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23. Ein verzweifeltes Wagnis

Der ›Erik‹ war verlassen worden. Diese Überraschung schien die fünf, die ihn geentert hatten, vor den Kopf geschlagen zu haben. Sie waren so auf irgendeinen Widerstand, sogar eine Schlacht gefaßt gewesen, daß die Todesstille auf dem Schiff in ihnen ein Gefühl von Unwirklichkeit auslöste – als wäre das Ganze ein böser Traum, aus dem sie bald erwachen müßten.

Dr. Barlow fand als erster sein Gleichgewicht wieder. »Wir haben unverzüglich zwei Aufgaben zu erfüllen,« sagte er. »Erstens müssen wir die Umstände erforschen, unter denen das Schiff verlassen worden ist, und ebenso die Gründe dafür. Zweitens, und das ist von allergrößter Wichtigkeit, müssen wir alles tun, um es in Sicherheit zu bringen.«

Normann sagte: »Wir können ihn bestimmt unter Segel bringen. Und wenn wir ihn in den ›Erik‹-Hafen gebracht haben, ist er dort über den Winter in Sicherheit.«

Eine Stunde lang dauerte diese Untersuchung und Inspektion. Ein Trupp Pinkerton-Detektive hätte die Arbeit nicht besser und gründlicher machen können. Und obgleich keiner in dieser Nacht auch nur ein Auge zugetan hatte, war es wohl das erstemal seit seiner Übernahme, daß der alte ›Erik‹ sich eine so genaue Inspizierung gefallen lassen mußte. Die Neugier eines jeden, vom Kapitän bis zum Heizer, auf die Lösung dieses außerordentlichen Rätsels war zu groß.

Das nächste war eine genaue Untersuchung des Schiffes. Alle verteilten sich. In der Kajüte versammelten sie sich wieder, um zu berichten.

Der Doktor wandte sich an Rudd. »Wie sieht's in den Quartieren aus?«

Rudd hielt die leeren Handflächen nach oben. »Nichts, Doktor, nicht eine Spur, aus der man auf etwas schließen könnte. – Aus ein paar Kojen fehlen die Decken, aber die Matratzen sind an ihrem Platz, ebenso die Säcke. Unbegreiflich, weshalb die Leute nicht wenigstens ihre Kleider mitgenommen haben.«

»Ja,« sagte Normann. »Sogar bei einem Schiffbruch sucht der Matrose sein Zeug zu retten. Ich habe den Eindruck, daß die Burschen nicht freiwillig gegangen sind, sondern sozusagen über Bord geworfen werden mußten.«

»Wie sieht es sonst aus?« fragte der Doktor weiter.

»Verdammt dreckig,« sagte wütend der Skipper.

»Ja, Kapitän, das schon,« lachte Rudd, »im Vergleich zu dem spiegelblanken Zustand, in dem Sie es immer hielten. Wenn die Disziplin auf einem Schiff nachläßt, dauert's nicht lange, bis das Deck verkommt.«

Dr. Barlow erklärte mit feierlicher Miene: »Da haben wir also wieder eines jener Rätsel des Meeres. Schon manches Schiff ist in genau demselben Zustand gefunden worden wie der ›Erik‹ – völlig verlassen und ohne jede ersichtliche Ursache, sogar mit dem Essen auf den Tischen. Es ist keineswegs sicher, daß das Geheimnis des ›Erik‹ einmal ergründet wird, aber ich sollte mich gar nicht wundern, wenn es doch der Fall wäre.«

»Was schlagen Sie vor, Kapitän?« fragte Rudd.

»Das Schiff in den ›Erik‹-Hafen schaffen,« war die Antwort.

»Ist genug Brennstoff da?« fragte Rudd.

»Natürlich,« rief Barlow. »Wir hatten bei der Ausfahrt an die zehntausend Gallonen im Vorderrumpf.«

Jetzt meldete der Skipper sich wieder. »Haben Sie den Kistenstapel auf der Brücke gesehen, den wir zuerst für einen Windschutz für den Steuermann gehalten haben? Das waren Kisten von Petroleumkanistern. Und wenn die nicht leer gemacht worden sind, will ich nicht mehr Kapitän sein.«

Rudd raste die Leiter hinauf. Auf der Brücke nahm er eine Kiste vom Stapel. Voll mußte sie über siebzig Pfund wiegen.

»Es ist wahr,« schrie Rudd wütend. Die Kiste legte sich ihm in die Arme, als wäre sie voll Federn. Er probierte die anderen. Alle waren leer. Als sich das herausgestellt hatte, wurde sofort im Schiffraum nachgesucht. Alle Kisten waren verschwunden.

»Ich begreife jetzt,« rief Normann. »Als sie wußten, daß ich den ›Polarstern‹ genommen habe, wollte Menon mir nicht die Möglichkeit lassen, zurückzufahren und Brennstoff einzunehmen.«

Der Doktor sagte nachdenklich: »Damit haben wir einen schlüssigen Beweis dafür, daß die Desertion geplant und wohl vorbereitet war.«

Boggs kam mit der angenehmen Nachricht herein, daß der Wind sich gedreht habe und man das Schiff unter Segel in den Hafen bringen könne.

