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Neunundzwanzigstes Kapitel

Jakob hört erbauliche Gespräche, hat erbauliche Gedanken, sieht merkwürdige Personen, und wie er von Bern nach Basel kommt

Ernst und reifer wie nach einem großen Erlebnis nahm Jakob das Felleisen und pilgerte weiter. Er ging nicht der Stadt zu, sein Leben dort war begraben im Rosengarten, gegen Osten in allem Ernste der Großmutter zu wanderte er. Eine lange Allee lag vor ihm, die gleiche, wie er dachte, durch welche er gekommen war. Er hatte sich nicht geachtet, wie manche Allee ausläuft von der Stadt, und wie manche namentlich beim untern Tore sich mündet. Bei der Papiermühle gedachte er über Nacht zu bleiben, und unterdessen ratschlagte er in sich, was er jetzt, da sein ganzer Plan im Rosengarten begraben war, beginnen und auf welchem Wege er nach Hause wolle. Am vernünftigsten schien es ihm, einen neuen Weg zu gehen, andere Leute, andere Städte zu sehen, und doch war ihm etwas hart dagegen. Es zog ihn, das Bekannte wiederzusehen, den alten Bekannten den neuen Jakob zu zeigen.

Es ist eben gar kurios mit der Sache. Es gibt Leute, welche es haben wie Wallensteins Jäger, die unberührt streifen durch die Welt, das Neue allein sie freut, nach dem Wiedersehen nie sie gelüstet, jeder Mensch ihnen wie eine Kuriosität vorkömmt, welche man genau betrachtet, um allfällig eine Beschreibung von demselben machen zu können wie von einem vorweltlichen Ungeheuer, dann vollkommen befriedigt ist und an der Beschreibung hundertmal wohler lebt als am Ungeheuer selbst. Das sind die Menschen vom allerneuesten Schlage, völlig auf der höchsten Kulturhöhe. Sie betrachten die ganze Menschheit mit dem gleichen Interesse wie ein Schacherjude eine alte Kleiderkammer oder eine Auktion oder Steigerung. In dem Maße, als an jemand zu profitieren ist, hat man Interesse an ihm, ist er was wert; ist nichts mehr an ihm zu profitieren, so wirft man ihn weg wie ein Schneckenhaus, aus welchem man die Schnecke genommen und gesotten hat. Dies ist die moderne Menschenanschauung, eine trostlosere gibt es nicht; darum sind aber auch die ihr angehörenden Helden so trostlose Kerls. Da ist denn doch die christliche Menschenanschauung eine ganz andere, nach welcher uns jeder Begegnende der Nächste ist, den wir zu lieben haben als uns selbst und ihm das zu erweisen, was wir wünschen, daß auch uns getan werde. Die Menschen von dieser Sorte zieht es wieder dahin, wo sie bereits gewesen sind. Unbewußt und unwillkürlich nehmen sie Interesse an den sie berührenden Menschen, ja manchmal sogar an einem Kellner. Es nimmt sie wunder, wie es ihnen geht, was aus ihnen geworden ist. Sie stellen sich vor, auch jene nehmen das gleiche Interesse an ihnen, es drängt sie, ihnen dies und jenes mitzuteilen, dann zu hören, was sie dazu sagen. Du liebe Güte, wie werden diese guten Leutchen oft betrübt im Gemüte, wenn sie es hageldicht erfahren, wie man gar kein Interesse an ihnen nimmt, man sich ihrer kaum noch erinnert, sich rein nicht darum kümmert, seien sie lebendig oder tot, ja, daß es sogar Leute gibt, welche allemal erschrecken, wenn ein alter Bekannter ihnen entgegentritt, weil sie fürchten, er koste sie was, und wenn es nur ein Abbruch von zehn Minuten an ihrem Behagen wäre, ja, die sich allemal von Herzen freuen, wenn ihnen ein Bekannter oder Verwandter stirbt, weil sie wieder für einen weniger Rücksichten zu nehmen brauchen, einer weniger sie plaget, und wäre es auch nur mit der Angst, er könnte ihnen einmal eine halbe Stunde lästig werden! Indessen, wo das Gemüt von echtem Korne ist, erkältet es an solchen Erfahrungen nicht, es wird bloß vorsichtiger, und wenn es reisen will, so zieht es ihns mehr an die Orte hin, wo es schon gewesen, wo was ihm lieb geworden, auf irgendeine Weise seine Teilnahme gewonnen hat. Neues ist ihm mehr oder weniger unheimlich, es muß sich überwinden, wie ein schüchterner Knabe sich überwinden muß, wenn er in eine fremde Stube treten soll.

Zu der letzten Sorte gehörte Jakob, und diese Eigentümlichkeit machte sich in den letzten Zeiten mehr geltend, trat lebendiger hervor, führte jetzt auch bei Entwerfung des Planes zu seiner Heimreise die Hauptstimme. Er entschloß sich, die meisten Orte wieder zu berühren, wenn es sich wenigstens so gebe, wo er gearbeitet hatte, wollte sehen, wie es jetzt dort stehe, und zeigen, was so aus einem Jakob, wie er gewesen, am Ende doch noch werden könne.

Kalkulierend war er fortgeschritten, endlich merkte er, daß die Allee längst zu Ende gegangen, die tiefe Senkung ins Tal, in welcher die Papiermühle liegt, nicht komme, daß er in einem Dorfe war mit einem Kirchtürmchen, an einem Orte, wo er nie gewesen, daß er also verirret sei. Statt die unterste der Alleen hatte er die oberste eingeschlagen. Nun, in dieser Gegend des Kantons Bern ist das Verirren nicht so gefährlich, wie es in der großen Wüste Sahara sein mag, und namentlich jetzt nicht, wo alle sieben Schritte ein Wirtshäuschen steht, so gleichsam ein obrigkeitliches Schröpfhorn, dem Volke die überflüssigen Säfte abzuzapfen, und zu gleicher Zeit eine obrigkeitliche Ausstopfungsfabrik, wo, gleichsam wie man Vögel ausnimmt und mit Stroh ausstopft, damit sie die gleiche Größe, das gleiche Aussehen behalten, der Abgang der Säfte mit freisinnigen Redensarten und Knittelsprüchen vom entschiedenen Fortschritt ausgestopft wird. Er vernahm auch, daß er nicht umzukehren brauche, um seine Richtung wieder zu gewinnen, sondern daß weiter oben ein schöner Weg ihn wieder auf die Hauptstraße führe, ohne daß er einen bedeutenden Umweg mache. Diese Abschweifung ließ sich Jakob wohlgefallen, besonders da ihm in einem guten Wirtshause ein gutes Nachtlager in Aussicht gestellt ward. Er war müde an Geist und Leib, die Erlebnisse des Tages hatte er noch nicht verarbeitet im Gemüte.

In einem Wirtshause auf dem Lande werden Handwerksbursche, welche zum Nachtlager einkehren, gewöhnlich sehr kaltblütig aufgenommen, und mißtrauische Blicke bewachen sie. Bleiben sie an der Türe stehn, so geht ihnen Wirt oder Wirtin entgegen, aber sehr langsam, harrt ihrer Ansprache und gibt, je nachdem diese ausfällt, gnädigen oder ungnädigen Bescheid. Ist nichts zu zapfen, sagen die Bursche, sie hätten kein Geld, wollen vielleicht bloß Brot, vielleicht einen Tauschhandel eröffnen, so werden sie oft angewiesen, in einem Bauernhause Herberge zu suchen. Die Wirte sind nicht alle weichherzig, es soll deren geben, welche Herzen haben, als wären sie lauter Büffelhaut, aber auch an manchem Abweis sind die Bursche schuld, die aus Mutwillen oder Geiz die Leute prellen, auf dem Bettel reisen, als ob sie ein verbrieftes Recht dazu hätten, und fechten mit vielen Talern Geld im Sacke. Diese machen armen Brüdern böses Spiel und verdienten für jedes Klopfen an einer Türe fünfundzwanzig unten an dem Rückgrat. Denen, welche ein Bauernhaus suchen müssen, geht es so böse eben auch nicht. Sie kriegen ein reines Strohlager im warmen Stalle, was weit besser ist als eins in einem italienischen Wanzenbette und zehnmal besser als manche Streu in manchem Wirtshaus, wo es von allerlei schrecklich riecht und von Flöhen strotzt. Dazu kriegen sie an den meisten Orten noch ein Abendbrot, am Morgen ein Frühstück und, waren sie manierlich, noch ein freundlich Wort zum Abschied.

So geschieht es denen, welche an der Türe stehen bleiben. Andere machen es wie andere Gäste, gehen an eine leere Stelle, legen ab, was sie tragen, und gewärtigen die Ansprache: »Womit kann man aufwarten?« oder: »Was wäre Euch lieb?« Wer Platz nimmt, als hätte er das Recht dazu, von dem setzt man auch voraus, er habe das Geld im Sacke, auf welches das Recht sich gründet. Dies Recht erkennt der Wirt an, ist höflich, aber so recht trauen mag er nicht, bis er den Gast gemustert von oben bis unten, von hinten und vornen und einige Fragen gestellt hat, fast wie ein kleiner Polizeikommissar sie tut.

So ging es Jakob. Er setzte sich ungeheißen, wo er Platz fand, bestand sein Examen zur Zufriedenheit, und in Erwartung des Essens hatte er bald seinen Schoppen vor sich und begann nun, sich zu orientieren, wie man zu sagen pflegt. In der Wirtsstube waren drei Tische, der Haupttisch oben, den Fenstern nah, der kleinste beim Ofen, ein mittlerer gegenüber, woran Jakob saß. Der obere Tisch war besetzt, und da gings lebhaft zu, und manchmal sprangen Flaschen und Gläser in die Höhe, als ob sie zwölfjährige Mädchen wären und das Hüpfen sie ankäme; es war aber jedesmal ein tüchtiger Faustschlag, welcher ihnen die Beine gemacht. Wenn disputiert wird, so sind zwei Parteien da, und so wars auch hier. Jakob hatte sie bald raus und gesondert. Sechs dicke Rücken saßen am Tische, hatten Röcke von Halblein darüber, jeder seinen Schoppen vor sich, zwei gewaltige Hände an den Armen, die eine auf dem Tische oder am Glase, die andere an der Pfeife, deren jeder eine ins Gesicht zu stecken hatte. Oben am Tische saßen zwei schmächtige Bürschchen, hatten eine Flasche zusammen, waren stutzerisch angezogen, wenigstens von weitem zu sehen, hatten Zigarren im Gesicht und einer noch einen Schnauz darüber. Die Hände, wenn sie dieselben nicht für Glas oder Zigarren brauchten, waren in den Hosentaschen, als ob sie da was suchten und nicht finden könnten. Der eine hatte noch eine Brille neben sich liegen, welche er häufig mit dem Nastuch abwischte. Er fürchtete sicher, der Tabakrauch könnte ihr schaden, aufsetzen tat er sie nicht. Er war im Gebrauche derselben noch ungeübt, er mußte sich erst daheim im stillen unter zwei Augen im unschädlichen Gebrauche derselben einüben, von wegen im Hosensack fand er nichts für eine zweite, anständige, wenn die erste Schaden litte. Indessen die eine, welche er hatte, hätte er doch gerne sehen lassen, und kam das nicht in eins, ob er sie hatte auf der Nase oder auf dem Tische, wenn er nur eine hatte. Am Ofentischchen saßen drei, verwildert im Gesichte, hatten Löcher in den Röcken und Schnapsgläser vor sich.

