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7. Im Stich gelassen!

Trotz des strahlenden Sonnenscheins nahm die Wut des Sturms mit jedem Augenblick zu. Rudd nahm das Ruder und bediente es unter Kapitän Pikes Anleitung.

»Achtung jetzt!« rief der Alte ihm ins Ohr, als der Eisberg gut quer vor war. »Hart Steuerbord!« Rudd ließ das Steuerrad herumwirbeln und brachte das kleine Boot in das ruhige Wasser hinter dem Berg, gerade noch zu rechter Zeit – eine messerscharfe Scholle trieb vorüber.

»Vertäuen!« ordnete der Skipper an.

Rudd und Dr. Barlow sprangen auf den Vorsprung des Eismassivs. Sie schlugen einen Ring in das harte Eis und zogen die Fangleine durch, die Boggs vom ›Polarstern‹ herüberwarf.

»So,« rief Rudd atemlos, »der wird halten!« Er war stolz auf seine Seemannsknoten.

»Halten, ja,« gab Dr. Barlow zu. »Aber was wird den Berg halten?«

»Sie meinen, er könnte zu treiben anfangen?«

Der Doktor blickte prüfend auf den Himmel. »Wenn ich nicht irre, müssen wir noch ein oder zwei Tage mit diesem Wetter rechnen. Sollte der Seegang sich verstärken, dann kann es leicht geschehen, daß der Berg auseinanderbricht und uns zerquetscht. Na, wie dem auch sei, in dem Hexensabbat draußen könnten wir nicht eine Stunde lang aushalten.«

Rudd sah auf die schäumenden Wellen und mußte ihm recht geben. Mit unverminderter Heftigkeit blies der Sturm aus Nordwesten. Hätte der ›Polarstern‹ den Versuch gemacht, sich ihm auszusetzen, so wäre er entweder auf den felsigen Strand der Halbinsel geschleudert oder von den treibenden Eismassen zerfetzt worden.

Caverly war wie gewöhnlich seekrank geworden, als das Boot zu tanzen begann; seine Angst hielt ihn aber davon ab, hineinzugehen und sich niederzulegen.

Kapitän Pike rauchte seine Pfeife an und wartete in philosophischem Gleichmut auf ein Nachlassen des Unwetters.

Boggs verbrachte einige Stunden damit, die Maschine zu überholen, achtete aber sorgfältig darauf, sie dauernd betriebsfähig zu halten, da man jeden Augenblick mit einem Reißen der Vertäuung rechnen mußte.

Rudd war in seinem Schlafsack, den er in eine der Kojen gelegt hatte, eingeschlafen. Als er aufwachte, hörte er, daß der Skipper darauf bestand, den ›Polarstern‹ sofort klar zu machen. »Der Schnee wird es uns unmöglich machen, dem Eis aus dem Weg zu gehen.«

Dr. Barlow widersprach: »Aber wohin sollen wir denn?«

»Die Küste hinunter, bis zu irgendeinem Schlupfhafen, wo wir das Wetter abwarten können,« beendete der Skipper die Diskussion.

»Laß sie anspringen, Boggs,« befahl er. Aber gerade jetzt tauchte Boggs mit über und über verschmiertem Gesicht und blasend wie ein Walfisch in der Maschinenluke auf.

»Tut mir leid, Sir,« keuchte er, »aber seit 'ner halben Stunde versuche ich, 'n Schwung aus ihr rauszukriegen. Hilft alles nichts. Sie rührt und regt sich nicht.«

Boggs hatte recht. Einer nach dem anderen versuchte die Maschine anzudrehen. Aber sie wollte ganz einfach nicht anspringen. Nichts auf der ganzen Welt liegt so tot da wie eine Gasmaschine, die nicht anspringen will.

