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Die Nacht ging ruhig vorüber; die Leute in den Straßen hatten es satt bekommen, die Häuser anzustarren, in denen statt Glück und Freude der Tod und Jammer ihren Einzug gehalten; die Lichter waren verlöscht, und nur das in Constanzens Schlafzimmer, wo die Garderobiere mit Constanzens Magd bei der Unglücklichen wachte, brannte noch hell, als schon der Morgen dämmerte. Drüben in Dürrbeck's Hause aber, auf dem Vorplatze, hielten zwei Posten die Leichenwacht und wurden nur regelmäßig alle zwei Stunden abgelöst, bis dann etwa gegen neun Uhr die Beamten kamen, um den Thatbestand zu constatiren und die nöthigen Vorkehrungen zu treffen, daß sich keine unberufene Hand an dem jetzt herrenlosen Eigenthum des Geschiedenen vergriff.
Klingenbruch selber litt es nicht zu Hause; er mußte allerdings um zehn Uhr in das Ministerium, aber vorher wollte er doch jedenfalls noch einmal den Versuch machen, den todten Freund zu sehen und vielleicht Näheres über sein Schicksal zu erfahren.
Vor seinem Hause traf er Schaller.
»Haben Sie schon die Unglücksmähr gehört, Herr Oberstlieutenant?«
»Es ist furchtbar,« sagte der kleine Mann erschüttert, »ich bin eben im Begriff, meinen armen Hauptmann noch einmal zu besuchen.«
»Dann begleite ich Sie,« sagte Schaller rasch entschlossen. »Und haben Sie keine Ahnung, was ihn zu dem verzweifelten Schritt getrieben haben kann?«
»Ich muß Ihnen aufrichtig gestehen,« sagte Klingenbruch, »ich habe noch nicht einmal ordentlich darüber nachgedacht, denn das Ganze kam so schnell und unerwartet, daß es mich wenigstens wie vor den Kopf geschlagen hat.«
»Seine Vermögensverhältnisse waren doch in Ordnung?«
»Kein Zweifel; er muß sogar ein ziemlich bedeutendes Vermögen hinterlassen haben, und ich glaube nicht, daß er einen Pfennig Schulden in der Stadt hat.«
»Und gespielt hat er nicht?«
»Nie; höchstens eine Partie Whist, und auch die nicht hoch.«
»Da muß der Teufel drin stecken,« sagte Schaller, indem er den Dampf seiner Cigarre in starken Wolken ausblies – »und guter Laune war er auch stets, denn ich habe ihn nie mürrisch oder verdrießlich gesehen.«
»Es war ein liebenswürdiger Mensch und ein braver Kamerad,« sagte Klingenbruch leise vor sich hin, »und immer freundlich, immer gefällig – nie zänkisch oder streitsüchtig wie so viele Andere, und ich glaube fast, er hinterläßt keinen einzigen …«
Klingenbruch schwieg plötzlich und war, wie seinen eigenen Gedanken nachhangend, stehen geblieben.
»Was wollten Sie sagen, Herr Oberstlieutenant?« fragte Schaller.
»Ja – von was sprachen wir gleich?«
»Nun, von Dürrbeck.«
»Ach ja – ich wollte sagen: er hinterläßt gewiß keinen einzigen Feind, keinen wenigstens, dem er die Veranlassung dazu gegeben, daß er es geworden.«
Die beiden Herren hatten indessen ihren Weg verfolgt. Klingenbruch war aber jetzt zerstreut; er gab ein paar Mal verkehrte Antworten, und selbst Schaller gingen eine Menge der verschiedenartigsten Dinge im Kopf herum.
Der Posten stand noch unten am Hause und salutirte. Auf des Oberstlieutenants Frage, ob man jetzt hinauf dürfe, sagte der Mann: »Zu Befehl, Herr Oberstlieutenant – es sind schon mehrere Herren vom Militär und Gericht oben – habe keine Ordre mehr, die Herren Officiere zurück zu weisen.«
»Schön,« sagte Klingenbruch, »dann wollen wir hinaufgehen; aber ich versichere Ihnen, lieber Schaller, mir ist das Herz so schwer – ich fürchte mich ordentlich, den Raum zu betreten.«
Schweigend stiegen die beiden Herren die Treppe hinauf, und Klingenbruch traf an der Thür noch ein paar Kameraden, die eben wieder herauskamen und ihm nur lautlos und niedergeschlagen die Hand drückten.
