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8. Bären!

Wenn man körperlich völlig erschöpft ist, hat man seine Nerven nicht in der Gewalt, wie in normalem Zustand. Rudds Enttäuschung, als er das Schiff nicht vorfand, wo es die Rückkehr des ›Polarstern‹ hätte abwarten sollen, war fast schon Verzweiflung. Tränen stiegen ihm in die vom Wind ausgetrockneten Augen. An Stelle der Hoffnung, die ihn den ganzen langen Marsch über aufrecht erhalten hatte, trat eine niederschmetternde Mutlosigkeit, die seine Müdigkeit verhundertfachte.

»Was sollen wir tun?« fragte er Boggs, der sich endlich zu ihm geschleppt hatte und nun sprachlos neben ihm stand.

»Tun?« echote Boggs leer. »Gar nichts können wir tun. Ich bin erledigt. Kann keinen Schritt mehr gehen, und wenn ich krepieren muß.«

Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich hab' das schon die ganze Zeit erwartet. 's ist genau, wie Mr. Menons Plan war: uns los werden und dann mit dem Schiff abhauen. Noch eine Woche, und wir sind verreckt.«

»Ach, hören Sie auf damit,« sagte Rudd wütend. »Wollen Sie sich hier niederlegen und sterben, ohne einen Finger zu rühren?«

Er machte sich daran, ein Lager aufzuschlagen, so gut es mit den paar Sachen ging, die sie mitgebracht hatten. Er stellte den kleinen Primuskocher, der Petroleum brannte, auf und füllte den Topf mit Süßwassereisbrocken für Tee. Dann breitete er das einzige Stück Segelleinwand, das sie hatten, auf einer schneefreien Stelle aus und machte aus einer Decke eine Art Windschutz gegen den leichten, aber eisigen Luftzug, der vom Norden herunterkam.

»Ich klettere jetzt irgendwo hinauf, um zu sehen, ob ich nicht das Schiff finden kann. Ich möchte wetten, daß es da gleich hinter der Ecke liegt.«

Boggs' einzige Antwort war, daß er sich mit einem tiefen Seufzer niederwarf und die Augen schloß, als sollte es für immer sein.

Schon die ersten Schritte zur nächsten Erhöhung lehrten Rudd, wie schlimm es mit ihm selbst bestellt war. Alle Gelenke schmerzten ihm, und seine Füße waren von dem langen Gehen in durchnäßtem Schuhzeug wund und mit Blasen bedeckt.

Vom Gipfel hatte er einen sehr guten Ausblick auf die beiden Küsten im Norden und im Süden. See und Land lagen in buntem Panorama zu seinen Füßen.

Er hatte einen kleinen Feldstecher bei sich. Ringsum war nichts zu sehen, auch nichts, woraus auf einen Schiffbruch hätte geschlossen werden können.

»Na, ich will mal auf den Ankerplatz hinunterschauen,« murmelte er. »Vielleicht waren sie wenigstens so anständig, uns ein bißchen Proviant da zu lassen.«

Er richtete sein Glas auf einen Punkt des Strandes, wo ein paar Mann am Tage der Ankunft eine kleine Schmiede errichtet hatten. Außer einigen dunklen Flecken an der Stelle, die der Feuerplatz eingenommen hatte, verriet nichts, daß je Menschen dort gewesen waren.

»Was in drei ...?«

Rudd lief es kalt über den Rücken. Am Strand hatte sich etwas bewegt. Zuerst war es wie ein kleines Stückchen schmutziges Eis, das langsam ins Meer gleitet. Dann hatte es das Aussehen eines Gespenstes angenommen. Aber Gespenster treiben sich nicht mitten am Tage an den kalten arktischen Küsten herum.

» Bären!«

Rudds freudige Erregung wich bald einem Gefühl der Enttäuschung, als ihm zum Bewußtsein kam, wie schlecht er bewaffnet war. Seine und Boggs einzige Waffe war eine kleinkalibrige Repetierpistole, die sie nur mitgenommen hatten, um nötigenfalls Wölfe abwehren zu können. Kapitän Pike hatte erklärt, daß man hier um diese Jahreszeit nicht auf Bären stoßen würde.

Rudd nahm die kleine Waffe aus dem Halfter. Das Magazin war voll, und zwanzig Schuß hatte er noch im Gürtel.

Zu allererst mußte Boggs gewarnt werden. Wenn der arme Bursche beim Aufwachen das triefende Maul eines ausgewachsenen Eisbären über sich sah, würde der Schrecken ihn wahrscheinlich töten. Rudd mußte unwillkürlich lachen, als er sich diese Szene ausmalte.

Fast die ganze Strecke zurück lief er. Die Gefahr gab ihm Kräfte. Auch konnte der Wind jede Minute umschlagen und den Bären von ihnen Witterung geben.