Die zwei oben am Tische führten das große Wort, machten die Dozenten, der eine mit dem Schnauz war ein Rechtsagent, der andere, der mit der Brille und dem Schnauze sich noch nicht recht traute, einstweilen mit einem Bocksbart sich begnügte, um doch wenigstens zu zeigen, was er bei entschiedenem Fortschritt noch werden könnte, war ein junger Schulmeister, eben erst aus dem Seminar provisorisch ausgeflogen. Alle Sprüche dieser beiden begannen immer: »Schauet, ihr Männer, die Sache ist die, man muß sie nur recht verstehen; wer die Sache nicht versteht, versteht sie nicht, begreiflich! Aber so ists, so gehts, und so muß es gehen, versteht sich, das ist der Fortschritt! Wir Gelehrte, die die Sache verstehen, können es nicht anders finden, wir mögen sinnen und denken, wie wir wollen. Andere große Gelehrte in Deutschland, in Frankreich, ja selbst in Amerika sind gerade der gleichen Meinung, ja, in verschiedenen wichtigen Punkten gehen sie noch weiter als wir. Wir haben ihnen schon manchmal gesagt oder geschrieben: ›Das laßt noch gelten, unser Volk ist noch nicht so weit‹, aber sie wollen nicht, das sei im Zeitgeiste, da durch müsse es, schreiben sie. Es wird auch so sein, da hilft all Wehren nichts, da durch werdet ihr müssen, ihr Männer, ihr möget euch sperren, wie ihr wollt, die Bildung ists jetzt, die die Sache macht und der Sache den Tätsch gibt. Und so ists, ihr Männer, und schauet nur! Wenn es kömmt, so saget dann, wir hätten es gesagt!«

Das ganze Gespräch drehte sich um Jesuiten und Aristokraten, Volk und Fortschritt herum, alles mit dem Jakob längst bekannten Stichwörtern, so daß er alsbald mitten drin war und vollständig im klaren. Die Männer, welchen doziert wurde, hörten anfänglich ziemlich kaltblütig zu. Nach und nach begannen sie zu sagen, Geschwätz hätten sie genug gehört, und Versprechungen hätte man gegeben ganze Fuder, aber sie möchten doch einmal sehen, wo das Halten sei, sie merkten allgemach, daß versprechen und halten zwei verschiedene Dinge seien. Sie begännen zu merken, warum das Ding umgerührt und angerichtet worden, für niemand anders als hungrige Fürsprecher und hochmütige Schulmeister. Den ersten sei es geraten dutzendweise, wo man ein Dutzend nicht um einen Kreuzer möchte, hätten gute Plätze gekriegt, wo sie nicht bloß den Hunger, sondern auch den Durst stillen könnten. Es wäre dem Lande nützlicher, die Käfer regierten, oder es kämen die Heuschrecken wie Wolken als solche Hungerleider und Schmarotzer. Sie glaubten, selbst mit Schwaben könnte man wohlfeiler fuhrwerken als mit solchem Gezüchte. Die Schulmeister hätten einstweilen noch nichts als Hochmut und Hoffnung, und möglich wäre es, daß er die Brille noch brauchen könnte, um zu sehen, was noch nachkäme. Eine ausgemachte Sache sei es noch nicht, daß man ihnen den Respekt beweise wie alten Landvögten und zehnte und bodenzinse nach ihrem Befehl und Gutdünken. Ehe das käme, könnte es noch ander Wetter geben.

Begreiflich ließen dies die beiden Dozenten nicht ohne Widersprechen sich gefallen. Der Rechtsgelehrte führte den Bauern zu Gemüte, daß sie, die Bauern, einzig gewonnen hätten, Zehnten, Bodenzinse, die Armenlast sei ihnen erleichtert und werde bald ganz aufhören. Der Schulmeister tat gekränkt und sagte, Undank sei der Welt Lohn. Bei Ungebildeten sei keine Anerkennung zu erwarten, die rohe Masse wisse nicht, was Aufklärung sei und Bildung, und doch habe man der Bildung allein die Freiheit zu verdanken; »die Bildung aber, und daß die Leute ihre Rechte kennen, wem hat man das zu verdanken?« Aber das dünke ihm gar nicht anders, das Volk wisse nie, wer es gut mit ihm meine. Das Volk im Alten Testament habe es auch so gehabt und die Propheten gesteinigt, wenn sie es weisen wollten, »und jetzt sind Schulmeister was damals Propheten, und auf und ähnlich geht es ihnen, man will sie auch nicht halten für was sie sind!«

»Hör du, Junger, mach es nicht zu gut, sonst kriege ich genug«, sagte der, welcher den breitesten Rücken hatte. »Um euere Bildung gebe ich keinen halben Bohnenstecken; wäret ihr gebildet, so wäret ihr nicht so unmanierlich, und an der Freiheit macht die Bildung viel nicht, oder es müßten die alten Schweizer viel gebildeter gewesen sein als man jetzt ist. Aber man liest nirgends, daß die Schulmeister ihnen zur Freiheit verholfen, sondern Hellebarden und Morgensterne, ein gesundes Herz und ein gutes Gewissen. Die sind nicht davongelaufen wie die Lumpenhunde, wenn sie jemand stark angesehen oder von ungefähr ein Schuß losgegangen ist. Aber sie haben auch nicht bloß Rechte gekannt, sondern auch Pflichten, Bürschli, Pflichten, weißt, was das ist? Aber bei der heutigen Aufklärung fehlt das Kapitel von den Pflichten, ihr würdet sonst nicht bloß die halbe Zeit Schule halten und die andere halbe unnütz in der Welt herumlaufen und in der Schule die Kinder nichts lehren, was etwas abträgt. Die alten Schulmeister blieben daheim und saßen über der Bibel, es stände den jungen wohl an, sie täten auch so. Damals ging es besser, und die Leute waren braver.«

Der Schulmeister wollte antworten, aber da einmal das Eis gebrochen war, so drang er nicht durch das mächtige Wort eines starken Mannes. Zur Sache wolle er auch was sagen, er habe sich längst satt gehört am Gebrüll von den Erleichterungen. Ehe die Regierung weniger koste, koste sie mehr, man könne das ja an den unerhörten Löhnen, welche sie sich selbst stipuliert, am besten sehen. Aber so sei es immer, der größte Drache im Fordern sei immer der, welcher am wenigsten könne. »Mit Bodenzinsen und Zehnten gehe man mir! Ob ich das Geld aus dem rechten oder dem linken Sack nehmen muß, kömmt am Ende auf eins, und zahlen ist zahlen, sage man ihm nun Zinsen, Steuern oder Renten, die Hauptsache ist, daß man Geld habe.« Das habe man ehemals gehabt, und wenn man es nötig gehabt, so habe man mit leichter Mühe solches erhalten um billigen Zins. Jetzt solle mal einer in die Stadt gehen und sie auslaufen von zu oberst bis zu unterst und vom Morgen bis am Abend und ihm dann sagen, wieviel er zusammengebracht. Es traue keiner mehr, Geld zu geben; weil man Kinder am Rat hätte, so wisse man nicht, was denen über Nacht in Sinn komme, bloß das wisse man, aus allem, was ihnen in Sinn komme, machten sie flugs ein Gesetz, ließen es drucken, und das Land solle tanzen darnach. Es gebe nun deren genug, denen es einfallen könnte, schuldig sein sei dumm, man müsse das Ding streichen oder die Schulden zum Staatsgut machen, dann hätten die, welche das Geld gegeben, das Nachsehen. Und am Ende gehe doch alles über den Bauern aus. Er könne sein Land nicht auf den Buckel nehmen und fort damit, könne es nicht in Amerika anlegen, und wenn kein Geld mehr sei, so werde Korn und was er zu verkaufen habe nichts gelten, die Steuern aber würden täglich größer, »die kann man steigern, Zehnten und Bodenzinse bleiben sich gleich. Obendrein müssen wir die Armen doch erhalten, totschlagen kann man sie einmal nicht, und was die neuen Herren für Wohltäter sind, hat man erfahren.«

»Das kömmt uns kommod, sonst wäre es wohl schon geschehen«, kam vom Ofen her eine wilde Stimme. »Es ist gut, und ich mag es ihnen von Herzen gönnen, daß die Hagels Bauern mal erfahren, wie es einem tut, wenn man betrogen wird und nichts mehr daran machen kann. Sie hatten es wie die Vögel im Hirse, aber das Sprüchwort sagt, wenn es der Geiß zu wohl ist, so scharret sie. Sonst sind wir die armen Hunde, über die alles ausgeht, die alles abtun müssen, an denen jedermann die Schuhe abwischt, denen es zehnmal schlimmer geht, ehe einmal besser. »Wird das Brot wohlfeil, so macht man uns die Löhne geringer, aber mit den Behausungen, dem Holz schlägt man nicht ab. Von den Käsereien haben die Bauern den größten Nutzen. Es ist mancher um einen Zentner schwerer geworden, seit er ein paar hundert Taler Käsgeld zieht, und was haben wir davon? Die Maß Milch ward ein Pfund leichter, blieb gleich teuer, und wenn wir Milch haben wollen, müssen wir sie erst um Gottes willen betteln, um sechs Kreuzer die Maß. Die Kinder müssen alle Tage in die Schule, verdienen nichts, kein Bauer will sie mehr, und wenn ein reiches Kind was Dummes macht, kriegt das arme Kind die Schläge, denn es vermag dem Schulmeister keine Bratwürste zu bringen oder frisch gebackenes Brot. Werden wir mit einem Bauern oder sonst einem, dem wir gearbeitet, unrichtig, und müssen wir zu einem Rechtsagenten oder Fürsprech, wie man solchen Kosaken jetzt sagt -- ehedem hieß man sie Prokuratoren, aber damals hatten sie noch nicht Schnäuze und Bärte 's ganze Gesicht voll wie jetzt, aber was will man, es stellt was vor und kostet nichts, im Gegenteil, man kann dem Barbier sein täglich Brot abstehlen -- geht man zu einem solchen Heiden und Türken, so macht der einem den Kopf groß, geigt einem auf, daß man glaubt, man gewinne halb Rußland, wenn man einen Prozeß anfange. Man machts; die Sach läuft gut, heißts, und läuft, solang man Geld hat. Ist der letzte Kreuzer raus, patsch, ist die Sach verspielt, und wer der größte Schelm ist, weiß man nicht. Und wenn es jetzt noch aus wäre, so war es eins, aber jetzt fängt das Spiel erst recht an. Jetzt kommen sie hinter einen wie eine Meute Hunde hinter einen Hasen, und da hat man keine Ruhe mehr; ›zahl, zahl, zahl!‹ schreit es einem Tag und Nacht in die Ohren. Will man zu dem Loch aus, so ist es vermacht, sucht man ein ander Loch, so lauert dort so ein Hagel mit einer Büchse, und die Sach hat sich nicht still, bis man eingejagt ist. Oh, es hat mich schon so manchmal gedeucht, wenn ich so einen Saukopf zwischen den Knien hätte wie eine Herrnköchin einen Kapaunen, den Unteufel wollte ich lieb haben, daß er die Hölle für einen Tanzsaal ansehen täte. Und geht man endlich vor die Gemeinde, weil man ausgeplündert ist, die Franzosen konnten es nicht besser, so hocken da ein Dutzend Mannen und gschauen einen lang genug, daß man nicht weiß, sind sie Ölgötzen oder am Speck erworget. Wenn endlich einem das Maul aufgeht, so sagt er einem alle Schande, hält einem alle Schoppen vor, welche man getrunken, und dem Ätti und dem Großätti und Großmutter auch noch, und sieht man doch den Donnern allen an, daß sie ihr Lebtag das Maul auch noch wo anders gehabt als an der Brunnröhre. Wenn einer übel liegt, bettet er gerne anders, das kann ihm niemand übelnehmen. So hatten wir es. Wir dachten, was ändern wäre gut, und böser könnte es nicht kommen. Wenn der Staat die Armen übernehme, alle Herren dazu steuern müßten, wir es gleich hätten wie die armen Bürger in den Städten, Sachen genug, um kein Hudel und Lump zu sein, und die Kinder daheim doch genug zu essen, nicht mehr vor die Bauern müßten, so hätten wir viel gewonnen, könnten uns mal Wohlsein lassen, und wenn auch nicht als ganze, so doch als halbe Herren, ungefähr wie du eins bist, du Hagels Fürsprecherli.

