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Fünfter Brief.

Paris, den 17. März.

Grade heute, es ist mein Geburtstag, fühl' ich denn doch, daß ich über die Jahre der Illusionen hinauskomme. Oft getäuscht, hab' ich mich gewöhnt, nichts mehr zu erwarten. Ich habe mir die meisten Dinge von der Poesie, die ich früher an sie anknüpfte, selbst entkleidet. Der Schmelz, den sie besitzen, er wird ihnen darum bleiben; Das erfreuet uns nur noch wahrhaft, was uns überrascht.

Das Meiste, was wir schön, erhaben, groß finden, haben wir in unsrer Vorstellung uns schöner, erhabener, größer gedacht. Die ersten Berge, die wir sahen, schienen uns kleiner, als sie uns hätten erscheinen müssen, um uns vollkommen zu befriedigen. Die gerühmtesten Wunder der Welt, wenn wir sie sahen, blieben hinter Kupferstichen, Erzählungen, hinter unsern Phantasien zurück. Die Liebe! Nahm sie nicht anders sich aus, als wir noch kein Herz gefunden hatten, das wir unser nennen durften? Wem gab sie, als wir wirklich liebten, nicht Größeres, als wir hofften, und wem – nicht Kleineres?

Je älter man wird, desto bescheidener, desto anspruchloser sollte man werden. Man sollte die Grenze sich ziehen können für Alles, was diese Welt gewähren kann. Sie hat Alles und gibt so wenig. Wie viel Glück, wie viel Freude – nur dir ist nichts davon beschieden! Armes Herz, so hast du entbehren gelernt, bist einfacher in deinen Wünschen, reiner in deinen Genüssen, glücklicher geworden in deinen kleinen Befriedigungen!

Nur ein abstracter Mensch, ein Mensch, der in Büchern heimischer ist, als unter Seinesgleichen, konnte nach Italien reisen und sich stören lassen durch Alles, was die Natur diesem wunderbaren Lande als Zugabe seiner Wunder gegeben hat. Da die Wunder der Erde natürliche sein müssen, so wirft auch Alles, was himmlischer Abglanz scheint, seinen irdischen Schatten. Wie klein jene Fremden, die unser Vaterland besuchten und alles Das zum Maßstab ihres Urtheils über das Ganze nahmen, was sie im Einzelnen befremdet, was von ihren Gewohnheiten abweicht oder wirklichen Tadel verdient. Ich kam nach Frankreich mit Indignation über hundert widerliche Eindrücke. Ein jämmerlicher Postwagen, gedrückte, erbärmliche Plätze, ein grober Conducteur, nicht die Spur von Aufmerksamkeit auf das Befinden der Reisenden. Schlechte Kost, Prellerei, für den kleinsten Dienst geöffnete Hände, die gemeinste Plusmacherei in Allem, was uns begegnet. In jeder Festung, die wir passirten, wurden die Pässe abgefordert, nur damit die Unterbedienten Trinkgeld fordern konnten. In Peronne verschmachtete ich vor Durst. Es war noch nicht zehn Uhr Abends. Ich äußere mein Bedürfniß: keiner der Passagiere hat den Muth, den plumpen Conducteur zum Oeffnen des Schlags zu bewegen, keiner steht mir bei, meine Bitten um ein verre d'au sucrée zu unterstützen. Der Conducteur hört mein ganzes Lexikon französischer Flüche und läßt ruhig weiter fahren. Ich dachte, daß unter Ludwig XI. in Peronne Hunderte verschmachtet sind, und duldete bis zum nächsten Morgen, wo wir Milchkaffee statt Kaffee mit Milch, förmlich eine Suppe und einen großen Löffel, unser Frühstück damit statt zu trinken, zu essen bekamen. Und doch! Ich will nicht klagen. Ich will Frankreich nicht, wie es Manche gethan haben, nach seinem Milchkaffee und seinen Trinkgeldern beurtheilen. Jeder Sou, auf dem ich lese: République française, jedes Bildniß des unglücklichen Ludwig auf der groben Kupfermünze ergreift mich so, daß ich nur noch den welthistorischen Boden unter mir fühle und getrost durch die Barrière St. Denis bei schönstem Frühlingswetter in das große Babel einfahre.

