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Zweites Kapitel

Jakobs erste Wandertage

Wenn einmal der Morgen kömmt, der Tag langsam am Himmel heraufsteigt, wo der Wandergeselle zum ersten Male den Fuß auf die Straße setzt -- vor ihm geht die Welt auf, er kann gehen wohin er will, links oder rechts, er kann machen was er will, sich niedersetzen oder aufstehen, des Abends eine Herberge suchen oder unter einem Baume schlafen, an keine Stunde ist er gebunden, an keinen Ort, keine Stimme schallt ihm nach, keine Stimme ruft ihn hieher, ruft ihn dorthin, er ist frei in Zeit und Raum, kann machen was er will -- dann durchströmt ein eigen Gefühl den jungen Menschen, rasch und heiß rieselt ihm durch die Adern das Blut, und munter zieht aus und ein in die weite Brust der leichte Atem. Die Lebendigkeit dieses weit und leicht atmenden Gefühles ist freilich ebenfalls nicht unabhängig, wie nichts auf Erden es ist, es hängt ab vom Zuge der Wolken, von der Schärfe des Windes, vom Mangel oder Überfluß an Sonnenschein, von der Schwere des Felleisens, der Leichtigkeit des Geldbeutels, von Nerven und Muskeln, vom Herz und von der Seele, kurz von unendlich wichtigen und unendlich kleinlichen Dingen, welche Einfluß üben auf unsere Souveränität trotz den herrlichsten Theorien über unsere Selbstherrlichkeit, trotz den herrlichsten Variationen über das Thema »Selbst ist der Mann!« Aber wenn es ein schöner Morgen ist, sanft die Wolken ziehen, stark der Rücken ist und rüstig die Beine, dann wallet und siedet es in der Brust, und helle Dämpfe, ein rosenrotes Morgenrot voll süßer Hoffnungen, voll kühner Erwartungen wallet auf, und leicht und lustig wallet der Bursche dahin, als ob er schiffe auf leichten, rosenroten Wölklein.

Doch wie, wenn die Sonne höher steiget, das lustig aufgeschossene Saatkorn, welches nicht viel gute Erde hatte, vertrocknet, so geht es gerne und oft dem Jüngling mit Rosenrot und Morgenrot, mit Hoffnungen und Erwartungen, wenn er mit dem schweren Felleisen eine staubichte Straße dahinwandert, nachdem die erste Stunde verronnen ist. Allmählich kürzen sich die Schritte, nach der zweiten Stunde schon macht die Last auf dem Rücken sich geltend, die Tragriemen beginnen fühlbar zu werden, scheinen den Atem zu beengen; er fängt zu bedenken an, ob es wohl Zeit zur Einkehr sei, ob der Handwerksgebrauch es wohl erlaube, nach so wenig Stunden schon wieder abzusitzen. So ein junger Geselle trägt noch Bedenken, fügt sich in die Form; einem Altgesellen vergehen gerne die Bedenken, und gerne schneidet er seine Formen sich selbst zurecht, setzt sich ohne Bedenken nach den zwei ersten Schritten wieder in eine Kneipe, wenn es ihn dünkt, er hätte Durst oder sonst etwas. Wer Genie hat, begreiflich -- und solche Glückliche gibt es heutzutage bekanntlich wie Sand am Meere -- setzt sich, versteht sich, über alles Herkömmliche heraus und schneidet sich seine Lebensweise zu, eigentümlich, nagelneu, genial natürlich. Besieht man das Ding etwas näher, so kommen einem die verschiedenen genialen Weisen sehr ähnlich, wirklich schon etwas angerostet vor und mahnen einen an den verlornen Sohn, der nicht eher zu sich selbst kam, bis er vor dem leeren Schweintrog stand.

