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Am vierten Morgen flaute der Wind ab. Der Seeanker wurde gekappt und an beiden Masten Segel gesetzt. Vollen Dampf auf den Maschinen, arbeitete sich der ›Erik‹ mit gut fünfzehn Knoten nach Norden.
Eines Morgens erwachte Rudd aus tiefem Schlaf mit dem Gefühl, daß mit dem Schiff etwas nicht in Ordnung sei. Eine Minute lag er still da und suchte zu erfassen, woher dieser sonderbare Eindruck von Gefahr käme. Alles war ruhig. Kein Laut oben, der auf besondere Bewegungen schließen ließ. Außerstande, seine Unruhe länger zu bemeistern, fuhr er in Hose und Lederrock. Auf Deck wurde ihm mit einem Male klar, was eigentlich so beunruhigend wirkte. Nach zehntägigem Stampfen und Arbeiten lag das Schiff jetzt ganz wagerecht auf dem Wasser.
»Sollten wir in ein Binnenwasser eingefahren sein?« dachte Rudd, während er hastig zur Brücke hinaufkletterte. Als er auf der letzten Leitersprosse stand, hörte er einen langgezogenen Ruf aus dem Faß am Fockmast. Es war der Ausguck.
»Hart Ste–e–euerbord, Sir!«
Ein Schauer lief über Rudds Rücken. Da ging etwas vor. Noch wußte er nicht genau, was.
Das Rad wirbelte herum, und der ›Erik‹ fiel so schnell ab, daß er sich um sich selbst zu drehen schien.
Ein Geräusch, wie wenn Hunderte von Seevögeln schnatterten, brach plötzlich vor dem Schiff aus dem rauchigen Nebel.
»Volldampf zurück!« heulte Normann, der das Deck hatte. Ein Steuermannsmaat riß den Maschinentelegraphen mit einem Ruck zurück, der den Apparat fast demoliert hätte.
Und dann lernte Rudd, was es heißt: zu Tode erschrecken. Zuerst dachte er, ein Ozeandampfer führe auf sie los. Aber sofort wurde er sich bewußt, daß sie in diesen verlassenen Gewässern unmöglich auf ein Schiff stoßen könnten. Der ›Erik‹ war schon tausend Meilen nördlich von allen Fahrstraßen. Ein grauer Berg tauchte dunkel vor ihm auf. Von so ungeheuren Ausmaßen war er, daß das Schiff in die Dämmerung eines landgeschützten Hafens geglitten zu sein schien.
»Gib ihr, was du hast!« brüllte Normann durch das Sprachrohr hinunter.
Hätte er noch eine Sekunde gezögert, es wäre zu spät gewesen. Kaum hatte sein Manöver den ›Erik‹ klar gemacht und ihm freie Rückwärtsfahrt geschaffen, als ein Grollen wie Aprildonner den Berg erschütterte. Dann ein Krachen und Knirschen – es hörte sich an, als ob ein Ungeheuer sich losgerissen hätte und in seiner Wut hausgroße Felsblöcke losbräche und ins Meer schleuderte. Schäumend wirbelte das Wasser um das Schiff, das von eigenartig zerfetzten Wellen gerüttelt und geschüttelt wurde.
Versteinert stand Rudd da.
Plötzlich riß das Sonnenlicht sich eine Spalte in den Nebel. Einige Luftstöße kräuselten das Wasser, bald kam mehr Bewegung in die Luft, und in wenigen Sekunden war wie von unsichtbarer Hand die schwere Dunsthülle von der Wasserfläche gezogen.
Vor seinen Augen breitete sich in endloser Weite funkelnd blaues Wasser, übersät mit Tausenden glitzernder weißer Eisschollen.
»Kann das Eis nicht ein Loch in die Bordwand schneiden?« fragte Rudd Dr. Barlow, der gerade vorbeiging.
»Auf keinen Fall. Wir haben Doppelbehäutung und darüber noch einen Metallpanzer; das sichert uns vollkommen gegen diese Gefahr.«
Rudd fuhr fort, das prachtvolle Panorama zu bewundern, bis er aus der Kabinenluke eine Gestalt wanken sah, in der er Caverly erkannte, der anscheinend jetzt soweit war, um die Reise ein wenig genießen zu können. Freundlich ging Rudd hinunter, ihn zu begrüßen.
»Großartige Sache!« rief er, mit einer Kopfbewegung auf den großen Berg hinten weisend.
Caverly sah seinen Schiffskameraden kühl an, ohne den Berg auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Wir haben mit knapper Not einen Zusammenstoß vermieden,« fuhr Rudd fort, einigermaßen verwirrt durch die Ungezogenheit des anderen.
»So?« sagte der grünsichtige Caverly. »Hm.«
Rudd sah, innerlich erheitert, diesem komischen Kauz nach, der nach vorne zum Fockmast vorschlenkerte; dort stand Menon an der Reling und gab Anweisungen zum Stauen einer Grundtalje. Als die Leute ihre Arbeit getan und sich entfernt hatten, machte Caverly sich an den ersten Offizier heran und nahm ihn beim Arm. Sie wechselten ein paar Worte, die Rudd nicht verstehen konnte. Aber das merkwürdig freundschaftliche Gebaren der beiden, im Verein mit dem, was er von dem unangenehmen Herrn Menon schon gesehen hatte, brachte ihn zu dem Entschluß, unverzüglich Dr. Barlow aufzusuchen und ihm über das Gespräch, das er kurz vor dem Einsetzen des Sturmes belauscht hatte, genau Bericht zu erstatten.
Dr. Barlow klopfte Rudd beschwichtigend auf die Schulter. »Hören Sie mal, mein Lieber, phantasieren Sie da nicht einen Roman zusammen. Die Leute, die wir an Bord haben, sind ausgesuchtes Material. Sie sind gut bezahlt und gut beköstigt. Sie haben alle Ursache, zufrieden zu sein. Machen wir uns also keine Sorgen, weil wir einen seekranken Schwächling unter uns haben, und einen Burschen, der wie ein Seeräuber aussieht.«
Rudd wollte das nicht recht einleuchten. »Vielleicht haben Sie recht, Doktor,« sagte er unsicher. »Aber – na, ich weiß nicht.«
Er sollte es früher wissen, als er dachte.