Ich bin in Frankreich, in Paris. Ich muß mich besinnen, um zu wissen, was mir einst dieser Gedanke war. Als Knabe hab' ich Frankreich gehaßt und Paris geliebt. Meine Gedanken klammerten sich an Deutschlands Fall und Deutschlands Größe; meine Gefühle, meine Phantasien schweiften durch Paris, das ich früh kennen lernte aus den Erzählungen meines Vaters. Mein guter Vater war in Paris gewesen, zwei Mal, 1814 und 1815. Er hatte dem Knaben Wunderdinge erzählt von den Boulevards, von Franconi, von einem Hirsch, der durch Feuer springt, von einem Sattler, bei dem er wohnte. Ich bin in Paris, ich möchte nicht Louis Philipp sehen, ich möchte den Sattler besuchen, bei dem mein Vater gewohnt hat. Noch vor der Julirevolution haßt' ich Frankreich. Ein junger, französischer Professor, St. Marc Girardin, kam nach Berlin, um die deutschen Universitäten zu studiren und deutsch zu lernen. Er nahm Unterricht bei mir und erklärte mir Frankreich; ich erklärte ihm Deutschland. Wenn ich ihm gesagt hatte, was Deutschland, was der Tugendbund, was die Burschenschaft war, kam eine Stunde später Gans, Eduard Gans, und sagte ihm, Das, was er von mir über Deutschland gehört hätte, wäre nichts, als eitel Albernheit. Deutschland könne nur durch Frankreich zur politischen Freiheit kommen. So Gans. Gans ist nun todt. St. Marc Girardin ist maître des requêtes, Staatsrath, Deputirter, Candidat eines Portefeuilles geworden. Und ich? – Wehmuth ergreift mich, wenn ich diese Gedankenreihe verfolge.

Nach der Julirevolution hat sich in der Auffassung Frankreichs Alles geändert. Man empfand nicht für, sondern mit Frankreich. Dieselbe Lage, die Frankreich bei sich verändert hatte, fand sich bei den meisten Völkern Europas vor. Selbst England, so fest gewurzelt in seinen historischen Bedingungen, machte die Reformbill und die Entwickelung des Chartismus zum Nachhall der pariser Bewegung. Deutschland vollends, in seiner politischen Lage sogar hinter den geringen Versprechungen der Wiener Congreß-Acte zurückgeblieben, mußte freudig den Sieg des Constitutionalismus begrüßen, einer politischen Form, die, nur halb bei uns eingeführt, auch in sich selbst schon zusammenfiel. Die Hingebung an Frankreich lag vorausgesetzt in einer beschämenden Selbsterkenntniß. Frankreich wurde der Mittelpunkt und der Leitfaden unsrer Reformen.

Seither hat sich auch dies wieder verändert. Deutschland hat Kraft gewonnen, Frankreich Kraft verloren. In Frankreich ist der Bodensatz der Gährung ans Tageslicht gekommen, bei uns hat die Gährung, die wir Frankreich verdanken, unsere edleren Bestandtheile zum Vorschein gebracht. Frankreich fällt in seine historische Alltagsstimmung zurück, Deutschland ist in der nämlichen Gefahr, wenn auch der Umweg, den wir neuerdings genommen haben, sehr neu, großartig und bedeutend scheint. Die Dialektik ist schimmernder, origineller als früher; die Axiome sind aber die alten. Diese Bewegung ist nicht gut; aber wir werden sie nicht aufhalten können. Ich sage wir: und verstehe darunter die Denkenden, im Gegensatz zur Masse, die nur Leidenschaft und von der Geschichte Das kennt, was geschehen ist, nicht was geschehen wird.