Der kleine Oberstlieutenant zögerte auch selbst noch auf der Schwelle, aber es war nur ein Moment und im nächsten Augenblicke sah er sich der Leiche gegenüber.
Dort lag Dürrbeck, ruhig, als ob er schliefe, aber das Gesicht zeigte die Farbe des Todes und einen wehen, schmerzlichen Ausdruck in den sonst so heiteren und guten Zügen; die Augen, welche man ihm schon gestern Abend zugedrückt, geschlossen, die Lippen halb geöffnet.
Im Zimmer des sonst so ordentlichen Mannes sah es freilich wild genug aus: die vollkommen niedergebrannte Lampe stand noch auf dem Tische; auf der Erde vor dem Bett lag blutiges Leinenzeug, und auf dem Stuhle neben dem Bett der Revolver, mit dem er sich die tödtliche Wunde gegeben, und zwar fünf Läufe noch geladen.
Die Beamten im Zimmer waren erst vor kurzer Zeit gekommen und schienen überhaupt nicht recht zu wissen, was sie hier eigentlich sollten. Klingenbruch freilich sah von dem allen nichts; sein Auge, aus dem sich jetzt ein paar einzelne Thränen stahlen, hing an dem bleichen Antlitz des Freundes, und zu ihm tretend und seine Hand auf die kalte Stirn des Todten legend, sagte er mit leiser, schmerzgedrückter Stimme: »Armer, armer Freund, so muß ich Dich wiedersehen! Oh mein Gott, mußte denn das sein, und hattest Du Niemand, dem Du Dich vertrauen konntest?«
»Es ist ein recht trauriger Fall, Herr Oberstlieutenant,« sagte der Beamte. »Sie wissen wohl nicht, ob der Verstorbene hier noch Verwandte in der Stadt hat?«
»Freunde genug,« sagte Klingenbruch, »aber keine Verwandten, Seine Eltern wohnen auswärts, aber er hat seine Braut, mit der er in wenigen Tagen verbunden werden sollte – ja, wenn ich nicht irre, war der Hochzeitstag auf heute oder morgen bestimmt – hier in der Stadt.«
»Hier liegen Briefe,« sagte Schaller, der sich indessen im Zimmer umgesehen hatte, »und aus denen werden wir auch wohl später die Motive der That erfahren. Der eine Brief ist an Fräulein Constanze Blendheim, der andere an den Notar Püster.«
»Dort werden wir also Aufschluß und die nöthigen Weisungen erhalten,« sagte der Beamte und streckte die Hand nach dem Briefe aus. Schaller reichte sie ihm und behielt nur noch den dritten in der Hand.
»Diesen,« sagte er, »kann ich gleich selber übergeben, denn ich gehe augenblicklich zu Solbergs hinaus; er ist an den jungen Baron.«
»Wenn Sie das übernehmen wollten, Herr von Schaller,« entgegnete ihm artig der Beamte – »die anderen werde ich sofort an ihre Adressen befördern. Hier, Müller,« wandte er sich dann an einen der Leute, die ihn begleiteten, »mit dem Briefe gehen Sie direct zu Notar Püster und ersuchen den Herrn Notar, sich so rasch als irgend möglich her zu bemühen, – ich werde ihn hier erwarten – den andern Brief an die junge Dame geben Sie nebenan in dem Hause ab.«
»Wäre es nicht besser,« sagte Klingenbruch, »das Schreiben an Fräulein Blendheim ebenfalls dem Notar Püster anzuvertrauen? Wenn sie in ihrem jetzigen Zustande – so ganz unvorbereitet …«
»Sie haben Recht, Herr Oberstlieutenant. – Also geben Sie die beiden Schreiben bei Notar Püster ab, der schon darüber verfügen wird, und eilen Sie sich ein wenig, damit wir unser Geschäft hier rasch erledigen.«
Es war wirklich nur ein Geschäft. Die Worte wurden in Gegenwart der Leiche so laut und rücksichtslos gesprochen, daß es Klingenbruch dabei ordentlich einen Stich durch's Herz gab.