Wenn ein junger Wanderer seine erste Tagefahrt ehrlich vollbringt, nicht liegen bleibt auf halbem Wege, so geschieht es gerne, daß am Abend, wenn er endlich zur Ruhe kömmt, ihm ganz anders zumute ist, als ihm am Morgen war. Es schmerzen ihn die Füße, der Rücken tut ihm weh, eng ists ihm um die Brust, weh im Herzen, trüb, schwarz scheint ihm die Welt, das Weinen steigt ihm in die Augen, verlassen, elend kömmt er sich vor. Soll er heimkehren, soll er weitergehen? Zu keinem mag er sich entschließen, sterben möchte er am liebsten. Wohl dem armen Burschen, wenn er dieses Weh verwindet, wenn es sich ihm verklärt nach und nach zum freundlichen Gedenken der Heimat und des Tages, an welchem er als gemachter Bursche heimkehrt und nun ein Mann sein will im Sitze seiner Väter! Aber weh ihm, wenn diese Abende häufig wiederkehren, aber immer verwilderter, düsterer nach wild und bös verlebten Tagen; weh ihm, wenn ihm einst ein Abend kommen sollte im Spital an der Landstraße, wo seine Füße ihn auch nicht weitertragen, es trüb und schwarz ihm vor den Augen wird, schweres Stöhnen aus der Brust sich ringt, das Weinen nach der Heimat kömmt, aber keine Heimkehr mehr ist, hinter ihm der Weg abgebrochen, vor ihm der Tod, der ihm winket dem schwarzen Tore zu, aus dem nimmer wiederkehret, wer zu ihm eingegangen, vergeblich er nach dem Vater, nach der Mutter seufzt, keines kömmt, niemand kömmt als näher und näher der Tod und sein dunkel, finster Tor, in welchem endlich die Seufzer, der vergebliche Ruf nach Hülfe aussterben, der arme, verlorne Bursche verschlungen wird!

Auch unser Jakob verarbeitete einen schweren, trüben Abend, als er müde und wie gelähmt endlich zur Nachtherberge kam. Er wäre selben Abend von Herzen gerne gestorben, so elend war es ihm im Gemüte. Am folgenden Morgen hatte er sich wieder etwas erholt. Doch kam die Welt ihm noch immer ganz anders vor als am vorigen Tag, gar grausam lang schien sie ihm; wie er auch die Beine hob und weitersetzte, es wollte nicht vorwärts gehen. Er fing an zu glauben, irgendein boshafter Kobold dehne jede Strecke von einem Meilenzeiger zum andern vor ihm weg aus, daß sie lang wie eine Tagereise werde. Der gute Jakob hatte das Wandern sich ganz anders vorgestellt. Wenn einer vier Jahre Lehrzeit absitzt oder abhobelt in einer Werkstätte, selten zu einem freien Tag kömmt, wo er sich ordentlich strecken und ergehen kann wie er will, wie herrlich kommen ihm die Tage des Laufens und Schlenderns vor; gerade so sei auch das Wandern, denkt er, und darum freut er sich auch so darauf. Aber das Wandern ist ganz was anderes, es ist kein Spaziergang, sondern anfangs besonders eine harte Beschwerde; um sie unbeschwert zu ertragen, ist wiederum eine Lehrzeit vonnöten. Diese Lehrzeit des Wanderns ist von großer Bedeutsamkeit für den rechten Gesellen; er lernt daraus, Schritt um Schritt zu gehen mit Geduld, er erfährt, daß Schritt um Schritt zum Ziele führen so gut als Fliegen oder Rennen und sicherer noch obendrein, und diese Erfahrung, wenn sie praktisch angewendet wird, ist die Grundmauer des Handwerks. Jetzt fährt man auf Eisenbahnen für ein Lumpengeld hundert Stunden weit, aber wehe dem Gesellen, dem dieser Flug zu Kopfe steigt, der ihn übertragen möchte auf seinen Lebensweg, er kömmt von den rechten Schienen ab, gerät aus der Fahrbahn, kömmt nicht ans Ziel oder spät oder verstümmelt. Jakob hatte sich vorgenommen, gleich eine tüchtige Strecke weg von der Heimat sich zu entfernen, ehe er um Arbeit frage, hatte sich vorgenommen, hauptsächlich in größern Städten Arbeit zu suchen, weil da am meisten zu lernen sei, wie er sagte. Als Glanzpunkt stand Parnis (Paris) ihm vor Augen, derhalben hatte er auch alsobald den Flug nach Westen genommen, um durch die Schweiz in Frankreich einzurücken.

