.

Als die jungen Leute ihr Zimmer verlassen hatten, bestellte Hans noch unten bei dem Oberkellner ein gutes, nahrhaftes Souper für sie mit Thee und außerdem ein Glas heißen Glühweins, und band ihm dabei auf die Seele, zuvorkommend gegen die unglückliche Dame zu sein, während er selber für jede Auslage stand.

Mux hatte sich in der ganzen Zeit still und schweigend verhalten, und nur sein Auge blitzte manchmal, wenn er sah, wie Hans sich so gut und dabei so praktisch der armen, verlassenen Frau annahm. Aber auch Hans war vollkommen mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und schritt neben ihm hin, bis sie die Thür von Notar Püster's Haus erreichten.

»Gute Nacht, Herr von Solberg!« sagte hier Mux leise, indem er stehen blieb und seinen Hut ehrfurchtsvoll abnahm.

»Gute Nacht!« sagte Hans zerstreut. – »Ach, Herr Mux, Sie sind hier an Ihrem Hause,« setzte er aber rasch und freundlich hinzu und reichte ihm die Hand, die Mux schüchtern nahm – »und herzlichen Dank noch für Ihre Begleitung. Also morgen, nicht wahr, sind Sie so gut und holen die Dame zu der Zeit ab, die Ihnen Herr Notar Püster bestimmen wird?«

»Gewiß, Herr Baron!«

»Ich werde selber früh bei Ihnen sein. Also gute Nacht,« Mux glitt in das Haus hinein, und Hans sah in dem noch hell erleuchteten Café sich hin und her bewegende Gestalten. Aber er fühlte sich nicht in der Stimmung, dort hinein zu treten. Er trat ein paar Schritte die Straße entlang und blieb dann stehen. Sein Blick flog zu den nächsten Häusern empor, zu den Dachfenstern, wo er Käthchen wußte, zu der Etage, in der die unglückliche Constanze Blendheim wohnte, zu Schallers hinüber, wo er die Räume noch hell und fast glänzend erleuchtet fand.

Er kannte das Fenster nicht genau, das zu Käthchen's bescheidener Dachkammer gehörte; aber das eine war noch hell erleuchtet, und er zweifelte keinen Augenblick, daß sie dort oben fleißig bei ihrer Arbeit, vielleicht noch viele Stunden saß.

»Wie wunderbar das doch ist,« murmelte er dann leise vor sich hin, als er wieder den Blick über die verschiedenen Etagen hin schweifen ließ: »da oben ein armes, braves, fleißiges Kind – da drüben bei Schallers ein glänzendes Elend – Lumpen und Jammer mit Flittergold bedeckt; dort die bräutliche Witwe in Thränen, einer hoffnungslosen Zukunft entgegenschauend; da oben der verrückte Director, jetzt vielleicht als Sultan verkleidet und auf einer Ottomane schwelgend; Klingenbruchs selbst, der gute, kleine Oberstlieutenant mit seinen koketten, unangenehmen Töchtern und seiner noch unangenehmeren Gattin; hier im Eckfenster unten ein neutraler Punkt, in dem man sich zusammenfindet und wieder auseinander geht, und dicht darüber der kleine Advocat mit den grauen, klugen Augen und der hohen Stirn – alles nur durch eine dünne Wand vielleicht, oder eine enge Straße geschieden, und doch jedes einzelne Quartier seine eigene kleine Welt in sich selber bildend, mit seinen eigenen Freuden und Sorgen, seinen Thränen und seinem Glück, und wie oft deckt ein Dach beides! – Wer kennt den Nachbar, oder wenn er ihn kennt, wer kümmert sich um ihn? Aber bei Gott,« brach er rasch und plötzlich ab, »ich habe den Kopf voll genug von eigenen Sorgen und brauche mich nicht auch noch mit denen anderer Menschen zu befassen! Vorwärts, der Stein rollt, und der morgende Tag mag die Entscheidung bringen!«

Seinen Rock dann fester zuknöpfend – denn es wehte ein scharfer Wind, wenn auch der Regen nachgelassen hatte –, wandte er seine Schritte dem väterlichen Hause zu.



 << zurück weiter >>