Und du, Schulmeisterli, gerade du hast uns das Maul auch so süß gemacht, hast uns den Honig ins Maul geschlagen wie der Hafner den Lehm in die Ofenkacheln, hast uns gesagt, was wir für Rechte hätten in Feld, Holz und Weid, in Speichern und Kammern. Wir meinten, so müsse es sein, so ein Schulmeister könne nicht lügen. Wir sahen dich nicht bloß für einen halben Herrn an, sondern für ein halb Herrgöttlein, sind dir nachgefahren und ausgefahren mit der alten Regierung wie eine Bäuerin am Jakobstag mit den Mägden, nahmen die Verfassung an zu beiden Händen, es war uns, als wäre es eine Hochzeit und hätten wir Hochzeit mit einer schönen, reichen Frau und künftig alle Tage Fischeli zMittag und Krebseli zNacht, und wußten ein lang Stück nicht, gingen wir auf den Köpfen oder auf den Füßen, und schössen aus allen Büchsen wie die Narren -- noch ganz anders als die Freischärler, welche es aus lauter Angst vergaßen -- als ob der Himmel auf müsse und wir mit beiden Füßen zugleich hinein. Und jetzt, Schulmeisterli, wo sind unsere Rechte? Auf dem Thunersee können wir Erbsen setzen, in den Nebel Korn säen, auf dem Finsteraarhorn holzen und mit den Bären im Bärengraben das Brot teilen, welches man ihnen um Gottes willen hinunterwirft, und um zu sehen, was sie für eine Positur machen, wenn sie auf den Hintern stehen. Und wie steht es mit den Pflichten? Ja, die sind aufgehoben, die Pflicht, die Armen zu erhalten, ist aufgehoben, und woran sind wir gewiesen? An die freie Wohltätigkeit, daß Gott erbarm! Das ist heutzutage akkurat wie wenn ein Bauer, wenn ich ihn um Land bitten würde, damit ich pflanzen könnte, mir das Ziegeldach seiner Scheuer anweisen wollte. Nicht daß es nicht auch gute Leute gebe! Gottlob, es sind deren immer noch, Leute, welche in der Bibellesen und in die Kirche gehen. Aber wenn der neue Glaube aufkömmt, welchen ihr predigt in allen Wirtshäusern und sonstigen Versammlungen, wo kein Teufel und kein Heiland mehr sein soll und kein Himmel und keine Hölle, die Hölle die Kirche ist und der Himmel das Wirtshaus, dann gehe man und suche die Wohltätigkeit, ihr Sackermenter, dann wird man noch gute Leute finden, akkurat wie auf einem Dornbusch Trauben! Wie es gehen wird, kann man alle Tage erfahren, man braucht nur bei euch anzuklopfen. Keiner von euch hat noch einem armen Menschen so viel gegeben, daß es einer Laus im Auge wehtäte. Ja, wenn wir an solche Lumpenbuben kommen müssen, dann erst sind wir arme Teufel. Die Bauern sind, was sie sind, ich will sie nicht besser machen als sie sind, aber frank sage ichs: Respekt vor den Bauern, wenn sie den Verstand kriegten, solch Volk wie du abzuschütteln wie im Sommer die Rosse die Bremsen, wiederum an die Pflichten zu kommen und ein wenig zu schweigen von den Rechten! Oh, wenn nur mir einer winkt von weitem, nur den Finger aufhebt und sagt: ›Jaaggi, willst?‹ in den Holzschuhen beim Hagel springe ich, und der erste, den ich erwische, der muß sich sputen mit Beten, wenn er mit dem Unservater fertig werden will.«

Nun gab es Lärm. Der Schulmeister meinte, für solche Reden zu hören, sei man doch nicht da, und solche Dinge dürfe man sich nicht sagen lassen. Der Fürsprecher sagte, er solle nur ruhig sein, morgen mache er die Anzeige. Die Bauern blieben neutral. Was Jaaggi den beiden gesagt, gönnten sie ihnen von Herzen, und was er ihnen gesagt, das steckten sie hinter die Ohren einstweilen. Die beim Ofen begriffen alsbald diese Neutralität und begannen nun dreistimmig auf die zwei Stempelherren, wie sie ihnen sagten, loszudreschen, wie keine Bürde Stroh je gedroschen worden ist. Ein förmlicher Witzstrom überflutete die zwei neusilbernen Professoren, und den Bauern tat sicherlich noch acht Tage lang der Bauch weh von dem gewaltigen Schütteln, welches sie nicht gerne ganz ans Tageslicht kommen ließen, sondern einen Teil desselben unter dem Tische verarbeiteten. Die beiden Dozenten machten es endlich, wie die besten Truppen es machen, wenn das Geschütz zu stark wird und man keine Zeit mehr zum Laden hat, sie begannen den Rückzug. Wären die Worte Kugeln gewesen, sie hätten beim ersten Worte Reißaus genommen, denn es waren beide Freischärler. Bekannt ist, daß Worte nicht töten, da gibt es in Wortgefechten, sei es in gemeinen Kneipen oder modernen Ratskneipen, viele ausnehmend tapfere Leute und vornehmlich von den beiden Sorten, zu welchen die genannten gehörten. Sie protzten also auf, sagten, wo solche Lumpenkerls, solch roh Pack das große Wort führen könne, da sei ihr Platz nicht, sie möchten nicht, daß am Ende man mit solchem Pack sie zusammenzähle; für gebildete Leute schicke sich solche Gesellschaft nicht. Der Fürsprecher strich den Schnauz, der Schulmeister brachte ängstlich die Brille in Sicherheit. Potz Himmeltürk, was kriegten die für Ladungen, es war ein Kreuzfeuer von Kartätschen, und wenn ihr Ehrgefühl und ihr Herz eins gewesen wären, sie wären hundertmal totgeschossen worden. Nun aber war das Herz kugelfest, das Ehrgefühl aber wie ein grob Sieb, die gröbsten Kugeln, Bomben und Granaten mochten durch. Sie kamen also glücklich mit dem Leben davon. Draußen sagten sie, wenn die verfluchten Ochsen drinnen nicht gewesen wären, die Schelme und Lumpenhunde hätten sie abtrocknen wollen, daß die ganze Haut in Fetzen gegangen wäre, aber denen dicken Hageln hätten sie es nicht zu Gefallen tun mögen, von wegen Bauer sei Bauer und Schelm sei Schelm, und wie nahe die Menschen verwandt seien, stehe ihnen nicht am Rücken geschrieben.

Drinnen aber war ein still Gelächter. Die sechs Dicken warfen sich verständliche Blicke zu. Einer winkte dem Wirt, und die drei an dem Tische beim Ofen hatten volle Gläser. Ein anderer sagte zu Jaaggi: »Hör, wenn du diesen Winter Holz nötig hast, es wäre möglich, daß ich was Abgehendes hätte, aber frage mich wo, mache nicht deinen eigenen Bannwart!« »Danke, das wäre guter Bescheid, aber es macht mich nichts tauber, als daß jeder Lumpenhund uns guten Bescheid gibt, solange er uns braucht, und wir immer die Tatze sein sollen, um die Kastanien aus dem Feuer zu holen; sind sie draußen, so frißt sie der, für den wir es getan, und wir haben nichts als verbrannte Finger. Am allertaubsten macht mich das, daß es schon hundertmal so gegangen ist und beim hundertsten Male wir auf den Dupf die gleichen Kälber sein werden, denn es ist keine dümmere Kreatur auf der ganzen Welt, ein Mooskalb nicht ausgenommen, als die, welche das Beste von unzeitigen und ungegerbten Jungen erwartet statt von unserm Herrgott. Gute Nacht und schlafet wohl, ihr Bauern!« schloß Jaaggi und drückte mit dem Finger den Schwamm auf das kurze Peifchen, »und du, Hanslis Ueli, vergiß mir das Holz nicht, ich besinne mich allweg, zähle darauf, und zeigst du es mir nicht, so nehme ich es selbst«.