Es ist ein eigner Zug, der immer mehr die Leute in die Städte zieht: dort sei der rechte Verkehr, heißt es, dort sei das rechte Leben. Das ist wohl nur eine Täuschung, vielleicht nichts als der Instinkt eines unglücklichen Geschlechtes, weil im Wirbel einer Stadt die Jämmerlichkeit der Persönlichkeiten, ihr jämmerlicher Untergang am leichtesten zu verbergen ist, weil im Wirbel der Stadt das Glück ein Zufall scheint, während im stillen Lande augenscheinlich nur die persönliche Tüchtigkeit sich Bahn bricht, Ruf und Geld erwirbt.

Weit früher als er gedacht, entschloß sich Jakob, in einem kleinen vor ihm liegenden Städtchen um Arbeit zu fragen. Es wurde ihm schwerer als er gedacht. Er hatte als Lehrjunge gar oft gelacht, wenn ein müder, schüchterner Geselle in die Werkstatt getreten war und den Gruß vom Handwerk gebracht hatte, hatte hinterdrein über ihn gespottet, alles Lächerliche hervorgezogen, bis endlich der Meister ihn schweigen geheißen, wohl mit der Bemerkung, auf solche Weise versündige man sich, und später habe man Spott und Schmach, die man andern angetan, dreimal auszustehen. Er gab wohl auch zu bedenken, wie schön es sei, daß Meister und Gesellen des gleichen Handwerkes eine Brüderschaft seien, durch die ganze Welt durch Botschaft und Gruß verbunden, daß, so weit man komme, ein Glied der Brüderschaft des andern sich annehme, keiner verlassen sei und verstoßen, so weit das Handwerk bestehe und der Geselle seinen ehrlichen Namen bewahrt habe. Das sei gerade so, sagte er, wie es vor alten Zeiten mit den Ritterorden und auch den geistlichen Orden gewesen sei, welche auch überall Aufnahme und Hülfe gefunden zu Schutz und Trutz, so weit der Orden, ja, so weit das Christentum verbreitet gewesen sei. Was das für ein schönes Gefühl sei, sagte er, wenn man in der weiten Welt sei und doch nirgends fremd, sondern Brüder treffe an jedem Orte, welche mit Rat und Tat jedem vom Handwerk zur Seite stünden und absonderlich den Jungen und Unerfahrnen nützlich seien mit Warnungen und Anweisungen. Man sah wohl, es war mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen, seit der gute Meister draußen in der Welt gewandert war mit dem Hui und dem Gruße von Meister und Gesellen; das war noch in der alten, guten Zeit, wo jeder noch das Gemeinsame im Auge hatte und Gefühl dafür, weil dieses Gemeinsame nicht größer war, als sein Auge es ermaß und also auch sein Gefühl empfand. Als man später diese Schranken des Handwerkes und der Stände einriß und die ganze Welt aufschloß und alles, so weit der Himmel blau ist, jedem gleich lieb sein sollte, da ward das Ding den meisten Herzen und Augen viel zu weit, es ward ihnen angst, sie schlossen Augen und Herzen zu, sahen weder Stände, Handwerker noch Familien mehr, sahen nichts mehr als sich alleine, und was man nicht siehet, für das wird man auch selten fühlen, wie schon der Apostel Johannes richtig bemerkte. Darum fanden des Meisters Worte bei denen, welche Kinder einer andern Zeit waren, einen andern Zeitgeist eingesogen hatten, keinen Anklang; man begriff ihn halt nicht, darum glaubte man sich über ihn erhaben nach der Weise der Zeit. Denn eben darin besteht die Weise der Zeit und ihre Weisheit, daß sie kurzab verneint, was sie nicht sieht oder nicht faßt. So hatte Jakob eigentlich auch keinen Begriff von der Würde seines Handwerks und eben deswegen auch das Hochgefühl nicht, welches das Bewußtsein gibt, einer ehrenwerten Gesamtheit anzugehören, dagegen bildete er sich viel ein auf seine erlangte Fertigkeit im Handwerk, auf sein Geschick zu allem, was ihm vorgelegt wurde, was er ausrichten sollte. Er begriff daher auch nicht, warum er einen schüchternen oder bedürftigen Kameraden nicht hätte auslachen sollen im vermeintlichen Gefühl seiner Überlegenheit. Als er vor dem Städtchen die Toilette machte, die Stiefel putzte und die Haare kämmte und nun aufbrach, um nach einem Meister zu fragen, da wankte sein Selbstvertrauen, ein vergeltend Gefühl kam über ihn, und als er in die Werkstätte trat, den Gruß verrichtete und um Arbeit frug, so stand er nicht anders da, als der verlegenste Geselle gestanden war, welcher ihre Werkstätte besucht hatte.