Zu seinem Entsetzen fand Rudd das Lager leer. Laut nach Boggs zu rufen wagte er nicht. Die Bären hätten ihn hören können. Daß der Heizer das Lager Hals über Kopf verlassen hatte, erkannte Rudd an dem Primus, der vom überkochenden Teewasser ausgelöscht worden war. Dann sah er im Schnee Fußspuren, die direkt zum Strand hinunterführten. Die ungewöhnliche Entfernung zwischen den einzelnen Abdrücken zeigte, daß Boggs sehr schnell gelaufen war. Er war allein und ohne Waffe!

»Der arme Kerl!« rief Rudd aus. »Ist er verrückt geworden?« Nicht ein Augenblick war zu verlieren.

Geduckt lief er gegen den Wind, bis er atemlos und mit klopfendem Herzen hinter dem Felsen in Lee war. Die Anstrengung hatte seinen ganzen Körper so mitgenommen, daß er Minuten brauchte, bis er wieder Kraft genug gesammelt hatte, um aufstehen zu können. Das brummende Schnauben, das er ganz nahe hörte, bewies ihm, daß die Bären sein Kommen noch nicht bemerkt hatten.

Dann, ganz unvermittelt, gellte ein furchtbarer Schrei auf. Sein Herz setzte mindestens fünf Sekunden lang zu schlagen aus, und er konnte fühlen, wie sich sein Haar am Rücken dicht unter dem Hals gegen sein Hemd sträubte.

»Halt!« schrillte eine Stimme. »Halt, sag' ich, oder ich ...« der Protest brach in einen zweiten Wehschrei ab, der das Blut erstarren machte.

Während Rudd auf den Felsen kroch, um die Bären wieder zu Gesicht zu bekommen, stellte er sich den hilflosen Boggs von mindestens einem Dutzend wütender Tiere Glied für Glied zerrissen vor. Er hatte sich dieses Gemetzel so schrecklich ausgemalt, daß er kaum seinen Augen trauen wollte, als er über den Rand des Blocks schaute.

Vor Boggs, keine zehn Yards von ihm, stand ein riesiges Eisbärenweibchen. An jeder Seite hatte sie ein halbwüchsiges Junges. Die Bärin hatte den langen Hals dem vor Furcht halb wahnsinnigen Boggs entgegengestreckt und schnüffelte laut, als wollte sie untersuchen, was für eine sonderbare Art Lebewesen es eigentlich wäre, das diese merkwürdigen Laute ausstieß.

»Halt! Nicht! Du – du – ich schlag dich tot!« krächzte Boggs in ohnmächtigem Schrecken.

Rudd wagte nicht, seinem Kameraden zuzurufen, wie nahe die Hilfe war, weil er die Aufmerksamkeit des Tieres abzulenken fürchtete. Wenn es nahe genug kam, hatte Rudd eine Möglichkeit, es trotz des kleinen Kalibers seiner Waffe zu töten.

Langsam zögernd kam das Tier näher. Die Jungen, ebenfalls laut schnüffelnd, gingen vorsichtig hinter der Mutter her. Als sie keine zehn Fuß mehr von dem Abhang war, wurde Boggs Angst hysterisch. Seine Schreie gellten schauerlich. Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und machte einen Schritt auf die Bärin zu. Dieses Zeichen von Feindseligkeiten brachte sie in Wut. Sie stellte sich auf die Hinterbeine und stieß ein so donnerndes Brüllen aus, daß die Erde zu beben schien. Zehn Fuß hoch bewegte sie ihre wuchtigen Tatzen über dem unglücklichen Boggs, auf eine Weise, die deutlicher als Worte sagte: »Paß auf, du Krüppel! Jetzt erledige ich dich mit einem Hieb!«

Jetzt war der Augenblick für Rudd gekommen. Vorsichtig hob er seine Pistole, stützte sie auf den Stein, zielte sorgfältig auf das Herz des Tieres und drückte ab. Augenblicklich faßte die Bärin sich auf die Brust. Dann stöhnte sie kehlig, wankte und fiel mit einem dumpfen Ton tot zurück. Die beiden Jungen bekümmerten sich nicht lange um das Schicksal ihrer Mutter; in rasender Geschwindigkeit liefen sie den Strand entlang und verschwanden in ihren kleinen Festungen jenseits der kahlen Hügel. Boggs stand regungslos. Ihm erschien es, als wäre ein Blitz vom Himmel herniedergefahren und hätte das wilde Tier erschlagen, das ihn einen Augenblick vorher noch bei lebendigem Leibe hatte auffressen wollen. Er hatte den Ausdruck eines Menschen, der aus schwerem Alpdrücken erwacht ist.

»Ganz netter Schuß, was?« lachte Rudd von oben.

Boggs drehte sich um; zu Rudds Staunen war sein Gesicht mit etwas beschmiert, was wie Melasse aussah. Noch seltsamer als das, er sagte kein Wort über den Bären, sondern wies zitternd auf den Strand unten und jammerte: »Schauen Sie, was sie uns dagelassen haben – schauen Sie – vom ›Erik‹ – schauen Sie!«

Da sah Rudd, noch halb begraben unter der weißen Schneedecke, die Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen.


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