Mit jeder Minute wurde das Wetter gröber. Die Flut hatte den Eisberg verrückt, und so war der ›Polarstern‹ nicht mehr vor treibenden Schollen in Sicherheit. Seine Lage wurde von Augenblick zu Augenblick gefährlicher. Einen halben Zoll hoch bedeckte der Schnee das Verdeck, die dunklen Küstenerhebungen waren jetzt schon fast ganz unsichtbar geworden.

»Segel setzen,« ordnete der Skipper an, »aber fix! Wenn wir nicht schnell machen, können wir schön in Teufels Küche kommen.«

Während Rudd die schwere Masse Segeltuch schleppte, schoß ihm ein wilder Verdacht durch den Kopf. »Sagen Sie, Boggs,« fragte er den Heizer, der Ellbogen an Ellbogen mit ihm arbeitete, »war Mr. Calverly gestern unten im Maschinenraum?«

»Natürlich. Er hat unten geschlafen. Er meinte, das ist der einzige Platz, wo's ihm warm genug ist. Ich hab' mich mit meinem Schlafsack aufs Deck gelegt.«

Rudd stutzte. Sollte es möglich sein, daß Reggie etwas mit der Betriebsunfähigkeit der Maschine zu tun hätte? Daß der Bursche irgendeine Instruktion von Menon erhalten hatte, war sicher, und doch konnte er sich nicht vorstellen, daß dieser Feigling den physischen Mut aufbringen sollte, der Rückkehr des ›Polarsterns‹ Hindernisse in den Weg zu legen. Er mußte damit doch auch sich selbst in die denkbar gefährlichste Situation bringen – ein Winter in der Arktis, mit einer so mangelhaften Ausrüstung, daß unmöglich alle mit dem Leben davonkommen konnten. Diese Idee war zu unsinnig. Außerstande es zu glauben, forderte er Boggs auf, den Motor sobald als möglich noch einmal zu untersuchen. »Vielleicht die Magnetkontakte,« meinte er.

»Ausgeschlossen,« antwortete Boggs ungeduldig. »Ich hab' alles probiert.«

Mit dem kleinen Sprietsegel konnte der ›Polarstern‹ es auf nicht ganz vier Knoten bringen. Trotzdem tauchte nach einer Stunde die Küste vorne auf. Noch eine Stunde Fahrt die Küste entlang, und das Boot war vor einem fast unsichtbaren Spalt zwischen den Klippen. Nach einem kurzen, prüfenden Blick auf die Öffnung warf Kapitän Pike das Ruder mit einem Ruck herum. Die Riemen wurden klar gemacht, und der ›Polarstern‹ fuhr in den niedlichsten kleinen Hafen ein, den man sich vorstellen kann. Schnee verbarg die Formen der Hügel und lag als weiße Decke auf dem Kiesstrand. Aber kaum ein Lüftchen regte sich an dieser Zufluchtsstätte, die jetzt die Expedition barg. In der Nähe des Eingangs lag ein auf Grund gelaufener kleiner Berg, der den kleinen Hafen vor treibenden Schollen und Feldern sicherte.

Kaum war der Anker über Bord gegangen, als ein unterdrückter Aufschrei aus dem Maschinenraum von einer neuen Katastrophe Kunde gab. Boggs stürzte auf Deck, eine Hand wild hin und her schüttelnd. Den Vergaserdeckel in die Höhe haltend, schrie er: »Der Schwimmer ist weg! Verdammte Schweinerei – aber weg ist er!«

»Ha?« rief Dr. Barlow. »Wie ist das möglich?«

»Der Schwimmer vom Vergaser ist verschwunden, Sir! Gestern war er noch da. Ich hab' ihn selber gereinigt. Er klemmte 'n bißchen, und da wollt' ich die Sache in Ordnung bringen.«

Boggs lauten Beteuerungen, daß er schuldlos sei, wurde durch eine gründliche Untersuchung ein Ende gesetzt, erst im Maschinenraum, dann im ganzen Boot. Aber Boggs behielt recht. Dieser unentbehrliche Teil des Vergasers war verschwunden und konnte im ganzen Boot nicht gefunden werden. Ohne ihn war die Maschine unbrauchbar.