Er stand wieder schweigend vor dem Todten und sah in die stillen Züge, die das Geheimniß seiner letzten Stunde bargen.
»Kommen Sie, Klingenbruch,« sagte da Schaller, der sich nicht behaglich in dieser Umgebung fühlte, ohne aber besonders erregt zu scheinen, »wir wollen gehen, denn wir können hier doch nichts mehr nützen und stehen nur im Wege.«
Klingenbruch folgte fast willenlos, und als er wieder hinaus in's Freie trat, athmete er tief und wie qualvoll auf. Beide wechselten auch kein Wort mehr mit einander, bis sie die nächste Ecke erreichten. Dort blieb Schaller stehen und sagte, dem Oberstlieutenant die Hand reichend: »Ich will hier nach Solbergs abbiegen, lieber Freund, bitte, empfehlen Sie mich zu Hause. Das ist wirklich ein trauriger Fall und schmerzt mich tief; doch alles bei Ihnen zu Hause wohl?«
»Ich danke Ihnen, ja, leben Sie wohl, Herr von Schaller,« sagte Klingenbruch und schritt langsam der Richtung zu, die nach seiner eigenen Wohnung führte.«
Schaller indessen verfolgte den Weg nach Solbergs, weniger aber aus Theilnahme für den Geschiedenen, als aus Neugierde, denn er hoffte durch Hans von Solberg, der ja doch immer das Herz auf der Zunge hatte, gleich Ausführliches über den ihm vollständig unerklärlichen Fall zu hören. Er war aber trotzdem dabei mit seinen Gedanken abwesend, denn eine Menge der verschiedensten Dinge gingen ihm durch den Kopf. Er schritt auch, ohne sich umzusehen oder einen der ihm Begegnenden zu bemerken, vorwärts, als er sich plötzlich angerufen hörte.
»Hallo Schaller, wohin?«
Als er aufsah, stand Rauten vor ihm.
»Guten Morgen, Rauten! Wohin? Zu Solbergs. Woher? Von Dürrbeck's Leiche. Haben Sie die Geschichte schon gehört?«
»Es wurde heute Morgen davon in der Stadt gesprochen. Er hat sich erschossen.«
»Ja, aber weshalb? Kein Mensch hat eine Ahnung.«
Graf Rauten zuckte mit den Achseln. »Wie mir heute Morgen gesagt wurde, vermuthet man, daß Reue über die geschlossene und nicht mehr rückgängig zu machende Verbindung die Schuld gewesen. Wer weiß denn, was ihn dazu getrieben, denn ohne Grund schießt sich kein Mensch eine Kugel durch den Kopf.«
»Sie waren nie befreundet mit Dürrbeck?«
»Besonders befreundet, nein. Wir sind uns auch nur wenig begegnet; aber was wollen Sie so früh bei Solbergs?«
»Einen Brief an Hans abgeben, der auf Dürrbeck's Schreibtisch lag.«
»Einen Brief an Hans? Zeigen Sie einmal,« sagte Rauten, viel rascher und theilnehmender, als er bis jetzt gesprochen.
Schaller nahm ihn aus der Tasche. Er bestand augenscheinlich nur aus einem in ein Couvert eingeschlossenen Blatte, und Rauten hielt den Brief einen Moment wie nachdenkend in der Hand.
»Ich will Ihnen etwas sagen, Schaller,« bemerkte er endlich, »ich werde den Brief selber an seine Adresse abgeben.«
Schaller sah ihn rasch an. »Der Brief ist mir übergeben und ich habe es übernommen,« sagte er endlich; »es wäre mir sehr unangenehm, wenn …«
Rauten steckte den Brief ruhig in seine Tasche. »Haben Sie keine Sorge, Sie sind von aller Verantwortung frei, wenn Sie ihn mir übergeben haben, denn ich gehöre jetzt mit zum Solberg'schen Hause, und ich gebe Ihnen mein Wort, Hans soll ihn bekommen.«
»Aber er würde ihn rascher bekommen, wenn ich ihn jetzt direct hintrüge.«
»Wenn – Sie denken aber trotzdem nicht daran, da Sie mich zuerst einmal auf mein Zimmer begleiten.«
Schaller sah ihn fragend an.