Als die Bauern alleine waren, jammerten sie gar bedenklich, und der Wirt bekannte ganz demütiglich, er sei früher auch auf der andern Seite gewesen, ja, er wäre beinahe ein Freischärler geworden, Herrgott, und müßte sich sein Lebtag schämen; denn das halte er nicht für ein glorreich Heimkommen, wenn man käme wie der Seiler Fritz, das heißt wie ein gerupfter Kapaun. Da habe ihm seine Frau die Kinder gebracht, jedes mit einem Bündelchen, und gesagt: »Willst du mutwillig ziehen und denen den Vater entziehen, so nimm sie auch mit, denn ohne dich weiß ich mit ihnen nichts anzufangen.« Das hätte ihn abgehalten, aber nachgetragen habe er es der Frau lange. Jetzt merke er, wie ernst es gewesen, und um was es gegangen. Aber Leute wie er seien blind, hätten ein Brett vor dem Kopf, seien viel zu gutmütig und glaubten jeglichem Spitzbub, besonders wenn er was zu verdienen gebe und allemal zwei Flaschen Vierunddreißger leere, wenn er einkehre. Aber jetzt sei ihm der Star gestochen, es solle ihm mehr so ein Kerl kommen, dem wolle er zünden und ihm jetzt ein Licht anstecken, daß er lange genug dabei sehe. Eine neue Steuer, welche in Aussicht stand, hatte dem Wirt den Star gestochen einstweilen, hatte ihm Angst gemacht um das Vaterland, solange die Steuer in Aussicht stand. Alle jammerten sehr ums Vaterland, weinten fast und sagten: »Du mein Gott, wo soll das aus? Die Hagle sind nicht ruhig, bis wir alle im Unglück sind. Aber in Gottes Namen, was ist, das ist, es wird andern gehen wie uns, man wird sich darein schicken müssen. Man könnte ungesinnet unglücklich werden, es heißt, sie möchten verflucht wenig ertragen, keine Schere ist, die schärfer schert, als wenn der Bettler zum Herrn wird. Am besten ists immer, es sehe jeder zu sich selbst, sei stille, passe auf, wo die Sache aus wolle. Aber in einem Dornhag sind wir abgelegen wie einer, der den Kopf voll Branntwein hat und meint, in welch schön Federbett er sich niederlege.«

Diesem allem hatte Jakob zugehört, ohne sich darein zu mischen. So viel hatte er gelernt, daß man in fremde Verhältnisse hinein nur Dummes schwatze, er gehörte nicht zu dem Stamm der Vogtskinder (nicht zu verwechseln mit den Haimonskindern); so weit war er gekommen, daß er das Besondere und Örtliche auf das Allgemeine übertragen konnte. Er begriff die Ursachen, aus denen die Bewegungen hervorgingen, und erkannte die Personen, welche von und in denselben lebten. Er sah, wie die, um deretwillen man angeblich sich hingab, nichts kriegten als lange Nasen, und wie sie reuig wurden und allgemach zur Erkenntnis kamen. Er sah ein ganz ander Volk als das, auf welches man sich immer berief, und was in der Ferne wie Vaterlandsliebe schimmerte, war in der Nähe schmieriger Sackpatriotismus. Wo er die Flamme der Begeisterung funkeln sah von weitem, sah er in der Nähe einen gähnenden, hungrigen und durstigen Schlund, auf welchem ein Irrlicht tanzte. Kurz, er sah vieles und begriff noch ungeheuer viel mehr, so viel nämlich, daß es ihn dünkte, wenn er noch ein paar solche Abende erleben könnte, so hätte er Hoffnung, einen Zipfel zur Verständnis des eigentlichen Volkes und seiner Stimmung in die Hände zu kriegen.

Der folgende Morgen war schön, aber früh auf war Jakob nicht. Der gestrige Tag war sehr lang gewesen, hatte vieles über ihn gebracht, es ging lange, ehe er sich den Fesseln des Schlafes entwand. Es war Dienstag, Markttag in Bern, lebendig war es auf der Straße durch das Lindental. Obst, Holz, Butter und unzählige andere Dinge, kleine und große, wurden der Stadt zu geschleppt. Zwei, drei Stunden um die Stadt herum gibt es eine Menge Menschen, welche um keinen Preis an einem Markttage fehlen würden, ihnen sind Markttage die Sterne in ihrem Leben. Wir bekennen aufrichtig, die, welche es so haben, ohne daß ein eigentlicher Beruf sie dazu zwingt, halten wir nicht für die Besten im Lande. Wir halten dafür, solche Tage werden gar zu gerne Aderlaßtage für den Geldbeutel, machen Löcher ins Gewissen und verzehren manchmal den rechten Glauben mit Stumpf und Stiel.

Wenn es wimmelt auf der Straße und alle Augenblicke eine freundliche Ansprache mit einem »Guten Tag!« beantwortet werden muß, da ist es mit dem Denken wenig. Die rechten Gedanken haben es wie die Mäuschen, diese spazieren auch nicht in den Zimmern herum, wenn Leute drin sind. Wenn man meint, nun gebe es Ruhe, der Marktstrom sei vorbeigewimmelt, so kommen immer noch welche hinterdrein. Diese rennen und schwitzen, als ob sie fürchteten, das Himmelreich zu versäumen, und gerade diese stören die Gedanken oder ziehen das Denken auf sich. Man muß Betrachtungen anstellen, wie so ängstlich der Mensch ist, wenn er Gefahr läuft, die rechte Marktstunde zu versäumen, wie er springt und schnauft, das Versäumte nachzuholen, und wie gleichgültig er ein versäumt Leben nimmt, und wie langsam und gemächlich er Schritte macht, wenn er sich dem Himmel nähern möchte und sorgen für seiner Seele Heil.

Endlich ward es ruhig und einsam der Weg durch das schmale, wildschöne Tal mit den fleißig bebauten Bergwänden, an denen Häuschen kleben, wo man im Vorbeigehen sich beiseite drückt, weil man fürchten muß, sie kämen kopfüber dem Wandelnden auf den Kopf. Erst jetzt fühlte Jakob so recht mit Bewußtsein seine Lage und faßte sie klar ins Auge. Wie man zur Reformationszeit geteilte Röcke hatte, wo die eine Seite rot war, die andere schwarz oder dunkelblau und weiß usw., so war auch sein Herz zweifarbig gar seltsam. Er trauerte aufrichtig um die gute, treue Kathri, es tat ihm weh, ihre Treue nicht vergelten, ihr Leid nicht in Freude wandeln zu können. Die Heirat mit ihr sollte der Grundstein eines neuen Lebens sein, es schmerzte ihn, daß derselbe fortrollte, als er eben den Fuß auf denselben stellen wollte. Es schmerzte ihn aufrichtig, daß er die Vergangenheit nicht durch die Zukunft sühnen konnte und zwar gerade an dem Wesen, an welchem er sich am meisten versündigt hatte. Er fühlte das Weh, sühnen zu wollen und nicht zu können, fühlte, wie unmöglich es ist, durch ein späteres besseres Leben gutzumachen vergangene Sünden. Den Jammer, welchen man verursacht, kann man nicht ungeschehen machen, gebrochene Herzen nicht heilen, Tote nicht rufen aus den Gräbern. Verzweifeln müßte er, wenn nicht ein anderer wäre, der die zerbrochnen Herzen heilet und auf sich nimmt die vergangenen Schulden und genuggetan hat der strafenden Gerechtigkeit des großen Gottes. Das fühlte er lebendig, und daß er eben ein armer Sünder sei, dem aller Ruhm mangle, der keinen Trost habe als die Hoffnung auf die Gnade dessen, welcher den glimmenden Docht nicht auslöschen will, der kam, das Verlorne zu suchen und selig zu machen. Auf der andern Seite regte sich ein Gefühl in ihm, wie einer es empfindet, wenn eine schwere Bürde ihm von der Achsel gefallen, oder einer, der irgendwie in der Klemme war und frei wird und frisch aufatmet. Dieses Gefühl war keine Freude über Kathris Tod, es drang, möchten wir sagen, auch nicht ein in seine Seele, wandte sich mehr dem Körper zu, goß ihm frische Kraft in die Glieder, gab ihm ein heiteres Wandern, einen Schritt, der munter nach dem Ziele strebte: heim zur Großmutter, heim, zu zeigen, daß Jakob kein Esel mehr sei, sondern ein Meister.

Daß er das Felleisen nicht heimbringen konnte, tat ihm sehr weh. Er war zwar an dessen Verlust nicht eigentlich schuld, er verlumpete es nicht, wie es so viele machen. Doch fühlte er, daß wenn die Großmutter sage: »Jakob, da wärest du wieder ein Esel!« er wenig dagegen sagen könne. Und glaubte sie ihm, glaubte sie, wenn er ihr erzählte, wie ein alter Meister ihn als Sohn geliebt und sein alt, ehrwürdig Felleisen ihm gegeben wie ehedem ein alter Ritter dem Sohne Schild und Schwert?

Wenn man so denkt und sinnt, merkt man nicht, wie viel Weg unter den Füßen verrinnt; darum glaubte Jakob, als plötzlich ein großes Schloß vor seinen Augen stand, er sei bereits in Burgdorf, und doch sah er keine Stadt, dagegen Löcher in Felsen und sogar Fenster vor manchem Loche. Es war das Schloß des alten bösen Peter, des letzten Freiherrn von Thorberg, der lange die Menschen plagte, aber endlich doch zur Einsicht seiner Sünden kam. Wenn man dies von vielen gegenwärtigen Sündern erwarten dürfte, es ließe sich noch manches ertragen. Aber faule Bäume lassen sich nicht pfropfen und zweien, und dürre tragen keine Früchte. Indessen, bei Gott sind alle Dinge möglich. Aber eines tat der böse Freiherr, was die, welche des Nachts das Doppelte verhudeln, was sie des Tages verdienen oder erschinden, nicht tun können, er gab das Gut, um deswillen er Menschen bitter geplagt, es aber nicht verhudelt hatte, den Armen zurück, er stiftete ein Kloster strengen Ordens. Und das Kloster ward Herberge und Trösterin der Armen, und noch heutzutage lebt nach dreihundertfünfzig Jahren mancher Arme wohl an den Klosterspenden, welche fließen aus dem reichen und freiwillig abgetretenen Gute des bösen Peters. Er vermochte auch nicht gutzumachen an denen, deren Herz er gebrochen, aber er bewährte doch den Willen, der es getan hätte, wenn es in seiner Macht gestanden, er fühlte, wie nötig ihm das Beten für Gnade sei. Darum suchte er in vielen die Liebe zu wecken, die da betet für die milde Hand, welche Gaben spendet. Gegenüber sind die bekannten Felsenwohnungen des Lindentales, sie sind armer Leute Schutz und Zufluchtsort. Dort fordert der Hausherr keinen Hauszins, der Hausherr ist Gott. Dazu sind sie noch viel solider als viele Paläste der Neuzeit, es ist noch keine eingefallen, es hat aber auch kein Baumeister sie gebaut, der die Arbeit im Verding und es nötig hatte, an schlechter Arbeit reich zu werden, der Baumeister war Gott. Im Wirtshause erkundigte sich Jakob nach dem Schlosse und vernahm, das Schloß hätte einem Zwingherrn gehört, der ein wüster Hund gegen die Leute gewesen, später sei es ein Kloster geworden, und jetzt seien halb taube Leute da oben, welche nicht ganz ins Narrenhaus gehörten, und sonst noch Leute, von denen man nicht wisse, wohin sie eigentlich gehörten. Von der Bekehrung des bösen Peters und seinen Wohltaten wußte man nichts. Es ist mit dem bösen Namen wie mit den Flecken vom Blute eines Gemordeten, die wischt und reibt man nicht mehr aus, man mag versuchen, was man will.