Das sind Gedankenreihen, die mich viel beschäftigen werden. Vorläufig hab' ich Mühe, meine Gesichtspunkte nicht zu verlieren. Ich muß mich zuweilen besinnen auf das Frankreich, das ich mitgebracht habe, weil das Frankreich, das ich finde, mich irren kann. Louis Philipp, Guizot, Thiers, der bewaffnete Friede, der Friede um jeden Preis, die Pairskammer, die Königsmörder, die Deputirten, die Epiciers, die großen Männer und die kleinen Intriguen, die Kunst und Wissenschaft, Véry, Vefour, Musard – ich habe Mühe, von alle Dem, was ich früher wußte, hier nichts zu vergessen. Ein Fiacrepferd, das auf dem Boulevard für todt liegt, beschäftigt mich mehr, als drüben das Hôtel des capucines, in dem Guizot seine Diners gibt. Eine Holzpflasterung am Ende der Rue Richelieu weckt mehr Betrachtungen in mir, als das heutige Bulletin der Débats. Sie pflastern Paris mit Holz, um der Revolution den Baustoff zu entziehen. Aus Holzblöcken lassen sich keine Barricaden mehr machen. Lieber mögen Die, die nicht hören können, übergefahren werden, wenn sie auf dem Holzpflaster das Rollen der Wagen nicht vernehmen, als daß Die, die nicht sehen wollen, ewig in Gefahr sind, ihre Kronen zu verlieren. Gedankenlos geht Paris an den aufgerissenen Straßenecken vorüber und beklagt an der Neuerung nichts, als daß sie den Spaziergängern eine Zeitlang die freie Passage hindert.

Schade, daß die diesjährige Frauenmode widerlich schwarze Trauerkleider sind, es fehlte nichts, um Alles frühlingsschön zu haben. Blauer Himmel, Sonnenschein, die Bäume grünen schon, die Fontainen am Obelisken glänzen diamanten, in den Champs élysées freuen sich die Pferde, auf den Boulevards die Menschen, im Palais royal die Engel. Hunderte von Bonnen führen die kleinen Kinder spazieren; Alles will hinaus in's Freie, und es ist so schön, daß man in Paris selbst förmlich über Land gehen kann. Zum Ueberfluß ist der Salon der neuen Gemälde eröffnet. Soll ich dort schon hingehen? Draußen Veilchenduft und drinnen die Oelfarbe suchen?

In Paris kommt die Kunstausstellung mit den Veilchen, in Berlin mit den Astern. Ich ziehe den gemalten berliner Nachsommer dem gemalten pariser Vorfrühling vor. Auch innerlich, was die Kunst betrifft. Unsre deutschen Ausstellungen bringen mehr Poesie. Bei uns ist die Malerei lyrisch, hier will Alles dramatisch sein. Jedes Bild drängt sich hervor, jedes schreit um Beifall. Ich sehe ungeheure Effecte, aber wenig Gefühle. Die Religion ist in einigen riesenhohen Altarblättern bedacht. Es sind Votivtafeln einer Andacht, die nur deshalb für die Heiligen sorgte, weil einige neue Kirchen neue Gemälde haben müssen. Bei neuen Kirchen kommen in Anschlag: Steine, Holz, Gold, Silbergeräth, eine Orgel, ein Gemälde für den Altar. Diese Heiligenbilder gehören zum Baudepartement; man sieht ihnen an, daß sie auf Bestellung gearbeitet sind. Sonst wimmelt es in dem Salon von orientalischen Scenen, Familiengemälden und Portraits. Die ersten sollen für Algier begeistern, die andern das Glück der Ehe veranschaulichen, die letzten sind gemalte Heirathsgesuche. Auf den Familiengemälden sind Kinder und kleine Hunde die Hauptsache, auf den männlichen Portraits die Bärte. Ich mag hier keinen Mann mehr ansehen, weil ich nichts als Haare sehe. Alles trägt mittelalterliche Bärte, die Flaneurs, die Kutscher, die Marquis, die Ouvriers. Man ist von allen Seiten umgeben von Van-Dyk's-, von Rubensköpfen, von poetischen Bärten, zu denen prosaische Augen, fahle Lippen und die geschmacklosesten Trachten des Jahrhunderts gehören. Diese Männer lassen sich ihre Bärte wachsen, ohne daß sie selbst ihren Bärten gewachsen sind.

