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An diesem Abend kamen alle Mann an Deck, um die Mitternachtssonne zu sehen. Fast zwei Wochen lang war das Schiff lediglich auf Grund von Schätzungen geführt worden. Aber gegen Mittag hatte der Kapitän die Sonne gesichtet und die Breite feststellen können. Seiner Berechnung nach war das Schiff am äußeren Rande der Melville-Bai, des großen Einschnittes am oberen Teil der grönländischen Westküste. Hier geht die Sonne schon im Mai nicht mehr unter. Am einundzwanzigsten Juni erreicht sie ihre größte Deklination. Erst im August beginnt sie wieder nachts unter den Horizont zu tauchen. Auch dann hält das Tageslicht wie im Frühjahr die ganzen vierundzwanzig Stunden an.
Während die Sonne sich tiefer und tiefer in den Westen senkte, überzogen Meer und Eistafeln sich weithin mit rosigem Glanz. Sogar der stark mitgenommene kleine ›Erik‹ gewann in diesem Licht ein anderes Aussehen.
»Wie ein schönes Bild,« rief Rudd und sah entzückt auf die Unwirklichkeit der leuchtenden Tinten und Töne um ihn herum.
Tiefer und tiefer rollte der große rote Sonnenball. Um halb zwölf berührte sein unterer Rand genau im Westen den Horizont. Die ungleiche Dichte der einzelnen Luftschichten rief Lichtbrechungen hervor, die die Flammenkugel in groteske rechtwinklige Formen verzerrten. Eine Minute lang blieb das Bild lang und schmal, in der nächsten riß es in glühende Fetzen auseinander wie eine ungeheuerliche Feuersbrunst. Es war, als ginge am Rande der Welt eine riesige Stadt in Flammen auf.
»Zwölf Uhr,« meldete der Steuermannsmaat.
»Acht Glas schlagen!« rief Kapitän Pike.
Und Rudd genoß zum erstenmal in seinem Leben den eigenartigen Anblick einer Sonne, die genau um Mitternacht scheint.
Seine Bewegung wurde auch nicht geringer, als Caverly heraufkam und eine Unterhaltung mit ihm begann, so, als wären sie einander nicht völlig fremd geblieben, sondern seit Beginn der Fahrt immer bessere Freunde geworden.
»Habe dieselbe Sache schon einmal am Nordkap, Norwegen, gesehen, vor ein paar Jahren,« warf der junge Mann aus Boston ein.
»Ach?« erwiderte Rudd höflich. Er hatte von Professor Deal gehört, daß der alte Caverly es sich angelegen sein ließ, seinen Sohn der Erziehung halber in der ganzen Welt herumzuschicken.
»Ja,« fuhr der Globetrotter fort, »und fast hätte ich die Mitternachtssonne auch am anderen Ende der Welt gesehen, auf Neuseeland. Müßten mal mitkommen, Rudd, nächstes Mal!« sagte er plötzlich ausgesucht freundlich.
Rudd war ganz überrascht. »Wie kommen Sie dazu, Caverly,« fing er an.
»Nennen Sie mich doch Reggie –« bat der andere immer süßlicher.
Rudd zerbrach sich im stillen den Kopf darüber, was diese plötzliche Freundschaft zu bedeuten hatte. Sollte es möglich sein, daß der Bursche mit Menon unter einer Decke steckte und im Auftrage des Offiziers versuchte, ihn auf ihre Seite zu bringen?
In diesem Augenblick ging Menon selbst mit großen Schritten achtern und lehnte sich über das Deckfenster der Kajüte. Das war um so auffälliger, als alle Leute, unter denen diesmal sogar auch der Koch war, noch an der Reling standen und sich über die Mitternachtssonne unterhielten.
Rudd, der ihn heimlich beobachtete, konnte sehen, daß er mit angespannter Aufmerksamkeit irgendeinen Vorgang in der Kabine verfolgte. Plötzlich ballte Menon die Fäuste und flitzte, leise fluchend, zur Luke, in der er verschwand.
Fast unmittelbar darauf war ein dumpfer Schlag zu hören, ein Schrei und Lärm, wie von einer Rauferei. Bevor Rudd rufen oder sich rühren konnte, eilte Dr. Barlow an ihm vorüber, dem Eingang zu, aus dem die Geräusche kamen. Dann trat Stille ein, unterbrochen von wütenden Ausrufen, so als ob jemand sich bemühte, die ganze Sache zu erklären. Menon tauchte wieder auf und schleppte den Heizer Boggs hinter sich her. Dr. Barlow kam ihnen zornig und erregt nach.