»Ich habe Ihnen etwas mitzutheilen, und die Straße ist dafür nicht der geeignete Platz. Kommen Sie, Schaller; übermorgen ist meine Hochzeit, und an dem Tage ist uns Beiden geholfen.«
»Das gebe Gott!« sagte der Baron mit einem aus tiefster Brust geholten Seufzer, »Zeit wird's, oder die Sache nimmt mit mir ein ganz verzweifeltes Ende. Dürrbeck, der Esel, schießt sich eine Kugel durch den Kopf und hat ein Vermögen von wenigstens sechzig- bis siebzigtausend Thalern. Wenn Jemand Ursache hätte eine solche Dummheit zu begehen, so wär' ich es; aber ich mache meiner Frau die Freude nicht. Neugierig bin ich übrigens, was Sie mir zu sagen haben.«
Die beiden Herren waren während des letzten Gesprächs schon scharf neben einander hergeschritten und hatten Rauten's Wohnung jetzt erreicht. Der Graf schloß sein Logis auf, warf seinen Hut auf das Sopha, schob Schaller eine Kiste Havanna-Cigarren und das Feuerzeug zu, nahm dann aus seiner Tasche ein kleines, sehr feines Federmesser, warf sich in einen Stuhl, nahm den Brief für Hans von Solberg aus der Tasche und begann ohne Weiteres ihn an der untern Seite des Couverts, in der Kante, aufzuschneiden.
»Rauten, sind Sie des Teufels?« rief Schaller, von seinem Stuhl wirklich erschrocken aufspringend.
»Weshalb?« sagte der Graf, ohne sich indeß in seiner Arbeit stören zu lassen.
»Sie haben mir versprochen …«
»Daß Hans den Brief bekommen soll, gewiß, und das soll er auch, aber erst wollen wir einmal sehen, was er enthält, denn Dürrbeck, wenn er auch nichts über mich wußte, hatte einen Verdacht gefaßt, und der konnte uns Beiden verderblich werden.«
»Alle Teufel!« rief Schaller jetzt wirklich erschreckt, »ist das wahr?«
»Lassen Sie und sehen, was in dem Briefe steht; ich würde mich sehr wundern, wenn wir darin nicht die Bestätigung fänden.«
Er überflog die Zeilen mit den Blicken, und ein höhnisches Lächeln legte sich dabei um seine Lippen.
»Hans von Sollberg soll den Brief gewiß bekommen,« nickte er, »aber erst vierzehn Tage nach meiner Verheirathung, und ich denke, es wird dann noch immer früh genug sein.«
»Und was schreibt Dürrbeck?«
»Nicht viel. Die Hand ist auch nicht recht fest und ziemlich undeutlich. »»Lieber Hans! Es ist der Gruß eines Todten, den ich Dir sende. Frage nicht, was mich zu dem Schritt getrieben. Die einzige Antwort, die ich Dir zu geben vermöchte, wäre: ich konnte und durfte nicht anders handeln. Aber ein Wort habe ich noch für Dich, beherzige es: ich mißtraue Rauten. Ich kann Dir keinen bestimmten Beweis gegen ihn liefern, aber ich halte ihn für keinen guten Menschen. Klingenbruch kennt meine Ansichten darüber; sprich mit ihm, und wenn Du bis zu der Verheirathung Deiner Schwester keine bestimmte Nachricht bekommst, so begleite – es ist meine letzte Bitte an Dich – Deinet-, Deiner Schwester halben, Rauten bis auf seine Güter. Ueberzeuge Dich selber, wo und wie er lebt. Und nun leb' wohl! Meine Zeit ist gemessen. Es grüßt und küßt Dich zehntausendmal Dein armer Bernhard.««
»Nun?« sagte Rauten, als er den Brief zu Ende gelesen »hatte ich Recht?«
