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16. Normann wird gefangengesetzt

Normann hatte kaum sein Entzücken verbergen können, als ihm das Kommando über den ›Erik‹ übergeben wurde. Er war zwar erst vierundzwanzig Jahre alt, aber schon seit seiner frühesten Jugend fuhr er zur See. Und schon als er Matrose in der Back war, und Bootsführer auf dem ›Erik‹, immer war es sein brennender Ehrgeiz gewesen, auf einer Kommandobrücke zu stehen – als sein eigener Skipper.

Und jetzt war sein Wunsch in Erfüllung gegangen. Als er am Rad des ›Erik‹ stand und dem ›Polarstern‹ Abschiedsgrüße zuwinkte, war er kommandierender Offizier. Und wenn es auch nur ein paar Tage dauern sollte, er war »Kapitän« Normann, kraft der Würde, die ihm der Skipper verliehen hatte. Er war der König. Sein Wort war Gesetz.

Aber auch das Gesetz kann verletzt werden.

»Gratuliere!« sagte eine höhnische Stimme neben ihm. Als er sich umdrehte, begegnete er dem boshaften Blick Menons. »Kapitän Normann,« der erste Offizier sprach diesen Titel höhnisch aus, »könnte ich die Erlaubnis bekommen, ein wenig auf Deck spazieren zu gehen, der frischen Luft wegen?«

Normanns Freude war wie weggeblasen. War es seine Schuld, daß Menon übergangen war?

Menon wandte sich zum Chefingenieur, der neben Normann stand.

»Chef, waren Sie nicht auf einem von den Schiffen, die damals Greely zu Hilfe gekommen sind?«

»Ja, da war ich dabei. Bin nur froh, daß ich mit dem Leben davongekommen bin.«

»Und wurde nicht eines der Schiffe vom Eis zerdrückt?«

»Freilich, der ›Proteus‹ sackte ab, vierzig Minuten, nachdem er vom Kap Sabine abgetrieben worden war. Solange ein Schiff nicht die Hudson-Bai hinter sich hat, kann man nicht sagen, daß man aus der Gegend heraus ist.«

Mit befriedigter Miene setzte Menon sich auf den Tisch in der Kajüte. »Na, und nehmen wir mal an,« fuhr er fort, »daß plötzlich Eis durch die Einfahrt zu unserem Hafen kommt. Würden wir dann noch eine Chance haben?«

»Nur wenn wir uns davonmachen.«

»Und dürfen wir damit rechnen, daß wir zurückkommen können?«

»Nicht unbedingt.«

»Also, was folgt daraus?« Er warf einen Blick auf Normann, der von einem zum anderen gesehen hatte, mehr und mehr besorgt für das Schiff und eine Gefahr erkennend, an die er bis jetzt noch gar nicht gedacht hatte.

Der Chef rieb sich das Kinn. »Daraus folgt,« antwortete er mit Überzeugung, »daß wir Vorräte für die Leute auf dem ›Polarstern‹ an Land schaffen müssen. Dann werden sie, wenn wir hinausgedrängt werden, wenigstens nicht Entbehrungen leiden müssen, bis wir wiederkommen. Und falls wir nicht zurück können, werden sie nicht verhungern, während sie auf Entsatz warten.«

»Dann werden wir die Vorräte wohl am besten gleich ausschiffen, nicht wahr?« rief Normann ungestüm. »Wenn Sie es für richtig halten, werde ich die Anordnungen dazu geben.«

Da die beiden Älteren einverstanden waren, eilte er sofort hinauf, um das Ausladen des Proviants zu veranlassen.

Als er nicht mehr zu sehen war, klopfte Menon den Chef vergnügt auf den Rücken und rief: »Ich hab' Ihnen ja gesagt, daß er anbeißen wird. Ist uns richtig drauf reingefallen und gibt jetzt selbst Befehl dazu. Sauber – was?«

»Sie sind ein gerissener Bursche,« sagte der Chef langsam. »Zu gerissen, Menon. Sie erschrecken mich ein bißchen.«

Als Normann zurückkam, fand er die beiden über einen Bogen Papier gebeugt.

»Ein Brief für den Skipper,« erklärte Menon. »Für den Fall, daß wir aus dem Hafen rausmüssen, soll was da sein, was unsere Abwesenheit erklärt.«

Der Chef löschte das Papier ab und reichte es Normann. »Was halten Sie davon,« fragte er.

Normann las den Brief sorgfältig durch.