»Bringen Sie ihn sofort vor den Kapitän,« schnauzte der Doktor.
»Versteht sich,« knurrte Menon. »Hoffentlich legt er den Dieb in Eisen.«
Der Skipper, der den Lärm von der Brücke aus gehört hatte, kam ihnen entgegen. Matrosen und Maschinisten drängten sich neugierig und verdrießlich um den Großmast. Rudd, dem alle Verdachtsmomente gegen den ersten Offizier gegenwärtig waren, blickte von diesem zu dem Gefangenen und suchte zu ergründen, was für Zusammenhänge wohl zwischen diesem Vorgang und allen früheren bestehen könnten.
»Kapitän Pike,« begann Dr. Barlow, »ein Fall, der Gericht und Bestrafung verlangt. Der Heizer Boggs benützte den Umstand, da wir alle von unten weg waren, um in mein Zimmer einzubrechen. Mr. Menon hat ihn ertappt, wie er in meinem Schrank herumstöberte.«
Kapitän Pike sah den Beschuldigten an. Seine Haltung drückte Strenge und Ernst aus. Und doch lag auf seinem guten, alten Gesicht eine Freundlichkeit, die ermutigte und Vertrauen erweckte.
»Haben Sie etwas zu sagen, Boggs?«
Boggs krümmte sich unter dem festen Griff Menons und sah ihn ängstlich von der Seite an.
»Lassen Sie ihn los!« befahl der Skipper.
Mit einem wütenden Blick gab ihn der Offizier frei.
»Also Boggs –?«
»Es ist nicht wahr, Sir. Ich bin nicht runtergegangen, weil ich stehlen wollte. Ich mußte rausfinden ...«
Knurrend stieß Menon hervor: »Fang jetzt nicht zu lügen an, du Gauner!«
»Ruhe, Mr. Menon! – Raus mit der Sprache, Boggs, Sie sagten, Sie mußten rausfinden?«
Einer von der Mannschaft in der Nähe des Masts räusperte sich laut. Rudd, dem die ganze Sache nicht geheuer vorkam, sah sich schnell um und überzeugte sich davon, daß einer der Leute dem Heizer denselben drohenden Blick zuwarf, wie kurz vorher Menon. Das war zuviel für den armen Boggs. Er duckte sich, begann mit den Händen zu zittern und brach fast zusammen.
»Es ist wahr, Sir!« sagte er mit tränenerstickter Stimme. »Ich wollte probieren, ob ich nicht was erwischen kann.«
»Pfui Deubel!« brummte Dr. Barlow. »Nichts ist scheußlicher als ein Kerl, der seine eigenen Schiffskameraden bestiehlt. Ich hoffe, Kapitän, daß Sie den Mann ordentlich bestrafen werden.«
Kapitän Pike sagte zunächst kein Wort. Er sah erst prüfend in das beleidigte und entschlossene Gesicht Dr. Barlows und auf die triumphierende Miene Menons; ganz zuletzt betrachtete er die Tränenstreifen in Boggs rußbeschmiertem Gesicht.
»Die Sache ist die,« sagte er endlich, »Sie, Dr. Barlow, und Sie, Mr. Menon, kenne ich schon so ziemlich einige Jahre, aber den Lem Boggs da kenne ich, seit er auf die Welt gekommen ist; ich habe schon seinen Vater und seinen Großvater gekannt. Und nie ist mir – von keinem von den dreien – zu Ohren gekommen, daß einer was Unrechtes getan hätte.« Er strich sich langsam den Bart. »Ich bin zwar entschlossen, jedes Vergehen auf meinem Schiff streng zu bestrafen. Aber diesen Fall muß ich mir noch überlegen. Bis morgen soll Boggs frei sein. Ich verbürge mich selbst für ihn. Verstanden, Boggs?«
Rudd konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er den befreiten Blick des armen Teufels sah. Aber die Mißbilligung, die sich auf Dr. Barlows Gesicht malte, enttäuschte ihn schwer. War es denkbar, daß der Doktor diesem Schuft Menon in die Hand spielte?
»Und dann dieses Knirpschen, der Caverly, der mich mit seinen Einladungen fangen will,« dachte er. »Augen auf! Hier ist etwas nicht geheuer!«
Ein Ruf vom Mast schreckte alle auf.
»Land!«
Endlich Grönland!