Jakob fand Arbeit, konnte ausruhen, aber lange blieb er nicht, es war ihm alles nicht recht. Obgleich nicht viele Tagereisen von der Heimat, war hier auf diesem Stücklein Erde schon vieles anders als auf demjenigen, auf welchem seine Heimat stand, andere Gebräuche waren in der Arbeit, andere im Hause, anders rochen die Würste, anders schmeckte das Bier, und was anders war, fand er schlecht, grundschlecht und glaubte, es sei nur hier also. Ganz besonders ärgerte ihn das, was anders war in der Arbeit. Einem solchen Neste zulieb ändere er seine Gewohnheit nicht, sagte er, und was er schaffe, sei für den alten Jörgen (so hieß der Meister) lange gut genug, derselbe wäre froh, er könnte es selbsten so.

Es war ein alter Geselle da, welcher es ihm auseinandersetzen wollte, wie es verschieden zugehe in der Welt, und daß eben das des Gesellen Kunst sei, in das Verschiedene sich zu schicken und das Beste zu wählen, und wie in der Welt nicht bloß verschiedene Arbeit sei, sondern auch verschiedene Arbeitsweise, verschiedene Handgriffe, verschiedene Ausarbeitung, und wie eben das die rechte Gesellenkunst sei, nicht nur verschiedene Arbeit zu machen, sondern auch auf verschiedene Weise, und wie eben nur der der rechte Meister sei, welcher alles kenne, was die Gesellen in die Werkstätte brächten, und dann jedem sagen könne, was er behalten dürfe, was er anders machen müsse.

Für solche Zusprüche hatte jedoch Jakob keine Ohren. Er sagte es nicht, aber er dachte es, wenn der Geselle so weise sei, wie er sich darstelle, so sei es kurios, daß er nicht längstens Meister sei, daß er schaffe in solch erbärmlichem Neste. Jakob wußte noch nicht, wie verschieden Lebensläufe und Ansichten sind und wie selten erfahrne Gesellen, welche die unerfahrnen Kameraden nicht mißbrauchen, sondern mit Rat und Tat kameradschaftlich sich gegen sie erweisen. Jakob blieb kurze Zeit, dann setzte er seinen Stab weiter, suchte an andern Orten Arbeit in der Hoffnung, gescheutere Leute zu finden als im ersten Neste, das heißt Leute, die kochten und schafften, wie es bei ihm zu Hause der Gebrauch sei. Aber Jakob fand die Leute immer dümmer, je weiter er kam, das heißt, je weiter er kam, desto verschiedener trieb man alles, als bei ihm zu Hause der Brauch war. Das machte ihn bitterböse, er war der gute Jakob gar nicht mehr, der dumme Junge, wie ihn die Großmutter gescholten hatte, der sich zu allem verleiten ließ, er hatte ausgelernt gehabt und sollte jetzt von vornen anfangen mit dem Lernen, sollte zum Beispiel gekochte Schinken essen lernen, die er von Kindesbeinen auf roh gegessen, wenn er zuweilen in zwei Jahren vielleicht einmal dazu kam.

Er setzte seine Hoffnung auf die Schweiz. Hier werde es allerdings auch dumm zugehen, dachte er, aber eben so dumm, daß die Leute sich glücklich schätzen würden, wenn so ein Jakob, wie er sei, zu ihnen käme und sie berichten täte, wie es draußen bei vernünftigen Menschen, das heißt da, wo er daheim sei, Sitte und Brauch sei. So steuerte er rasch der Schweiz zu und dachte oft, was sie dort sagen und wie sie dort schauen würden, wenn er, Jakob, daherkäme in die Schweiz. Er stellte sich die Schweiz etwas wunderlich vor, bald wie einen Eisberg mit einer Stadt auf dem Gipfel, einige Dörfer rund darum herum, bald wie eine große, weite Felsenspalte, vorn daran ein mächtiges Tor, dabei große Schweizermannen mit wilden Bärten und langen Hellebarden, bald wie eine große Weide voll Milch und Menschen, voll Käs und Kühen, die Straßen mit Butter bestrichen fausthoch und nebendran schöne Schweizermädel mit Körben voll Semmeln und Flaschen voll Kirschgeist und Muskateller.