»Dann müssen wir aber schnell machen,« riet der Skipper. »Der Wind bedeutet einen Wetterwechsel.«

Sofort machten sich alle an die Arbeit. Da die Hilfsmaschine nicht unter Dampf war, mußten die Segel mit der Hand gehißt werden, was ziemlich schwer war und längere Zeit in Anspruch nahm. Es wurde sieben Uhr, bis das ganze Spiel gesetzt und das Schiff in Fahrt war. Aber die Brise hatte aufgefrischt, es kam schnell auf fünf Knoten, und bald zeigten sich die beiden niederen Spitzen, die die Einfahrt zum Hafen markierten. Als sie sich dem Ankerplatz näherten, übernahm der Kapitän selbst das Rad. Die anderen standen bei den Falls und ließen sie schießen. Rasch verlor das Schiff Fahrt, und als Normann den Anker fünf Faden tief fallen ließ, lag es schon fast tot im Wasser.

Boggs strahlte. »Auf jeden Fall haben wir jetzt was Anständiges zum Wohnen, was Besseres als unsern ollen Kaninchenstall.«

Nach der vierten Tasse schwarzen Kaffees begann der Skipper Pläne für den Winter zu besprechen.

»Ich meine,« sagte er, »wir ziehen jetzt ganz in die Messe. Wir können den Ofen aus der Kambüse drüben bei der Luke aufstellen und sowohl zum Heizen wie zum Kochen benützen. Die Wände können wir von draußen noch mit Schneewällen verstärken, und dann haben wir's drin warm und behaglich und können bleiben, so lange wir wollen.«

»Großartig,« platzte Rudd halb wider seinen Willen heraus. »Und zu essen wird auch eine Menge da sein.«

»Ich würde an sich nicht gegen diesen schönen Plan sprechen,« sagte der Doktor, »aber wenn ich könnte, würde ich auf der Stelle und für immer vom ›Erik‹ weg.«

»Was!« schrie Boggs auf. Der Gedanke, daß er seine warme Koje und die Kaffeebohnen wieder verlieren könnte, entsetzte ihn.

»Ja, ja,« fuhr der Doktor fort, »ich bin im Grunde meines Herzens fest überzeugt, daß wir Menons Pläne auch jetzt noch durchkreuzen können. Und ich würde sofort sagen, um was es sich handelt, wenn wir nur Brennstoff hätten.«

»Was meinen Sie?« fragte Normann erstaunt. »Die Bunker sind voll.«

»Nein. Ich meine nicht Kohle, sondern Petroleum – Gas für den ›Polarstern‹.«

Der Doktor stützte seine starken Hände auf den Tisch und studierte die verwunderten Gesichter, die ihn anstarrten. »Herrschaften, ich glaube, ich habe einen Teil dieses Rätsels ergründet. Ich glaube, der erste Offizier hat das Schiff absichtlich bei der ersten Gelegenheit, die sich ihm bot, im Stich gelassen. Ich glaube, nach dem, was uns Normann von dem falschen Leck erzählt hat, daß der Mannschaft eingeredet wurde, das Schiff würde sinken. Ihr wißt, daß wir es im Flachwasser gefunden haben, und daß das Schiff ein wenig krängt. Sie sind also mit Willen gegangen.«

»Aber warum denn?« schrie Rudd.

»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist es irgendeine schlau angelegte Sache, hinter die wir erst bei unserer Rückkehr kommen können. Die Hauptsache ist, daß Menon und seine Konsorten ihren Plan zu Ende führen können, wenn wir nicht rechtzeitig genug zurückkommen, um sie daran zu verhindern.«

»Aber Sie geben doch zu,« sagte jetzt der Skipper, »daß wir den ›Erik‹ nicht bedienen können, und daß auf der anderen Seite der ›Polarstern‹ das Eis und die Stürme, auf die wir in dieser Jahreszeit im Nordatlantik stoßen müssen, unmöglich überstehen kann?«

»Ganz richtig.«

»Also, was bleibt denn dann noch – wir können doch nicht nach Hause gehen

»Nein, Pike. Aber wenn wir Betriebsstoff für den ›Polarstern‹ hätten, könnten wir durch die Nordwestpassage und in Alaska das letzte Schiff nach Süden erreichen. Wenn wir das kriegen, haben wir Menon.«

Einen Augenblick blieb alles still. Der Vorschlag war so kühn, so verzweifelt, so völlig unerwartet, daß alle verstummten.

»Ist das denn möglich?« fragte Normann schließlich stammelnd.

»Durchaus. Vorausgesetzt, daß Wetter und Eisverhältnisse einigermaßen günstig sind, haben wir ziemlich viel Chancen durchzukommen. Wie Sie wissen, hat der ›Polarstern‹ einen Hochtourenpropeller, der fast zwanzig Knoten schaffen kann.«

Als wäre er bewußtlos gewesen und käme wieder zu sich, sprang der Skipper auf. »Sie wollen doch nicht sagen, daß wir noch zurecht kommen können, um Menon zu treffen?«

»Doch, natürlich. Darum dreht sich's ja gerade. Den ›Erik‹ lassen wir im nächsten Jahr holen.«

Der Skipper ballte die Fäuste – zuerst sah es so aus, als wollte er auf Barlow losgehen.

»Und Sie sagen, alles, was Sie brauchen, ist Betriebsstoff für den ›Polarstern‹,« schrie er.

»Das ist alles, Pike.«

»Schön, dann will ich euch mein Geheimnis verraten. Ich habe mehr als tausend Gallonen in diesem Schiff verstaut, von denen bis jetzt niemand was geahnt hat.«


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