Eine gute Stunde von da mündete der Weg in die Hauptstraße, es war der erste Punkt, wo Jakob die Straße berührte, auf welcher er hergekommen war. Zwischen jetzt und damals lag ein schön Stück Zeit, lag manch Erlebnis, aber gottlob auch eine Frucht dieser Erlebnisse. Es gibt wohl nichts so unwillkürlich die Vergleichung seines gegenwärtigen Ichs mit seinem ehemaligen an die Hand, als wenn man nach Jahren tagelang dieselbe Straße wandert, welche man vor Jahren gewandert, und zwar alleine. Es fällt einem nicht nur ein, ob man gegangen oder gefahren, Geld im Sack gehabt oder Hunger im Leibe, nicht bloß, wo man eingekehrt oder gebettelt, Äpfel von den Bäumen geschlagen oder von einem Hunde angebissen worden, sondern was man gedacht hat bei diesem Baume, oder als man auf jenem Berge gestanden, oder was man ausgebrütet auf einer ganzen Strecke Weges während eines heißen Nachmittags. Ganze längst begrabene Gedankenreihen stehen auf, als ob sie alte Bekannte grüßen wollten in den Zäunen und Bäumen den Weg entlang. Es ist merkwürdig, welche Kraft alte Bäume, krumme Zaunstecken auf unsere Seele haben, wenn man noch nach Jahren an ihnen vorübergeht. Traurig ists für viele, daß solchen Denkmälern sie nicht mehr entrinnen können, wenn dieselben mahnen an vergangenes Glück, und daß die Herrlichkeit des Menschen sei wie die Blume des Feldes, welche bald verwelket, besonders wenn man selbst der Wurm in der Blume, der Totengräber der eigenen Herrlichkeit war, denken muß: »Damals warst du der und der, so und so gestellt, und jetzt, was bist du? Etwas, das man kaum nennen mag, etwas, an welchem ein honetter Mensch den Stiefel nicht abwischen mag!« Aber auch Freude muß es bringen und eine gewisse Ruhe und Zuversicht, wenn nicht bloß die äußern Verhältnisse sich besser gestellt, die Aussicht in die Zukunft eine andere, sondern wenn man auch innerlich ein anderer geworden, wenn man mit dem Apostel Paulus sagen kann: »Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war gesinnet wie ein Kind und hatte Anschläge wie ein Kind, da ich aber ein Mann war, scharfete ich ab, was kindisch war.« Wer das Zeugnis erhält, daß er das Kindische abgestreift und zu einem Manne gereift, der hat das Zeugnis, daß er ein guter und gesunder Baum ist, an welchem reife und gesunde Früchte sein werden zur Zeit der Ernte, daß er auch für den Himmel reifen, das Stückwerk ihm aufhören, die Rätsel sich auflösen und er erkennen werde, was da ist, gleich wie er selbst erkannt ist. Das sind eigentlich die allein rechten Menschen. Ach, und dagegen gibt es eine Unmasse gleich Brunnen ohne Wasser, Wolken ohne Regen, Bäume ohne Früchte, die ganze Tage schwatzen, aber nichts Weises, die kindischer werden alle Tage.

Jakob fühlte Trost und Zuversicht, als er auf die alte Straße kam und unter den schönen Eichen stand, bei denen seine Nebenstraße sich mündete. Als er nun wirklich Burgdorf mit dem alten, schönen Zähringerschlosse vor sich sah, da fiel es ihm plötzlich ein, wie er das vorige Mal erst den Wegweiser betrachtet, dann sich umgedreht und das Städtchen angesehen hätte, wie damals im Leibe ihm die Galle gekocht und sein Auge gefärbt worden sei, daß er weder das schöne Gelände gesehen noch des Städtchens malerische und doch so behagliche Lage, wie er ob dem Schlosse das kalte Fieber gekriegt und über die reichen Häuser und Matten ein noch kälteres, und wie er gedacht: »Wartet nur, ihr verfluchten Aristokraten und Städter, ihr Finsterlinge und Pfaffenknechte, wartet nur, bis die Stunde schlägt, es losgeht! Und bald geht es los, unter den Füßen brennt euch der Boden, habs selbst gehört! Dann sollt ihr erfahren, wer heute durch euer Städtchen gegangen, ihr habt Augen und habt ihn nicht gesehen. Aber wenn der Jakob wiederkömmt, dann macht der Jakob euch den Verstand, daß euch die Augen nicht bloß auf-, sondern auch übergehen, daß ihr ein ander Mal wißt, wer der Jakob ist!« Das kam ihm jetzt wie kaltes Wasser den Rücken auf, und die Backen wurden ihm rot vor Scham. Erst jetzt fühlte er so recht, wie kindisch er war, und er mußte laut sagen: »O wie dumm! Und so dumm war ich! Aber gottlob, das wäre vorbei; als ich ein Kind war, da dachte ich wie ein Kind. Was würde aus einem Städtchen, wenn ein Rudel Elefanten vom Schlage, wie ich damals war, sich dessen bemächtigten und es unter sich teilten? Das würde eine saubere Wirtschaft geben, und sauber würde es bald mit allen Gewerben aussehen. Im Wirtshause wird nicht geschafft, und wenn alle gleich sind, so sitzen alle im Wirtshause, und wenn alle trinken und niemand schafft, wer Teufel soll am Ende das Trinken schaffen und bezahlen?«

Als die Scham verflogen war, hatte er Freude an dem Orte, wo Geld sei und reiche Leute. Da sei was zu verdienen, an so einem Orte möchte er sich setzen, dachte er, wenn er keine Heimat hätte. Solche Leute seien auch in der Welt herumgekommen, hätten oft mehr Verstand und seien freundlicher mit den Leuten als die geringsten Schreiber und ähnliche Majestäten, welche sich höher dünkten als Salomo und Sokrates, weil sie dürftig lesen könnten, und was sie vor einer halben Stunde gelesen, noch halb wüßten und ausbrüllen könnten, und wenn es endlich nicht anders sein könnte, daß sie müßten die Strümpfe flicken lassen, sie erst in sieben Häuser laufen müßten, ehe sie den Kredit fänden, es auf Borg machen zu lassen. Er hatte einen Unterschied machen gelernt zwischen den Leuten, und er fühlte, daß er wirklich ein Esel gewesen, aber keiner geblieben sei. Und wen würde eine solche Entdeckung nicht glücklich machen? Wir fragen. Ach Gott, und wie vielen wäre ein solch Glück zu gönnen und kommen doch, so gewiß wie zweimal zwei vier machen, ihr Lebtag nicht dazu, daß Gott erbarm!

Anfangs, als noch die Scham auf seinen Wangen brannte, da juckte es ihn, ums Städtchen herumzugehen, damit nicht etwa jemand ihn erkenne und halblaut sage: »Ah, da ist er wieder, der dumme Kerl, der schon mal da war!« Indessen ging er doch ins Städtchen, und niemand achtete sich seiner, und niemand kannte ihn wieder. Von den Burschen, welche er damals gesehen, sah er keinen mehr, so viel er sich ihrer erinnern konnte. Freilich ists mit den Handwerksgesellen fast wie mit den wandernden Störchen oder Dohlen, man sieht sie wegfliegen und herfliegen, aber ob es die gleichen Dohlen sind, die gleichen Störche, wer will das sagen, wenn man nicht ganz besondere Kennzeichen angeheftet hatte? Kühe haben ihre Kennzeichen, verschieden zeichnet sie die Natur, aber Störche sind halt Störche und Dohlen sind Dohlen. An denen, welche er fand, sah er nicht sowohl eine Änderung ihrer Ansichten als ihres Benehmens. Er sah nicht mehr die Zuversicht in die Erfüllung ihrer Träume. Man müsse die Zeit abwarten, hieß es, auch war die Schweiz nicht mehr ihre Hoffnung. Der Schweizer sei zu plump und zu dumm, hieß es, habe man ihn einmal auf die Beine gebracht und durch ein Loch gestoßen, stehe er jenseits, statt in gleicher Richtung fortzustürmen, gelassen wieder still und fresse Käs. Zudem sei er ungeheuer selbstsüchtig. Was errungen werde, stecke er in die eigene Tasche, selbst was unter den Tisch falle, gönne er niemand als seinem eigenen Hund oder einem Bettler, wenn derselbe nämlich ein Mitbürger sei. Sie waren auch viel vorsichtiger in den Reden, und sobald sie merkten, daß Jakob nicht gleichen Sinnes war, klappten sie ab, und Jakob vernahm nichts mehr über den Stand der Dinge. Er sah daraus, daß sie nicht mehr so sicher waren und Hans oben im Dorfe zu sein glaubten, sich mehr ins Geheimnis hüllten, wie jede Partei es tut, wenn sie die Oberhand nicht hat und nicht Kraft genug zu haben glaubt zu offenem Widerstand.

Er versuchte einige vernünftige Worte anzubringen, aber er fand für gut, zu schweigen. Man sah ihn mit gar seltsamen Augen an, man hielt es unter der Würde und allem Verstand, sich mit ihm einzulassen, bloß einige höhnende Worte flogen ihm um den Kopf, welchen vielleicht noch was anderes nachgefolgt wäre, wenn er nicht abgebrochen. Er sah diese junge Weisheit mit ihrem Übermut, welcher jede Einwendung als gräßliche Dummheit gründlich verachtet, keiner Widerlegung würdigt als höchstens mit einigen Schimpfreden oder Faustschlägen, zum ersten Mal sich gegenüber als wie in einem Spiegel. Jetzt sah er, wie ungeheuer widerlich oder lächerlich sie ist, mußte sich aufs neue schämen, daß er einmal auch so gewesen. Er wußte, daß wenn der Mensch dieses junge Weisheitsfieber hat, Zusprechen nichts hilft, so wenig als das Blasen in einen kalten Ofen warm macht. Er machte sich diese Erfahrung zunutz für seine übrige Reise, denn zum Märtyrer fühlte er sich nicht berufen, hatte keine Lust, als ein Abgefallener gerichtet zu werden, welche Gerichte zuweilen blutig ausfallen, wie man Exempel hat. Zum Märtyrertum braucht es eine eigene Kraft, sie ist selten, nicht jeder Jakob hat sie, und wenn er sie nicht hat, nehme man es ihm nicht übel, besonders in diesem Zeitalter, wo die Feigheit wert ist, was vor Zeiten die Tapferkeit! Die bei St. Jakob Entronnenen wurden gebrandmarkt lebenslang, jetzt werden die Entronnenen mit schnellen Beinen die Obersten, doch hoffentlich nicht lebenslang.