»Da hört doch alles auf – ich hab' Sie gewarnt,« hätte ihm Rudd am liebsten gesagt. »Das gehört zu Menons Anschlag – er will uns hier im ewigen Eis und Schnee lassen.«

Aber es war keine Zeit, sich mit Theorien über Pläne und Verschwörungen aufzuhalten. Dr. Barlow erklärte ihre Situation.

»Wir haben schon zwei Tage verloren,« sagte er ärgerlich. »Wenn wir hier stecken bleiben, ist die ganze Sommerarbeit gefährdet. Wir haben Nordwind, können unter Segel nicht zurückkommen, es bleibt nur ein Weg –«

Rudd erriet diesen Weg, bevor der Doktor hinzufügen konnte: »Auf dem Landweg zum ›Erik‹. Er liegt direkt im Osten von uns, zirka fünfzig Meilen weit. Zwei leicht ausgerüstete Männer können den Weg machen. Was meinen Sie, Pike?«

Der Skipper schüttelte den Kopf. »Schwieriges Gelände hier. Und ich glaube nicht, daß einer von uns hier mit einem Landmarsch in der Arktis so leicht fertig werden kann.«

Rudd konnte nicht länger an sich halten.

»Ich werde schon fertig werden damit,« platzte er heraus. »Ich sehe nicht ein, warum ich den Weg nicht in einem tüchtigen Marsch sollte schaffen können. Also ...«

Dr. Barlow streckte die Hand aus. »Viel Glück, Rudd. Ich wußte, daß Sie sich melden würden. Sobald das Wetter sich aufklärt, können Sie losgehen.«

»Nicht allein – kein Mensch kann hier allein marschieren,« widersprach Pike.

Jetzt trat Boggs vor. »Ich werde mitgehen, Sir.«

»Brav, Boggs,« nickte der Kapitän. »Sie mit Ihrer Schlittenerfahrung von Labrador können's mit diesem jungen Rennpferd von Rudd aufnehmen.«

Bald hatten Rudd und Boggs ihre Sachen gepackt; der Schneefall schien nachzulassen. Ihre letzte Vorbereitung für den Marsch waren ein paar Stunden Schlaf. Als sie erwachten, war die Sicht klar, nur ab und zu verdunkelten einige Schauer das Land im Osten.

Kurz nach sechs Uhr nachmittags brachen sie auf. Die Sonne, die mittlerweile aus den Wolken hervorgekommen war, stand um diese Zeit tief genug, um die Luft ganz kühl zu lassen und den weichen Schnee zum Gefrieren zu bringen. Sie hatten keine Schneeschuhe, und ein schweres Gehen hätte sie sehr aufgehalten.

Der Marsch war einerseits länger, andererseits leichter, als sie sich vorgestellt hatten. Sie konnten in einem Gletschertal gehen und deshalb schwierige Klettereien vermeiden. Aber der Umweg, den sie auf diese Weise machen mußten, war groß.

Schließlich kamen sie in eine Bodenvertiefung, die ihnen das Meer verbarg. Während sie den letzten Kamm erstiegen, unter dem schon der ›Erik‹-Hafen – so hatte der Doktor ihren Ankerplatz getauft – lag, begann Rudds Geist üppige Träume heraufzubeschwören von Pfannkuchen, von in Zwiebeln geschmorten Robbensteaks und weichen Kojen, in denen man zwölf Stunden lang herrlich schlafen kann. In einer freudigen Erwartung fing er zu laufen an, als es von der letzten Erhebung wieder abwärts ging.

»Wir haben es überstanden!« rief er zu Boggs zurück. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Die Freude erstarb in ihm. Er öffnete den Mund, um zu sprechen – und brachte kein Wort hervor.

Das Schiff war verschwunden!


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