»Sie haben eine sehr gute Nase,« versicherte Schaller, der aber doch ein wenig verstört und unruhig schien; »der Brief in den Händen des jungen Solberg jetzt, könnte uns Beiden einen Strich durch die Rechnung machen. Aber zum Henker auch, es waren Zeugen da, als ich ihn an mich nahm! Hätte ich den verdammten Wisch nur gleich so eingesteckt, aber wer konnte davon eine Ahnung haben? Und Klingenbruch war ebenfalls dabei,« setzte er rasch hinzu – »das ist eine verteufelte Geschichte!«
»Sagen Sie nur einfach,« bemerkte Rauten ruhig, »daß Sie ihn mir zur Besorgung übergeben haben; das Uebrige werde ich schon machen.«
»Dann habe ich nichts dagegen,« meinte sein Freund; »denn aufrichtig gesagt, möchte ich mich jetzt gerade nicht in Extra-Unannehmlichkeiten bringen. Es ist so wie so. Und wie wird es mit der Zahlung, Rauten?«
»Das ganze Programm ist zwischen mir und dem alten Herrn auf das Titelchen verabredet worden,« sagte Rauten; »Morgens um zehn Uhr empfange ich die Aussteuer, um darüber doch die nöthige Disposition zu treffen. Ich habe ihm nämlich erklärt, ich wünsche nicht auf einer Hochzeitsreise eine solche Summe bei mir zu führen, weil ich sonst aus Angst und Sorge nicht herauskomme. Um elf Uhr bin ich bei Ihnen. Um zwei Uhr ist die Trauung, um drei Uhr ein einfaches Familien-Diner, und um vier Uhr dreißig Minuten geht der Zug, der uns aus Rhodenburg fort in die Welt führt.«
Schaller hatte ihm schweigend zugehört und nickte dabei nur immer selbstzufrieden mit dem Kopfe, schien aber doch noch ein Bedenken zu haben und sann eine Weile darüber hin und her.
»Aber wenn Sie nun nicht um elf Uhr, oder um zwölf Uhr wollen wir sagen, zu mir kommen, lieber Rauten?« sagte er endlich und saß dabei, die beiden Ellbogen auf die Lehnen seines Stuhles gestemmt, die Hände gefaltet und die Daumen um einander herjagend.
»Dann kommen Sie zur Trauung,« erwiderte Rauten, und ein Lächeln zuckte um seine Lippen. »Sind Sie damit beruhigt?«
»Vollkommen,« sagte Schaller, von seinem Stuhl aufstehend, ich glaube auch jetzt, daß ich Ihnen trauen darf, Rauten, denn Ihr eigenes Interesse ist auf meiner Seite, und dies bleibt ein Hauptfactor bei jedem Geschäft. Apropos, waren Sie schon bei Dürrbeck? Oder ich möchte besser fragen: wollten Sie vielleicht eben hingehen, als ich Sie traf?«
»Nein!« sagte Graf Rauten zögernd; »erstens war Dürrbeck nur eine ganz oberflächliche Bekanntschaft, und dann – sehe ich auch nicht gern Leichen. Ich habe von Kindheit auf eine Aversion dagegen gehabt. Es verdirbt mir stets den ganzen Tag.«
»Das könnte ich nicht sagen,« meinte Schaller trocken, »wenn mir weiter nichts den Tag verdirbt; aber ich muß jetzt gehen. Also übermorgen ist der glückliche Moment, machen Sie's nur um Gottes willen nicht wie Hauptmann von Dürrbeck.«
»Ich werde mich hüten,« lachte Rauten, als sich Schaller zum Gehen wandte, und streckte sich dabei bequem auf seinem Sopha aus.
Wunderbarer Weise schien die Kunde von Dürrbeck's Tode, selbst noch nicht bis zum Frühstück, Solberg's Haus erreicht zu haben, das übrigens auch nur geringen Verkehr mit der übrigen Nachbarschaft hielt. Erst der Barbier, der Morgens um neun Uhr kam, brachte sie mit und zwar glücklich darüber, daß er hier wirklich etwas Neues melden konnte, denn in allen übrigen Häusern hatten sie es schon gewußt.