 

S. S. ›Erik‹
›Erik‹-Hafen, B. P., 18. Juli 1921.

Lieber Pike:

ich schreibe Ihnen, weil wir vielleicht vom Eis hinausgetrieben werden. Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn es uns möglich ist, kommen wir zurück. Sollte aber der ›Erik‹ unglücklicherweise zermalmt werden, so wird Ihnen wenigstens meines Freundes Greely fürchterliches Schicksal erspart bleiben. Diese Vorräte werden ziemlich lange reichen.

Ihr ergebener
Angus Whelan, Chefingenieur.

 

»Ja, das ist all right,« sagte Normann. »Sie wollen das hier lassen, für den Fall, daß wir plötzlich weg müssen und nicht wieder an Land kommen können.«

Der Chef nickte. Er versah das Kuvert mit der Adresse. »Nur vom Skipper zu öffnen,« schrieb er unter Kapitän Pikes Namen. »Möchte nicht, daß diese Herrn Wissenschaftler dann irgendeinen Doppelsinn hineinstudieren,« erklärte er.

Die Kisten waren schon an Land gebracht, als Menon dem jüngeren Offizier den Vorschlag machte, auf einen Hügel zu gehen und nach dem Eis Ausschau zu halten. »Man kann gar nicht zu vorsichtig sein,« meinte er. »Und von dort oben können wir uns auch einen Begriff machen, wie die Windverhältnisse in der nächsten Zeit sein werden.«

Der Steuermannsmaat und ein großer schwedischer Matrose namens Olsen begleiteten die Offiziere. Nach kurzem Aufstieg standen sie auf dem Gipfel; die Sicht war ausgezeichnet, ringsum das Eis so weit entfernt, daß von unmittelbarer Gefahr keine Rede sein konnte.

Plötzlich wandte sich Menon an Normann, mit einem Lächeln auf seinem häßlichen Gesicht, das freundlich auszusehen versuchte. Er ergriff Normanns Arm und blickte ihm mit Gönnermiene ins Gesicht. Dieser Stimmungswechsel kam so überraschend für Normann, daß er gar nichts merkte, als die zwei Matrosen hinter ihn traten.

»Mein Junge, tragen Sie sich nicht mit Heiratsgedanken?«

»Ja – wieso –,« stammelte Normann.

»Und Sie sparen noch für ein Häuschen in St. Johns, das Sie kaufen wollen, bevor Sie sich zusammengeben lassen?«

»Ja – allerdings –«

Menon blinzelte ihm zu. »Wäre Ihnen mit fünftausend Dollars nicht gedient?« fragte er.

»Fünftausend Dollars,« wiederholte der junge Mann erstaunt. »Aber der ganze Spaß kostet ja nur dreitausend. Ja – aber – was wollen Sie denn eigentlich?«

Der erste Offizier kniff die Augen zu. »Folgendes: Wenn Sie mich die jetzige Situation ausnützen lassen und dicht halten, werde ich diese Summe am Tage unserer Heimkehr auf Ihren Namen hinterlegen.«

»Soll das heißen, daß Sie den ›Polarstern‹ im Stich lassen wollen, ja?«

»Es wäre kein im Stich lassen. Das Eis ist auf dem Weg, hier herunterzutreiben. Wir könnten nie so sicher sein, daß es ungerechtfertigt erscheinen könnte, wenn wir uns davonmachen. Sie lassen ja Vorräte ausschiffen. Die Besatzung des ›Polarstern‹ kann also nicht Hunger leiden.«

»Aber wie sollten sie zurückkommen?«

»Sie würden hier überwintern; und im nächsten Sommer könnten wir eine Hilfsexpedition heraufschicken. Die Regierung wird das tun, weil sie diese Expedition nicht im Stich lassen kann.«

Normann ballte langsam die Fäuste. »Sie wollen also sagen, daß Sie mir eine solche Gemeinheit zutrauen – daß ich mich bestechen lassen soll, meine Schiffskameraden im Stich zu lassen?«

»Ja, das will ich damit sagen.« Menon zuckte die Achseln. »Die Schiffskameraden werden's nicht gar so schlecht haben. Und Sie laufen nicht die geringste Gefahr. Sie werden viel Geld dafür bekommen, daß Sie den Mund halten. Die Sache ist ganz einfach und leicht.«

»Sie Schuft!« Normann machte einen Schritt vorwärts und holte mit der geballten Faust aus. Aber bevor er zuschlagen konnte, war er mit eisernem Griff gepackt und zurückgerissen. Wütend drehte er sich um und sah den Steuermannsmaat und Olsen vor sich, deren jeder fast doppelt so groß war als er selbst.