Die Gemälde des Salons sind im Grunde nichts mehr als gemalte Kupferstiche, colorirte Lithographien. Sie gehen mit wenigen Ausnahmen über den Geist des Kupferstiches und der Lithographie nicht hinaus. Die Mode, die gesellschaftliche Bestimmung scheint die Muse zu sein, die diese Künstler begeistert, und der sie ihre oft schönen und kühnen Talente opfern. An großen Kunstschöpfungen muß eine Periode immer ärmer werden, wo man die Bedeutung der Epoche angefangen hat, so zu verstehen, daß die Menschen dieser Epoche bedeutend wären. Seither wollen denn auch alle diese Philister, die die Haupthebel der Epoche zu sein sich einbilden, sich in der Kunst abgespiegelt finden. Auf den Gemälden, wie in der Poesie, und nirgend mit größerer Tyrannei für die Dichter, als im Drama.

Der Weihrauch der Feuilletons, die den Salon umdampfen, muß erst den frischen Oelgeruch der Kunstausstellung vertreiben. Hinaus in die sonnigen Champs élysées! Hunderte von eleganten Equipagen, mit vorreitenden Jokeys, begleitenden Cavalieren, untermischt mit reitenden Amazonen, machen Queue zu beiden Seiten der Promenade, um bis zum Arc de l'étoile die Renten zu zeigen, die die weißen Handschuhe und die Stulpstiefeln der Jokeys, die diese englischen Wagen, diese Spiegelfenster, diese gestutzten Rosse und die Augen der schönen Damen, die sie ziehen, bezahlen. O, diese schönen, diese stolzen Augen! Diese Fülle von Glanz, dieser Hintergrund von Glück und Unglück, von Liebe, Leidenschaft und den dunkelsten Schlaglichtern der Poesie! Hingelehnt auf sammtne Polster, den Arm auf einen Vorsprung der seidnen Kissen gestützt, blicken diese pariser Frauen der großen und reichen Welt mit ihren heißen und doch so furchtbar ruhigen Augen hinaus durch die niedergelassenen Jalousien des Schlages in die noch kahlen Bäume, die für sie kein Frühling zu belauben braucht. Oder bedürft auch ihr, ihr schönen Wesen, des grünen Schleiers der Natur, um ihn auf euer brennendes Auge zu legen? Brennen diese Blicke auch von Schmerzen, können diese Augen fiebern, diese Finger unter den glacirten Hüllen auch zittern? Habt auch ihr in euren Freuden eure Schmerzen, in eurem Reichthum eure Armuth, in Eurem Uebermaß eure gestillte Sehnsucht? Seht, dort bringt der aufgerührte Staub ein Beispiel unsers Erdenglücks! Louis Philipp, König der Franzosen, umringt von einer halben Schwadron seiner Leibgarde, ein kaum sichtbares, kleines Fenster in dem tiefen sechsspännigen Wagen, vorüberfliegend, nicht rastend, nicht zum Schlage hinausblickend, sich verbergend in der Rücklehne, bei der schon drückenden Hitze schwer athmend unter dem stählernen Ringelpanzer, den er nach dem Glauben des Volks stets unter seinen Kleidern trägt! Doch davon später.

Wie ich gestern durch Zufall am Palais royal vorüberstreife, find' ich le Cid angekündigt. Dem. Rachel Chimêne. Das Glück will mir wohl. Beim ersten Spaziergang seh' ich den König, bei meinem ersten Theaterbesuch die Rachel. Vielleicht wäre es gerathener, wenn ich meine Meinung so lange zurückhielte, bis ich sie zum zweiten Mal gesehen habe. Ich will sie noch oft sehen, will ihr ganzes Repertoir von sechs Rollen studiren. Möglich, daß ich noch eine bessere Meinung von ihr bekomme, als die ich durch die Chimêne erhielt.