Der alte Herr nahm die Sache übrigens ziemlich kaltblütig auf. Der Hauptmann von Dürrbeck war aus dem Kreise seiner Bekannten und Freunde getreten und existirte eigentlich schon seit der Zeit nicht mehr für ihn. Weshalb sollte er sich also für ein Individuum besonders interessiren, das überhaupt nicht existirte, er sah keine Veranlassung dazu.
»Weshalb?« war die einzige Frage, die er an den Barbier richtete, als dieser gerade im Begriff stand, ihn einzuseifen.
»Bedaure recht sehr,« sagte der Höfliche, »dem Herrn Baron keine weiteren Mittheilungen machen zu können, nur was sich die Leute erzählen.«
»Weiter wissen Sie überhaupt nichts?« erwiderte Herr von Solberg mit fabelhafter Rücksichtslosigkeit. Der Barbier aber lächelte, er nahm das für ein Eloge und fuhr geschmeichelt fort: »die Heirath mit Fräulein Blendheim, der Sängerin soll ihn gereut haben; er war doch von Adel und sie nicht, und da hat er sich noch vorher eine Kugel durch's Herz geschossen.«
»Ist er schon begraben?«
»Entschuldigen, Herr Baron, er hat sich erst gestern todtgeschossen, und jetzt ist das Gericht bei ihm, um seine Sachen mit Beschlag zu belegen.«
»Muß doch wohl. Die Herren Officiere leben gern ein bischen flott, he, he, he!«
»Nehmen Sie sich in Acht, jetzt haben Sie mich wieder geschnitten!«
»Bitte um Verzeihung, Herr Baron, es ist Ihnen nur ein Haar ausgesprungen, Sie haben einen so sehr starken Bart. – Danke unterhänigst,« setzte der Bartkünstler hinzu, als er die Serviette abnahm und mit einer tiefen und sehr anstandsvollen Verbeugung zurücktrat.
Baron von Solberg beendete seine Toilette – die übrigen Mitglieder der Familie befanden sich noch auf ihren Zimmern –, las seine Zeitung und wartete geduldig den Moment ab, wo zum Frühstück geklingelt wurde.
Im kleinen Salon traf er die Seinen.
»Apropos, Hans, wo hast Du Dich denn gestern den ganzen Nachmittag herumgetrieben? Du wurdest hier sehr vermißt.«
»Ich hatte Geschäfte, Vater,« sagte Hans, »unser Agent aus Hamburg war da, mit dem ich viel besprechen mußte.«
»Es klingt mir zu merkwürdig,« bemerkte die Frau Baronin, »wenn ich den Hans so ehrbar von Geschäften reden höre, und er betreibt das mit einem so fabelhaften Ernst.«
»Es ist das auch oftmals kein Spaß, Mama, denn es handelt sich zuweilen um ganze Schiffsladungen kostbarer Waaren, bei denen es einen bedeutenden Unterschied macht, ob sie zur rechten Zeit oder später eintreffen.«
Die Familie hatte am Tische Platz genommen und der Kaffee wurde servirt; neben der Tasse des Barons lag dabei stets das Rhodenburger Tageblatt, und er nahm es jetzt auf und warf den Blick darüber hin.