»Es ist ganz einfach,« wiederholte Menon ruhig. »Es hat gar keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Ob Sie wollen oder nicht, Sie sind auf jeden Fall in unserer Gewalt.«

Normann begriff sofort, daß es unsinnig wäre, gegen solche Übermacht Gewalt anwenden zu wollen.

»Was wollen Sie denn überhaupt tun?« fragte er.

»Ah,« war die vorsichtige Antwort, »das ist eine Frage, auf die man nur Freunden antwortet. Zeigen Sie, daß Sie unser Freund sind, dann können wir Sie ins Vertrauen ziehen. Aber bedenken Sie, daß Ihnen dieser Beweis nach dem jetzigen Vorfall nicht gerade leicht sein wird.«

»Und wenn ich mich nicht füge – was dann?«

»Ach, dann ist die Sache leicht. Sie können zweierlei wählen, wenn Sie entschlossen sind, unser Feind zu werden. Erstens: Sie können ruhig mit uns zum Schiff zurückgehen, dort bleiben Sie als Gefangener in Ihrer Kajüte und geben bekannt, daß Sie krank sind und deshalb das Kommando mir übergeben haben. Was meinen Sie dazu?«

»Und wenn ich auch damit nicht einverstanden bin?«

»Auch dafür ist vorgesorgt; dann ist es noch einfacher: wir bringen Sie auf den Gletscher dort und stürzen Sie in eine seiner Spalten. Die kleinste schon ist mindestens hundert Fuß tief. Kein Mensch wird etwas davon erfahren. Wenn Sie sich nicht das Genick brechen, verhungern Sie eben unten. Es ist wirklich sehr einfach, und keine Sterbensseele kann uns verdächtigen.«

»Ich werde in meine Kajüte gehen,« sagte Normann ohne Zögern. So konnte er wenigstens Zeit gewinnen, um über die ganze Sache nachzudenken. Er war zu sehr Mann, um auf den teuflischen Vorschlag Menons auch nur zum Schein einzugehen. Er zweifelte übrigens nicht eine Sekunde daran, daß die Drohung, ihn umzubringen, ganz ernst gemeint war.

»Und Sie geben mir Ihr Wort, daß Sie über diese Unterredung weder jetzt noch später etwas verlauten lassen?«

»Ja, mein Wort darauf.« Normann fühlte sich durchaus berechtigt, sein Wort zu geben, obwohl er überzeugt war, daß er früher oder später gezwungen sein würde, es zu brechen. Von dieser Minute an hing das Leben der abwesenden Kameraden von seinem Verhalten ab.

Sobald er wieder auf dem Schiff war, ließ er verlauten, daß er beim Aufstieg Krämpfe bekommen hätte und sich niederlegen müßte. Menon sperrte die Kajüte hinter sich ab und nahm den Schlüssel an sich. Normanns Raum stieß an den Meßraum, er schaute durchs Schlüsselloch; der Tisch war zwar nicht zu sehen, aber der Spiegel im eingebauten Büfett zeigte den ersten Offizier, der am Tisch saß und schrieb.

»Na, wie steht's?« hörte Normann den Chef durchs Deckfenster fragen.

»Er will nicht,« war überraschenderweise die Antwort. »Er ist jetzt in seiner Kajüte – ist krank.« Ein rohes Lachen folgte.

»Ich schreibe gerade an Caverly,« fuhr Menon fort. »Die Eisverhältnisse im Süden sind gut. Ich sage ihm, er soll in den Fury-Engen zu uns stoßen.«

»Was ist, wenn die anderen den Brief in die Hände bekommen?«

»Ach, das habe ich schon ausgemacht. Ich muß nur das Wort ›Fury‹ irgendwo im Brief anbringen, dann weiß er schon Bescheid. Das haben wir schon vor der Abfahrt des ›Polarstern‹ vereinbart.«

»Die Sache ist es aber wert. Ich hab' ihn auf der Herfahrt gekriegt. Habe ihm unseren Plan erklärt und ihm die Tausend angeboten, die wir den anderen geben. Das war ihm nicht genug. Da habe ich was anderes ausgedacht. Er kriegt Zehntausend und ich Zehntausend.«

»Wie das?«

»Na, ich bringe ihn ganz einfach nach Hause zu seinem Goldpapa und verlange Zwanzigtausend dafür, daß ich ihm das Leben gerettet habe. Der süße Reggie unterstützt meine Forderung. Ich bekomme den Zaster und teile mit ihm, fünfzig zu fünfzig. Für den alten Herrn wird die kleine Summe keine Rolle spielen.«

Ein lautes Rasseln unterbrach die Unterhaltung. Normann war der Verzweiflung nahe. Die Ankermaschine hatte zu hieven begonnen.


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