Aber lang, lang war die Straße, ehe er ans große Schweizertor kam, bald hätte er zu glauben angefangen, das Dasein der Schweiz sei auch eine bloße Fabel, wie hie und da ein vorwitzig Bürschchen das Himmelreich ein Märlein nannte. Er hatte sich so ein neu Eingericht angeschafft, zwei Rädchen und sonst noch was, worauf er das Felleisen laden, dasselbe ziehen oder stoßen konnte. Aber das Ding ging nicht ohne Mühe, es mußte halt gestoßen oder gezogen sein, und wenn man es genau betrachtete, so war ein solch Ziehen oder Stoßen vielleicht noch mühseliger als das Tragen, jedenfalls stund das Tragen dem Burschen viel besser an. Ach, wenn er so mühselig durch den Kot seinen kleinen Karren zog, und es rollte an ihm vorbei eine rasche Chaise, eine stattliche Karosse, wie da in seiner Brust der Neid sich regte und die Gedanken kamen, ob denn der da drinnen besser sei als er, der mühselig den Karren zog, während jener rasch dahinflog, ob das wohl gerecht sei von Gott, daß er, Jakob, da in Kot und Staub langsam dahintrappen müsse, während andere in Schirm und Schatten mühelos dahinkutschierten!

Indessen wenn man alle Tage vorwärts rückt, kömmt man am Ende doch wohin. Jakob nahte sich der Schweiz, kam durch das Breisgau herauf und steuerte auf Basel zu, nachdem er zu seiner Verwunderung vernommen hatte, die Schweiz hätte mehr als einen Eingang und mehr als eine Stadt, und zwischen den Städten liege Land fast wie in Deutschland, bloß zu hinterst seien die Berge so gleichsam wie eine Wand. So recht glaubte er jedoch das Ding nicht. Als er wußte, daß er selben Abend noch in Basel die Schweiz erreichen werde, da schaute er gewaltig vor sich hin, um die Schweiz zu entdecken, sie emportauchen zu sehen am Himmel als ein sonderbar und eigentümlich Stück Welt. Aber wie er ausgucken mochte einem Seemann gleich, der nach Land oder Wolken sich sehnt, die Schweiz wollte sich nicht zeigen unterm blauen Himmel. So weit er blicken mochte, waren die Wiesen grün, die Bäume hatten Laub, die Berge trugen Wälder, wie er es allenthalben gesehen, und wie es bei ihm zu Hause auch war, und die Berge, welche nicht mit Wald bewachsen waren, waren mit Reben bepflanzt, wie er es aber ebenfalls schon früher gesehen hatte. Er ward ärgerlich in seiner Seele, dachte, er hätte sich verirrt oder sei an der Schweiz vorbeigegangen, ohne daß er es bemerkt hätte.