»Apropos,« sagte er plötzlich, von seiner Lectüre aufsehend, »habt Ihr es schon gehört? Hauptmann Dürrbeck hat sich gestern Abend erschossen.«
»Dürrbeck?« schrie Hans und fuhr von seinem Stuhl wie elektrisirt empor. »Um Gottes willen, Vater, das ist ja doch nicht möglich!«
»Der Barbier hat es erzählt,« erwiderte sein Vater, »und der ist dem Tageblatt immer volle vierundzwanzig Stunden voraus.«
»Dürrbeck? – Hauptmann von Dürrbeck? – Aber heute ist ja sein Hochzeitstag.«
»Wahrlich eben deshalb,« sagte Baron von Solberg, indem er langsam seinen Kaffee schlürfte; »man erzählt sich in der Stadt – aber ich berichte nur, was ich von meinem Barbier weiß –, daß er sich aus Reue über dieses Verhältniß das Leben genommen habe.«
»Der Barbier erzählt das!« rief Hans fast außer sich, »aber ich kenne Dürrbeck genau und weiß, wie er die Stunden schon gezählt hat, die ihn mit seiner Constanze verbinden sollten. Oh Du mein Himmel, was kann da vorgefallen sein? Welcher furchtbare Wahn hat ihn zu so Entsetzlichem getrieben?«
»Mein lieber Sohn,« sagte der Baron sehr ruhig, »Du urtheilst noch nach dem äußern Schein; wenn Du aber erst mehr Jahre zählst, wirst Du einsehen, wie oft der trügt. Man kann keinem Menschen in's Herz sehen.«
»Dürrbeck, ja,« rief Hans bewegt aus, »der zeigte sein Herz so offen und wahr, wie es in seiner Brust lag.«
»Wo willst Du denn hin? Du hast ja noch nicht halb gefrühstückt!«
»Nach seiner Wohnung natürlich,« rief Hans, »darüber muß ich Gewißheit haben, ehe ich mich wieder ruhig niedersetzen kann. Aber es ist auch nicht denkbar! – Stadtklatsch! – Dürrbeck sich erschossen? Eher wollte ich glauben, daß Frau von Schaller in ein Kloster ginge und Nonne würde, oder Frau von Egersheim ihre eigenen Haare trüge. – Es ist zu wahnsinnig!«
»Aber so trinke doch nur erst Deinen Kaffee, wenn Du es überhaupt nicht glaubst, denn in dem Falle liegt nicht die geringste Veranlassung vor, Dich zu übereilen,« sagte die Schwester.
»Darin hast Du Recht, Fränzchen, aber« – er sah die Schwester düster und wie in tiefen Gedanken an – »es sind noch außerdem eine Menge von Dinge, die mir durch den Kopf gehen und die ich heute Morgen regeln muß.«
»Was hast Du nur, Hans?« fragte Franziska. »Du bist schon seit gestern Abend so sonderbar, so still – gestern hast Du nicht einmal Leopold gute Nacht gesagt, als er ging, und heute Morgen habe ich Dich schon ein paar Mal beobachtet, wie Du vor Dich niederstarrtest.«
»Geschäfte, mein Herz, Geschäfte,« erwiderte Hans zerstreut, trank aber dabei im Stehen die vor ihn gestellte Tasse Kaffee aus und griff dann, ganz in Gedanken, nach seiner Cigarre und Feuerzeug, zündete seine Havanna an und verließ, ohne ein Wort weiter zu sagen, das Haus.
Er mochte etwa eine halbe Stunde fort sein, als Oberstlieutenant von Klingenbruch sich anmelden ließ und nach dem jungen Baron fragte. Die Antwort lautete, daß er ausgegangen sei und man nicht wisse, wann er zurückkehren würde. Er habe jetzt sehr viel außerhalb zu thun. Der Oberstlieutenant hinterließ deshalb, Hans von Solberg möge doch so freundlich sein, ihn, sobald er zurückkehre, in seiner eigenen Wohnung aufzusuchen, er habe ihm etwas Wichtiges mitzutheilen; er solle aber keine Zeit versäumen, denn die Sache sei dringend. –
In der Stadt wurde an dem Morgen fast von nichts gesprochen als dem Selbstmord des Hauptmanns, und was man an gehässigen Vermuthungen für die Ursache auftreiben konnte, wurde aufgetrieben – glauben doch die Menschen im Allgemeinen, so gutherzig sie auch sonst sein mögen, von ihren Nebenmenschen immer viel eher das Schlechte, und nur zu oft schon deshalb, weil sie sich dadurch selber ein klein wenig klüger oder besser hinzustellen denken! Sie hätten natürlich an deß und deß Statt nicht so gehandelt, sie würden das viel klüger oder ehrenhafter angefangen haben!
Klingenbruch war von Solbergs gleich wieder nach Hause zu gegangen, aber er fühlte sich so aufgeregt, daß er beschloß, zuerst einmal in dem Café einzukehren und ein Glas Cognac oder Portwein zu trinken. Er that das sehr selten; aber eben weil er seinen Körper nicht daran gewöhnt hatte, übte es auch, wenn er es einmal gebrauchte, stets eine wohlthätige Wirkung auf ihn aus.