Weiter unten fand Jakob den Meister, wo er die Kaffeekanne umgeschlagen und die Frau Meisterin im Bette aufgefahren war, nicht mehr. Die hätten längst ausgehauset, hieß es. Er sei zu seinen Schwiegereltern gezogen und mache dort den Knecht, lebe aber übel dabei, denn von den übrigen Geschwistern sei er verfolget und müsse sich alle Tage vorrechnen lassen, wie viel er schon gekostet, und wie man obendrein ihn noch mit Weib und Kind ernähren müsse. Wenn einst der Schwiegervater sterbe, falle er der Gemeinde zur Last, denn eine Familie ernähren könne der sein Lebtag nicht. So gehe es aber, wenn einer den Meister vorstellen wolle, und verstehe vom Handwerk so wenig als ein Kamel vom Geigen.

So geht es: an unbeschränkter Freiheit gehen die Menschen nicht dutzendweise, sondern zu Tausenden zugrunde! Sag, was würde aus den meisten Studenten werden, wenn keine Examen wären? Wie zum Himmelreich muß zu jedem Stand auf Erden ein eng Loch sein mit schwerem Pfad dazu, wo man alle Kräfte zusammenfassen muß, nicht rechts, nicht links gaffen darf, bis man durch ist. Dann sind Kräfte da, dann ist Gewohnheit da, dann kann man bestehn im Leben, wie man im Examen bestanden ist. Läßt man einen Menschen lümmeln nach Belieben, bleibt er zumeist ein Lümmel sein Leben lang. Anblasen mit sogenannten Ideen kann man wohl einen Menschen, das ist aber eben nichts als blasen in einen kalten Ofen. Will man den Ofen warm haben, muß man einheizen, will man aus einem Jungen keinen Lümmel machen, sondern was Besseres, muß man ihn heizen und beizen in tüchtiger Zucht. Der muß wissen und zwar bestimmt, was er sein muß, wenn er was werden will, denn Zwang und Druck muß sein, wenn das Edle und Gute keimen und wachsen soll im Menschen. Eggt man doch ja auch den Samen ein auf dem Acker, walzt später noch den Acker mit einer schweren steinernen Walze, damit der Same festen, soliden Boden habe und feste und solide Wurzeln schlage. Es nimmt uns wunder, wie lange noch mit der unbedingten persönlichen Freiheit in Schule, Gewerbe, kurz allenthalben experimentiert wird, ehe man zum Verstand kömmt. Scheinen halt trotz aller Bildung und Aufklärung nach und nach zu verdummen -- die Menschen nämlich und die Gebildeten vorzüglich.

In Aarau nahm Jakob Arbeit. Er wollte nicht vom Ersparten zehren, sondern seine Reise sich verdienen und noch hie und da was sehen. Aarau ist ein gar freundlich Städtchen, besonders wenn auch ein freundlicher Geist darin weht. In Aarau war hauptsächlich etwas, was er für sein Leben gerne sehen wollte, das war Vater Zschokke. Er hatte dessen »Meister Jordan« gelesen und zwar mit großer Freude und zwar zur Zeit, als er noch ganz verflucht liberal war und Pfaffen und Aristokraten gerne den Schweinen hätte vorwerfen lassen. Aber so an einem Erbprinzen hatte er doch große Freude gehabt und gedacht, wenn so einer ihm mal eine Börse voll Gold geben täte, wollte er ihm auch Reden halten ganz verflucht und ihm sagen, wie es gehen müsse in der Welt. Dann würde er ihm noch mehr Gold geben, und dann wollte er ein groß Haus bauen lassen wie ein Graf, und wenn der Fürst ihm einen Adelsbrief gebe, so wolle er ihm kurzweg sagen: »Bin von Adel von Natur!« Wenn es dann aber nicht anders sein könne, der Fürst es für des Teufels Gewalt so haben wolle, nun, dann könne man noch immer sehn. Einem guten Herren könne man wohl schon was zu Gefallen tun. Ein Rittergut werde er dann wohl auch geben, und das könne man wohl nehmen dem Fürsten zu Gefallen auf Abrechnung und ein liberal Herz behalten, wenn man schon auswendig von Adel sei. So ein Stern auf der Brust, akkurat so einer wie sie am Himmel stehn, sei eine schöne Geschichte, man möge sagen, was man wolle, wenn man nämlich selbsten einen hätte und dann alle Leute den Hut abzögen und sich beugten und »Gnädiger Herr!« sagten, wenn sie mit einem sprechen täten. So hatte der Jakob viele Freude daran gehabt und viel darüber nachgedacht und diese Gedanken so gleichsam als Dessert und Zuckerzeug zu seinen schrecklich freisinnigen Grundsätzen gehabt, welche solches Zeug schrecklich verachteten einstweilen, das heißt, solange man es nicht selbst hatte.

Er hatte daraufhin noch anderes von Vater Zschokke gelesen, da dessen Schriften in einem Leseverein zufällig Gnade gefunden hatten, und an der Lieblichkeit und Anmut derselben große Freude gehabt, freilich dazu dann immer gesagt, der gute Mann habe Lunte gerochen, aber wo es eigentlich brenne, das wisse er doch nicht. Nützliche Regeln hätte der Alte, hatte ihnen einmal ein behaartes Maul gesagt, aber von Ideen nicht die blasse Idee! Das hatte der gute Jakob so nachgeleiert, aber wenn man ihn gefragt, was für ein Unterschied zwischen Ideen und Regeln sei, ja du mein Gott, da wäre der Ochse am Berge gestanden. Es gibt Leute, ja Professoren, provisorische, ordentliche, ja selbst außerordentliche, welche dies auch nicht könnten, welche eben nichts anders sagen können als sie gehört; und zwar was sie in Leipzig gehört, sagen sie leipzigerisch und was sie in Berlin gehört, berlinerisch und was sie von Schleiermacher gehört, mit schleiermacherischen Gebärden, und anders können sie es nicht sagen. Wenn es ihr Leben kosten sollte, sie brächten es nicht ordentlich berndeutsch zutage. Was also gelehrte, ja sogar provisorische Majestäten nicht können, wie sollte man es von Wanderburschen erwarten?

Nun, den Mann wollte er sehen, der so viel Gutes so angenehm und faßlich zu sagen wußte, daß das Lesen seiner Schriften akkurat war wie das Biertrinken vom besten. Es floß hinunter, man wußte nicht wie, man konnte, wenn man einmal angefangen, gar nicht mehr aufhören. Man zeigte ihm über die Aare hinüber sein Haus, kenntlich durch eine prächtige Trauerweide. Mit großem Respekt betrachtete er das Haus, in welchem solche Sachen geschrieben wurden, und es kam ihm fast wunderlich vor, daß das Haus ungefähr wie ein anderes Haus war und nichts Absonderliches hatte. Nun konnte er zu Hause wohl sagen, er hätte das Haus gesehen, aber wie würden sie erst aufpassen und Respekt vor ihm kriegen, wenn er sagen könnte, er hätte den Mann selbst gesehen! Aber wie machen, um dazu zu kommen? Man zeigte ihm ganz nahe dabei ein ander Haus, welches man Kirschgarten nannte, dort wohne Zschokkes Schwager in einem prächtigen Garten, dort habe man eine prächtige Aussicht, finde gutes Bier und sonst noch was, dort könnte er am leichtesten dazu kommen, ihn zu sehen, besonders wenn schön Wetter sei.

Nun, dort pflanzte sich Jakob auf die Lauer akkurat wie ein Jäger an des Waldes Saum, wenn die Sonne sinkt, der Tau die Blätter feuchtet, harret mit gespannter Büchse auf das arme Häschen, das mit munterm Satze ins Freie setzt, dann stillesitzt, die Ohren spitzt, und wenn nichts Verdächtiges ihm auffällt, lustig tanzt auf freier Wiese, bis die Büchse knallt und den Tod bringt, die Lust verjagt. Nun, eine Büchse hatte Jakob nicht und so Arges nicht im Sinne, aber wie der Jäger kein Auge hat für den Sonnenuntergang, wie prächtig er auch sein mag, so hatte Jakob kein Auge für die Aussicht, wie herrlich sie auch ist. Vor dem, welcher Augen hat, liegt ein großer Teil und zwar der schönste des schönen Gaues der Aare mit seinen prächtigen Feldern und Schlössern, Himmel und Land säumen die großen Berge, die wohlbekannten und ehrenfesten, leider die modernen Wallfahrtsstätten der modernen Welt.

Jakob ging es wie dem Jäger, die Lauer ist nicht immer glücklich. Mehr als einmal mußte er wieder über die Aare, ohne sein Ziel erreicht zu haben. Indessen, nicht nachlassen gewinnt, wie das Sprüchwort sagt. Einmal sah er ihn, den Vater Zschokke, wirklich, wie er leibt und lebt, und ganz in der Nähe, und die Augen gingen dem Jakob noch einmal so weit auf, und den Mund zuzumachen vergaß er ganz und gar. Es war ein großer Mann, sein hohes Alter trug er mit starken Schultern, und »Himmelsapperment, in dem Kopfe hat was Platz!« dachte Jakob. Der Mann kam näher und näher gegen sie heran. »Der wird denken, wir wollen was mit ihm, oder sieht, daß wir Deutsche sind, wird fragen wollen: Wie gehts daheim?« Und ganz bange ward es ihm, und doch schlotterte er vor Freude, dann konnte er daheim sagen, er hätte mit dem Zschokke gesprochen ganz vertraulich, ganz akkurat so, wie zwei Menschen zusammen sprechen. Noch drei Schritte und die Sache war richtig! Da stieß ihn sein Kamerad, der halt von dem Schlage war wie Jakob früher auch, an nichts Interesse nahm, als was ihn angenehm oder unangenehm berührte, heftig an, daß Jakob erschrocken herumfuhr, und als er herum war, faßte ihn der Kamerad beim Arme, zeigte dann auf einen Mann und sagte: »Siehst den dort, das ist ein verfluchter Kerl, ein Hund, den man zu Pulver stoßen sollte!« Unterdessen hatte Vater Zschokke nicht drei, sondern sechs Schritte getan. »Rund vorbei«, hatte es geheißen. Da sagte Jakob bitter: »Was geht mich der Kerl da an? Hast du was mit ihm, so stampfe ihn meinethalb zu Pulver oder sprenge ihn mit Pulver in die Luft, es ist mir Wurst.« »Es geht dich auch an, so gut als mich«, sagte der Kamerad. »Es ist ein Pfaff, hat ein Buch gegen die Deutschen geschrieben, ein ganz verfluchtes, darin macht er die Deutschen runter schrecklich, lästert über die Freiheit und sagt, man sollte alle Freisinnigen bei den Beinen aufhängen zehn Fuß über dem Boden und dann unter sie feuern nur langsam, und das Feuer solle man mit den freisinnigen Büchern anmachen und mit den verfluchten Zeitungen. Das darf so ein Kerl schreiben hier in Aarau. Denk mal, was die Schweizer für dumme Kerls noch sind, daß sie so was noch schreiben lassen! Aber warten die nur! Wenn mal wir Deutsche ans Ruder kommen, wollen wir den Schweizerkühen das Schreiben vertreiben.«

Da sah Jakob eine kühne Gestalt mit einem trotzigen Gange und einem Kopfe, welchen schwer gewesen wäre zu zerstoßen, den man eher hätte brauchen können, um ein Stück Granit in einem Mörser zu zerstoßen. Unwillig frug Jakob: »Wie heißt der Kerl, was für ein Buch hat er geschrieben, und ists ein Deutscher?« »Nein, was denkst, wärs ein Deutscher, der hätte längst den Unterschied zwischen Aarwasser und Salzwasser zu kosten gekriegt. Es ist eine Schweizerkuh, heißt Fröhlich und ist ein Pfaff, sein Buch heißt ›Der deutsche Michel‹. Hab es aber nicht gelesen. Unsere Leute sagen, man dürfe es nicht lesen, es sei gar zu schlecht, und reden solle man gar nicht davon, dieweil es ein wüst Ding sei, ein ganz verfluchtes, und wenn man nicht davon rede, so werde es gar nicht bekannt. Mit Stillschweigen schlage man solch Zeug am besten tot. Drum sage auch niemand, daß ich dir was davon gesagt, aber sieh dir den Kerl noch einmal an, ists nicht ein ganz verfluchter?« »Einstweilen scheint er am Stillschweigen noch nicht ersticken zu wollen«, meinte Jakob. »Warte nur, es wird schon kommen!« antwortete der Kamerad.