Vor sich in der Ferne sah er eine Stadt, eine sehr große, wie es ihm schien. Paris könne das doch nicht wohl schon sein, dachte er. Er hatte in der Schule die Geographie gelernt, der Schullehrer hatte ihm oft gesagt, er sei ein ganzer Geograph und werde sich einst blindlings in der Welt zurechtfinden trotz dem berühmten englischen Reisenden, der stockblind alleine alle Weltteile durchzieht und hinterher beschreibt, was er gesehen oder vielmehr nicht gesehen. Nun war er in der Welt, fand kaum den Weg mit Fragen und dem Beistand der Wegweiser, aber mit seiner Geographie konnte er nichts anfangen, sie gab ihm kein Licht in der Welt; als er in der Schule sich so stark damit beschäftigte, war eben die Reihe an Hinterpommern und China gewesen. Was half ihm jetzt alles, was er von dort wußte, jetzt, wo er vor einer Stadt stand und nicht wußte, war es Basel oder Paris, da ja weder die eine noch die andere dieser Städte in Hinterpommern oder gar in China liegt! Eins tröstete ihn, daß er nämlich jedenfalls noch in der Christenheit war, denn scheinbar auf dem höchsten Punkte, gleichsam die Krone oder das Haupt der Stadt, stand ein hoher Dom mit schlanken Türmen, der gar seltsam und schön in dunklem Rot sich heraushob aus dem blauen Hintergrunde, ein köstlicher Karfunkel im blauen Himmelsgewölbe. Da kam einer daher mit Zundel und Bürsten, und Jakob sprach ihn an: »Gut Freund, was ist denn dies für eine Stadt?« »Bosel ists«, antwortete dieser und sah dem Jakob ins Gesicht, als ob er erkunden wolle, ob er bei Troste sei oder nicht. »Bosel?« sagte Jakob erstaunt, »Bosel ist ja in der Schweiz, wo ist dann die Schweiz, die sehe ich ja gar nicht.« Darauf sah ihn der Zundelträger gar wunderlich an, wollte lachend vorübergehen, aber Jakob rief ihn an und sprach zornig: »Zum Narren lasse ich mich nicht halten, und wenn das Bosel ist, so zeig er mir auch die Schweiz, wo ist die zu sehen?« »Da liegt sie ja vor dir, und links neben den Türmen hinauf, da ist die Schweiz«, antwortete der Mann. »Das kann nicht sein«, sagte Jakob, »das ist ja Land wie ein ander Land, und zum besten lasse ich mich nicht halten, Freund, weiß er dies!« »Ja so«, sprach der Mann, »seid Ihr auch von denen einer, welche meinen, die Schweiz hange bald wie eine Bratwurst vom Himmel herab, und bald stehe sie da wie ein dicker, dicker Eiszapfen. Dann marschiert in Gottes Namen zu, am Tore fragt, wo Ihr seid, und wenn Ihr hineinkommt, so werdet Ihr wohl innewerden, daß Ihr in der Schweiz seid, wenns Euch im Kopf nicht fehlt.« Wer glauben sollte, wir hätten unsern Jakob in seinen Vorstellungen über die Schweiz dümmer machen wollen, als er möglicherweise sein konnte, den erinnern wir an den dänischen Gelehrten, welcher in Zürich mit einem Kutscher akkordieren wollte, ihn bis auf den Montblanc zu fahren, an die russische Gräfin, welche in Thun im Bureau des Dampfschiffes Billets wollte bis auf die Jungfrau, an Alexander Dumas, welcher in Bern Reben sah, den Sturz der Wasserfälle, den Donner der Lawinen hörte, ja an Theodor Mundt, welcher die zürcherischen Dampfschiffe bis nach Italien fahren läßt.

Der Mann ging lachend fürbaß, und Jakob sah bald dem Manne nach, bald nach der Stadt hin, welche Basel heißen und in der Schweiz stehen sollte. Da aber der Mann weiter- und weiterging, die Stadt dagegen am gleichen Orte stehen blieb, so entschloß Jakob sich endlich, sich der Stadt zuzuwenden, es sei allweg das Richtigere, dachte er. Indessen tat er es doch vorsichtig, mit großem Bedacht; wenn es wirklich Basel war, so meinte er, werde er wohl ein Zeichen sehen, etwas Apartes zum Erschrecken, etwas Schweizerisches: Männer mit Hellebarden, ein Rudel wilder Stiere, ein Dutzend donnernder Lawinen. Doch von allen diesen trat nichts in seinen Weg, eine schöne Straße führte in eine Stadt hinein, in welcher steinerne Häuser standen wie anderswo, die Menschen akkurat die gleichen Gesichter hatten, in alten Schweizerhosen wollte niemand kommen, keine einzige Kuh war sichtbar; er begann wiederum zu zweifeln. Da rauschte es vor ihm gewaltig und mächtig, die Türme des Domes in ihrer dunkelroten Pracht sah er wieder, die Straße erweiterte sich, vor ihm mündete sich eine breite Brücke, und als er auf derselben stand, sah er einen gewaltigen Fluß, der im vollen Bewußtsein seiner Kraft in ruhiger Schöne dahinfloß. Jakob stand lange still, er wußte nicht warum, aber bald mußte er den Fluß hinauf-, bald den Fluß hinuntersehen, und setzte er auch den Fuß weiter, so mußte er wiederum stillestehen und wiederum hinauf- und hinuntersehen, er kam sich so klein vor, der Strom so gewaltig, es war ihm, als rausche derselbe über die Brücke herauf, als fühle er den Schlag der Wellen an der klopfenden Brust, als gleite er dahin, von der Flut getragen; er konnte den Anblick nimmer vergessen. Aber jetzt wußte er, das war der Rhein -- er war in Basel.


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