Im Eckfenster drin, wie in dem übrigen Raume, fand er übrigens trotz der frühen Tageszeit schon eine Anzahl von Gästen, meist Officiere, versammelt, die das Bedürfniß gefühlt, sich gegen einander auszusprechen, und als besten Sammelplatz gerade dieses Lokal gewählt hatten. Das Gespräch drehte sich deshalb auch einzig und allein um den einen Punkt. Ja, selbst das »Fräulein« im Geschäft war in die Unterhaltung hineingezogen, da eigentlich Dürrbeck hier in diesem Locale zuletzt gewesen und später von Niemand mehr gesehen oder doch wenigstens gesprochen worden war. Auf seinem Heimwege begegneten ihm ja allerdings einzelne Kameraden, denen aber auch schon sein zerstreutes Wesen und bleiches Gesicht auffiel. Und wie hatte er sich hier betragen?
»Ja,« sagte das Fräulein, »der Herr Hauptmann war allerdings schon immer ernst und gesetzt und hielt sich, wenn er auch einmal einen Spaß mitmachte stets sehr ruhig – gestern aber noch mehr.«
»Kam er allein her?«
»Nein, mit dem Herrn Grafen Rauten.«
»Mit dem hat er sonst eigentlich wenig verkehrt.«
»Oh, sie waren aber ganz freundlich mit einander und haben auch eine Flasche Champagner mitsammen getrunken! Der Herr Oberstlieutenant kamen ja auch nachher dazu.«
»Ja,« nickte der kleine Mann, »das allerdings, aber Dürrbeck schien mir schon damals gedrückt oder niedergeschlagen.«
»Das ist mir gar nicht aufgefallen,« meinte das junge Mädchen; »der Herr Graf hatte auch die Flasche verloren und zahlte sie.«
»Verloren? Wie so?« fragte ein anderer der Officiere.
»Ei, sie würfelten sie aus, wie das die Herren ja oft thun.«
»Es ist unbegreiflich,« sagte derselbe wieder, »daß er Morgens noch Vergnügen daran finden sollte, eine Flasche Champagner auszuwürfeln, und dann nach Hause zu gehen, um sich umzubringen.«
»War noch Jemand hier,« fragte Klingenbruch, »als die beiden Herren hereinkamen und um den Champagner würfelten?«
»Ich glaube, ja,« sagte die Kellnerin, »ganz leer wird es ja fast nie; aber ich kann mich jetzt nicht mehr besinnen, wer – keinenfalls Bekannte, ich hätte sie mir sonst gemerkt.«
»Und wer warf die höchste Zahl?« fragte ein Husaren-Rittmeister.
»Ja, das weiß ich nicht – jedenfalls der Herr Hauptmann, da der Herr Graf die Flasche bezahlte, denn sie hatten sie sich schon gleich, wie sie hereinkamen, geben lassen.«
»Und sie waren freundlich mit einander?«
»Nun, gewiß, wie immer die Herren sind,« sagte das junge Mädchen; »sie werden sich doch nicht zanken, wenn sie zusammen aus einer Flasche trinken! Der Herr Hauptmann kann auch da noch nicht einmal an die schreckliche That gedacht haben, denn wissen Sie wohl noch, Herr Oberstlieutenant, wie der Herr Hauptmann hinausging, rief ihm der Herr Graf noch nach: ›Also es bleibt bei unserer Verabredung!‹ – ich glaube, sie wollten zusammen ausreiten.«
»Ja, ja, ich erinnere mich,« sagte der kleine Oberstlieutenant, indem er mit dem Kopfe nickte, und trank dabei das Glas Portwein, welches er sich hatte geben lassen, langsam und auf einen langen Zug, aber wie ganz in Gedanken, aus. Er stand dann auch auf, bezahlte und verließ das Café; er hatte ja bei Solbergs hinterlassen, daß er zu Hause sein würde, wenn Hans käme, und wollte diesen jetzt erwarten. Er hatte sich auf dem Ministerium heute entschuldigen lassen.