Ob die beiden berühmten Männer daran gedacht, daß sie wie auf einer Bühne seien, ein Publikum hätten, welches sie beobachte und kritisiere? Nein, das dachten sie nicht. Gottlob ist rechten Männern das Leben noch keine Schaubühne, auf welcher man so feine Schrittchen, so zierliche Gebärden, so heldenkühne Mienen macht, so zärtliche Töne von sich gibt, als man auf- und anbringen kann, weil man weiß, daß unten in Parterre und Sperrsitzen welche sind, welche das alles auffassen wie Hunde, welche kein eigen Vieh haben, sondern von fremdem leben, von zugeworfenen Brocken, und die, was sie heute zugeworfen erhalten, morgen wieder von sich geben in kritischen Blättern, wo man dann zu lesen kriegt, akkurat wie man geräuspert und ausgespuckt, und was man sonst von sich gegeben. Rechter Männer Wandel ist vor Gott in Ernst und Demut, in Fröhlichkeit und Freundlichkeit nach Zeit und Ort. Rechter Männer Wandel ist kein Affenspiel! Nun hatte Jakob Zschokke gesehen und war glücklich; er suchte jetzt nach dem Buche, dem verfluchten, aber hier war er nicht glücklich, geliehen konnte er es nirgends kriegen, hingegen manch harten Vorwurf, wie er eine solche Schweinerei in die Hände nehmen möge.

Nach einigen Tagen pilgerte er gen Zürich. Als er dort war, ward er reuig, diesen Umweg gemacht zu haben und nicht gerade auf Basel gegangen zu sein. Es war ihm in Zürich alles unbekannt geworden, sein früherer Meister war verschollen, bekannte Wirtschaften waren eingegangen, oder es fanden sich nicht mehr die gleichen Personen darin, nirgends kannte man ihn mehr. Nichts Bekanntes fand er wieder als den Geist unter den Gesellen, der war der gleiche geblieben, eher noch trotziger geworden. Es schien ihm, als werde er da gesteift und genährt, und die armen Teufel seien ganz absonderlich in böser Gewalt.

Vom Gesellenhaus in Hottingen ist es bekanntlich nicht weit bis Neumünster, nur liegt eine unergründliche Kluft dazwischen, über welche viele, viele Beine nie kommen. Jakob hatte die Brücke über diese Kluft gefunden, und traurig gedachte er, als er eines Abends auf dem Kirchhofe zu Neumünster saß, jener Nacht, wo er trunken an die Kirche gepocht um Mitternacht, und wie viel ihm erspart worden wäre, wenn er dem Brandenburger geglaubt und sich von ihm hätte leiten lassen. An einem Haar hatte sein Leben gehangen. Wie wäre es seiner Seele ergangen, wenn damals seine Seele von ihm genommen worden wäre? Er dankte Gott inbrünstig für sein Leben, denn jetzt hoffte er seine Seele gerettet, dankte auch für alle die schweren Erfahrungen, die er überstanden, für die wunderbaren Führungen, durch welche er geläutert worden. Wie ein Rätsel war es ihm, daß er glücklich durch dieselben gekommen, es war ihm, wie es dem Krieger sein muß, wenn er in mörderischer Schlacht im heftigsten Feuer gestanden, in Haufen die Toten um ihn liegen, und er steht da unversehrt, von Kugeln und Klingen verschont. Er dankt Gott für das bewahrte Leben, er trauert um die, denen es genommen ward.

Jakob hatte gar viele zugrunde gehen sehen auf elende Weise durch eigene Schuld, Vater und Mutter erwarten sie umsonst daheim, sie kehren nicht wieder. Hatten so viel auf den Sohn gesetzt, hatten auf seine Rückkehr Hoffnungen gebaut, an seine Aussteuer gedacht, auf seine Hülfe gezählt bei wachsender Altersschwäche, hatten vielleicht schon ein Mädchen für ihn ausgesucht, ein rasches, fleißiges, mit einem schönen Taler Geld zum Anfange, aber er kehrt nimmer wieder. In fremder Erde modern seine Gebeine. Und wie viele kehren nicht zurück, und ihre Gebeine modern noch nicht in der Erde, aber ihre Seele modert, möchten wir sagen, in sündigem Leibe, mag nicht mehr heim, liebt weder Vater noch Mutter mehr, weder Heimat noch Vaterland, liebt nichts mehr als Laster und Sünde. Die Kraft, die in sich schlägt, den Entschluß aus der Seele schlägt: »Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehn!« die ist vertrocknet. Und wie viele kehren heim, und große Freude ist daheim über den Sohn, der wiedergekommen! Die Mutter siedet und bratet, der Vater schickt nach Bier oder Wein, die Geschwister laufen in alle Häuser, bringen die fröhliche Kunde, der Bruder sei heimgekommen aus der Fremde. Aber nach einigen Tagen gehen die Geschwister zerstreut umher, die Mutter weint, der Vater seufzt, schlechten Kram hat der Bruder heimgebracht, einen Halunken, der zu nichts als zu allem Bösen taugt, den guten Bruder, der ausgezogen war, den fraß die Sünde, das wilde Tier. Was heimkehrte, war ein wildes, wüstes Wesen, eine Pein fürs Haus sein Leben lang, ein Herzeleid für Vater und Mutter, solange sie lebten. Konnte er dies Elend nirgends abwenden, nicht wenden diesen und jenen zum Besten, wie er selbst gewendet worden war, nicht so den wahren Dank bezeugen, gewinnen, was der Apostel Jakobus sagt: »Lieben Brüder, so jemand unter euch irren würde von der Wahrheit, und jemand bekehret ihn, der soll wissen, daß, wer einen Sünder bekehret hat von dem Irrtume seines Weges, der wird desselben Seele vom Tode erretten und wird bedecken die Menge der Sünden«?

Jakob fühlte es in seinem Gewissen, er sollte dies versuchen, sollte auf diese Weise die Buße bringen, welche durch Kathris Tod ihm geschenkt worden war. Freundlich ging dazu die Sonne unter, golden glitzerte der See, wunderschön blühte die Erde, einer holden Jungfrau gleich in weißem Brautschmuck, einen goldenen Kranz auf dem Haupte. Offen war sein Herz dieser Herrlichkeit, schlug weich und warm, trank in vollen Zügen aus dem Becher des Friedens und der Versöhnung, und ein freudiger Wille glühte mehr und mehr in ihm auf, an seinen Brüdern zu vergelten, was Gott an ihm getan. Mit Wehmut erinnerte er sich der Zeit, wo er ein vergiftet Gemüt durch die Welt trug, wie er ein Ärgernis genommen an allem Schönen und Guten, böse ward, wenn ein Mensch was Schönes hatte, was Gutes tat, sich ärgerte über jeden schönen Baum, zornig ward, wenn die Sonne schien, weil sie den reichen Bauern das Korn reifte, zornig, wenn es regnete, weil der Regen das Land der reichen Bauern tränkte, zornig über einen schönen Abend, weil die verfluchten Herren und Damen schön geputzt herumflackern könnten, zornig über einen schönen Morgen, weil die verfluchten Bauern die armen Teufel von Knechten wieder plagen könnten auf offenem Felde an heißer Sonne.

Was ein solch vergiftet Gemüt für Leiden bringt, das wußte Jakob aus Erfahrung, das fühlte er doppelt jetzt, wo er in vollen Zügen trank die Herrlichkeit Gottes und die Freude über sein Walten. »Und wie herrlich wärs«, mußte er immer denken, »wenn ich meine armen Brüder heilen könnte von der bösesten aller Krankheiten, von dieser Vergiftung des Gemütes, wo alles, alles bitter und schwarz ist, der Mensch nichts mehr ist als ein großer, wüster, schwarzer Gallensack!« So ein Arzt hätte er werden mögen und für jeden bereiten und ihm eingeben die kostbare Tinktur, welche das Gemüt ausputzt und ihm das Gefühl wiedergibt für Liebe, Güte, Gnade und es zum Frieden führt, der über allen Verstand geht. Er dachte sich das so schön, er war so glücklich im Gedanken, es zu versuchen, es kam ihm so unendlich leicht vor, er glaubte, es brauche da weiter nichts, als zu sagen, wie es ihm im Gemüte sei, daß er sich alsbald aufmachte und Hottingen wieder suchte.

Aber sowie er Neumünster den Rücken kehrte, sank ihm der Mut, bei jedem Schritte kam ihm die Sache schwerer vor; und wie das Abendrot verglühte, erlosch in ihm der Glaube, daß er was über seine armen Brüder vermöchte. Er fühlte, daß dazu eine eigene Kraft notwendig sei, daß das Bekehren einem Anfänger wie ihm nicht gegeben sei. Statt rechts hinauf bog er links hinunter der Stadt zu.

Dort an der schönen, langen Straße der Limmat nach war ein Buchladen und nach üblicher Weise allerlei ausgelegt. Zum Zeitvertreib musterte Jakob Bilder und Titel, und da las er auf einem Buche: »Der deutsche Michel.« »Das mußt du haben!« sagte Jakob alsbald zu sich. Der Michel wird so ein Kerl sein, wie die Großmutter sie nicht leiden mag, so ein Esel wie ich, wie sie meinte, wenn sie sagte: »Jakob, du bist ein Esel und bleibst ein Esel!« Er kaufte das Ding, obgleich ihn das Geld fast reute, und als es sein war, sah er drein, und da reuete ihn das Geld erst, denn er sah lauter Verse, und von diesen war er von je nicht Liebhaber. Aber gekauft ist gekauft, und wenn ein Buchhändler einmal ein Stück Geld zwischen den Fingern hat, gibt er es nicht wieder heraus, es wäre ihm, als ginge Haut und Herz damit. »Na«, dachte Jakob, »habe lange keine Medizin eingenommen, nicht abgeführt, kann es einmal mit den Versen probieren, vielleicht tun sie den gleichen Dienst, doch mit Vorsicht, denn morgen will ich fort, mag da nicht bleiben, mag da nicht Arbeit suchen.«

Bei einem Schoppen Seewein zum Nachtrinken versuchte er die Medizin. Er fand sie aber bald ganz anders als er gedacht, jedenfalls viel kräftiger als die dünne Brühe, welche er nachtrank. Er fand da nicht die gemeinen Esel, wie er gedacht, und wie er auch einer gewesen, er fand da gezeichnet und geschildert mit Worten wie Pfeile und zweischneidende Schwerter eben die Verführer, eben die Apostel der verruchten Lehren, an welchen er so lange krank gelegen, welche sein Gemüt so verödet und verbittert hatten, eben die Blutsauger, welche sich nicht bloß vom Herzblut ihrer Brüder nährten wie die Vampire, sondern vom Verderben der Seelen sich mästeten wie die Hyäne an vergrabenen Körpern. Er fand die gezeichnet, die sich da einschleichen mit süßen Gebärden, die, waren sie einmal eingeschlichen, alsbald einen Packesel, der immer bei ihnen ist gleich als wie bei hausierenden Juden, voll Laster abpacken, um sie eins nach dem andern an Mann zu bringen zu so hohen Preisen als möglich: Schlingel, welche schon der Apostel Paulus kannte, als er redete von Menschen, welche in die Häuser schleichen und die Weiblein gefangen führen, welche da mit Sünden beladen sind, immerdar lernen und nie zur Weisheit kommen, Schlingel, welche das Meer und das Trockene umziehen, Genossen werben, sie zu Kindern der Hölle machen, zweifältig mehr als sie sind, Schlingel, welche kein Haus haben und zum Dank für freundliche Aufnahme dem Gastfreund sein Haus anstecken möchten, Schlingel, welche durch eigene Schuld die Heimat verloren und nun die ganze Welt anstecken möchten, damit niemand mehr eine Heimat habe, zuckersüße Schlingel, welche den Teufel im Leibe haben und derowegen jegliche Rolle spielen können, fromme, gleißende, zärtliche, schlüpfrige, bramarbasierende, musikalische, brummbärliche, kühne, schleichende, kurz jegliche Teufelsrolle, welche erdacht werden mag, sogar gelehrte, ja sogar neuhegelische zu spielen vermögen.

Jakob kannte sie wohl, diese Bursche, und was sie verübten an dem armen Volke, und lange dünkte ihm, das Büchlein sei wahr, der Schnupftabak darin nicht zu scharf, aber den rechten Titel trüge es nicht, das seien keine Micheln, die seien mehr als Micheln. Wie er aber so recht darüber nachdachte, kam es ihm doch vor, der Titel könnte recht sein, und all dieses Gesindel sei doch nichts als Micheln, und die Großmutter würde auch zu ihnen sagen: »Ihr seid Eseln und bleibet Eseln!« hohle Leute, die, wie man Gänse ausstopft mit allerlei Zeug, daß sie eine große Leber kriegen und tapfer saufen mögen, man so mit allerlei Ideen stopfte aus Frankreich, daß sie auch eine große Leber kriegten und der Durst sie trieb von einem Land in das andere Land. Sie merkten nicht, woher sie diese Ideen hatten, meinten wahrscheinlich, sie hätten sie selbst erdacht oder geträumt; viele sagen, sie hätten sie mit der Muttermilch eingesogen, so dumm sind sie, merken nicht, wie dumm diese Ideen sind und gar nicht zu gebrauchen in der Welt oder, wenn man sie einmal einführen wollte in der Welt, das Eingericht nicht so lange hielte als das allerschlechteste Baumwollenzeug, welches bekanntlich oft auseinanderfährt, wenn der Mond darauf scheinet, geschweige daß es die Sonne ertragen möchte. Liefen mit diesen angestopften Ideen in der Welt herum, klapperten damit wie die Klapperschlangen mit dem Schwanze und merkten nicht, die dummen Micheln, welch Unheil sie anrichteten, wie sie sich nicht bloß verdächtig machten wie krätzige Leute, sondern sich selbst ums tägliche Brot, für welches sie nicht mehr beten wollen, predigten. Wohl, wenn er recht nachdachte, so waren es wirklich Micheln und zwar von der dümmern Sorte, Franzosenaffen, welsche Papageis, welche erlernte Sprüche nachplapperten, ihre Gesichter fremdländisch zuschnitten und da herumliefen, sich für Deutsche ausgaben, für die wahren, echten Deutschen, und von wegen was? Von wegen dem welschen Gesicht und Franzosentum, welches sie im Leibe hatten und zuweilen auch am Leibe, Michel, welche, sobald ein anderer Blasbalg angesetzt wird und eine andere Hand ihre Leber stopft, alsbald pfeifen auf einem andern Loch, versteht sich immer grundsätzlich und mit Gesinnung, ja Michel, welche sogar zu Judenaffen wurden, von Juden sich Schwernot und Fleischeslust in den Leib blasen lassen und damit in der Welt herumlaufen unter Heulen und Zähneklappern, in Fressen und Saufen, an Zweckessen und mit Fackelzügen.

So dachte Jakob und machte sich am folgenden Morgen auf den Weg nach Basel. Er hätte kürzer gehen können, aber es stach ihn, seinem Meister, dem Ratsherrn, der nur den Lümmel gekannt hatte, den wahren Jakob zu zeigen.

Auf diesem Wege stand er viel Elend aus der Erinnerungen halber, welche sich ihm allenthalben aufdrangen. Es beelendete ihn recht eigentlich, wenn er immer und immer wieder denken mußte: »Hier hast du den Lümmel gemacht und hier und hier und hier«, immer und immer wieder Gott danken mußte, daß man ihn nirgends wiedererkannte, und immer und immer an das üppige, frevelhafte Fechten und Betteln denken mußte, und wie unser Herrgott es ihm eingetrieben, als er so bitter im Elend war, so schwere Not ausstand und Türen und Herzen ihm verschlossen waren. Ja, das ist eine eigene Sache, so sich selbst nachzugehen wie ein Hund seinem Herrn und die Türen zu riechen, in welche man eingetreten. Es sollte dies jeder von Zeit zu Zeit machen, es würde mancher der eigenen Nase zulieb anders tun. Doch heimelte es ihn zuweilen, er genoß es aber im stillen, suchte keinen alten Bekannten, um Erinnerungen aufzufrischen, und keiner lief ihm an die Nase. Es war ihm, als ob er im wirklichen Pilgerland sei, wo niemand eine bleibende Stätte hat, sondern nach der Hirten Weise hin- und herzieht und bald hier, bald dort sich niederläßt, wo die Weide gut, ein guter Trunk zu finden ist.

Von Rheinfelden weg bis zum Rotenhause rechnete er, aber eine ganz kuriose Rechnung. Er rechnete und verglich, was er damals gedacht, geschwatzt, gehofft, und was er erfahren, und was er mitbrachte, dies stellte er zusammen und versuchte, die Bilanz zu machen. Damals hatte er nichts und ungeheuer viel. Er hatte nämlich nebst ungeheuer viel Gesinnung die Ansicht, die Welt sei ein Eierkuchen, welcher eben in der Pfanne gargekocht und von welchem er ein prächtig Stück abkriegen werde, dieweil er zunächst am Anrichtloch stehe. Daneben war er eigentlich noch ein Lümmel, indessen im entschiedenen Fortschritt begriffen und zwar so gewaltig, daß ihn selbst seine Stiefel nicht mehr trugen, sondern am linken Fuß vornen geplatzt waren. Damals war es ein schöner Abend, aber weil denselben der Herrgott gemacht hatte, ästimierte er ihn gar nicht. Damals hatte er ihn noch nicht abgeschafft, den großen Gott, aber was derselbe tat, nahm er hin, als hätte derselbe bloß seine Schuldigkeit getan und noch schlecht dazu. Entweder achtete er sich desselben nicht, oder er fluchte darüber wie ein Muttersöhnchen, dem seine zärtliche Mutter nichts mehr recht machen kann, ihr den schönsten Braten, welchen sie ihm auftischt, als ein schlechtes Hundefressen hinter die Türe wirft. Ferner besaß er eine ungeheure Liberalität, wünschte daneben allen die Schwernot an den Hals, welche besaßen, wonach ihn gelüstete, welche auch von dem Eierkuchen wollten, an den er die Hauptansprache zu haben glaubte.

Nun waren die Träume dahin, goldenes Abendrot säumte den Himmel nicht, keine Nebel schwebten an den Hügeln, es war ein heller, klarer Morgen, wo jegliches Vöglein heller singt, jeder Blutstropfen schneller springt. Neid und Haß waren verschwunden, hinter ihm lag eine trübe Zeit. Aber wie nach einem Präriebrande junges Gras sproßt, die Wüste am schönsten wird, so blühte ihm aus der trüben Zeit herauf die Fülle von Erfahrungen, dazu hatte er Geld im Sack, Hoffnung, gegründet nicht auf Staub, sondern durch das Bewußtsein eigener Tüchtigkeit, in der Seele, und was die Hauptsache war, einen Gott im Herzen und zwar den rechten. Wohlgemut wanderte er in den schönen Morgen hinein, er trug reiche Beute dem Rheine zu und das Bewußtsein in sich, daß seine Wanderjahre nicht verschwendet waren, daß der Herr ihn wohl an die Hölle geführt, aber auch wiederum heraus.

Beim Rotenhause erlabte er sich an einer Flasche Mönchensteiner, schritt dann rasch durch die Baslerhard. Es war ein eigener Zug, der ihm rasche Beine machte. Er wußte nicht, war es die deutsche Luft über den Rhein her, welche ihn zog unwillkürlich, das Sehnen nach der Heimat anblies in seinem Herzen zu stärkern Flammen, war es bloß Neugierde, Basel wiederzusehen und zu vergleichen den Eindruck, welchen Basel ihm beim Eingang machte, mit dem, welchen er beim Ausgang empfing. Jetzt wußte er, daß die Schweiz nicht wie eine große Bratwurst oder ein dicker Eiszapfen vom Himmel hängt, daß sie ein schönes Land ist, voll der Herrlichkeit Gottes, aber auch mit dem Stempel der Sünde gezeichnet, voll Aufbegehrens statt voll Demut, voll Ungenügens statt voll Dankes, voll Streit um nichts statt voll Frieden um Gottes und des Heilands willen, ein Land wie ein anderes, daß man darin des Teufels oder ein Kind Gottes werden kann, je nachdem die Geister sind, unter die man fällt.


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