Um nun gleich mitten in die pariser Eindrücke hineinzugreifen, so bekenne ich mit großem Leidwesen, daß diese berühmte junge Schauspielerin mich nicht befriedigt hat. Das Leidwesen geht nicht auf Rachel Felix, sondern auf die Möglichkeit, wie man in unserm Zeitalter berühmt sein kann, ohne es wahrhaft zu verdienen. Ungleich sind die Gaben des Geschicks, ungleicher noch die Belohnungen des Genies ausgetheilt. Dem Einen wächst der Lorbeer so hoch, daß seine Stirne ihn nie erreichen wird, dem Andern wuchert er unter den Füßen, wie Brennnesseln. Dieser niedrig wachsende Lorbeer erstickt aber auch oft in den Brennnesseln. Der Ruhm der Rachel ist nicht so hoch, daß er über Janin's Kritik erhaben wäre.

Man rühmt am Corneille'schen Cid, daß er natürlicher ist, als die französische Tragödie natürlich zu sein erlaubt. Man versteht vielleicht einige Verwandlungen darunter, die gegen die Einheit des Ortes verstoßen. Ich finde das Natürliche des Cid in seinen Fehlern und seine Fehler in seinen Vorzügen. Das Stück ist planlos, und, da es von einem starken Geiste ausging, naiv. Das Naive des Cid ist sein schönster Vorzug, und wer diese Tragödie ganz ehren will, muß als Schauspieler sie in ihrer Naivetät beleben, muß in ihr mehr Empfindung entwickeln, als sonst auf dem französischen Cothurn üblich ist.

Dem. Rachel hat dem Cid des Corneille diese Ehre nicht erwiesen. Sie war eine eben so frostige, mürrische, gelangweilte Chimêne, als die echte Chimêne ein warmes, liebendes, lebensfrohes, gutes Mädchen sein soll. Der Kampf zwischen Liebe und Pflicht würde nicht von Corneille auf die Schultern Chimênens gelegt worden sein, nicht in ihre Wangen, in ihre Augen, in die Biegungen ihrer Stimme hineingedichtet, wenn er sich in Chimênen ein Wesen gedacht hätte, wie es Dem. Rachel wiedergibt. Diese Schauspielerin scheint von ihrer Pflicht, den Mörder des Vaters zu hassen, so erfüllt, daß man nicht weiß, warum die Pflicht mit ihrer Liebe in Kampf geräth. Sie hat keine Liebe, sie hat sie wol in ihren Worten, nicht in ihren Mienen. Corneille wußte, was Chimêne will: Dem. Rachel wußte nicht, was Corneille will.

Die Rachel ist eine lange hagre Gestalt, mit Zügen, die grade nicht unschön sind, mit Augen, die nicht blitzen, doch schimmern, wohlbegabt, angewiesen vielleicht auf den Beruf, den sie wählte. Doch zuvörderst gebricht es ihr an Organ. Diese noch so junge Schauspielerin hat in ihrer Stimme nur noch Kraft, wenn sie ihre Stimme anstrengt. Für den gewöhnlichen Lauf des Dialogs fehlt ihrem Organ Lieblichkeit, Fülle, Metall. Sollte man glauben, daß Dem. Rachel eine Schauspielerin ist, die Anstrengung verlangt, um in Stellen, die nicht leidenschaftlich sind, gehört zu werden?

Chimêne, von einer deutschen jungen Tragödin gespielt, würde zunächst die liebende Geliebte des Mannes sein, den die Umstände sie zu hassen zwingen. Dem. Rachel liebt nicht. Sie hat allerdings die Scala der Liebestöne, sie weiß, wenn man mit der Stimme zittern, wo man die Augen niederschlagen muß, sie weiß, welche Sätze man fallen lassen, welche Worte hervorheben, welche Abgänge man in einander schleifen und zusammengurgeln muß, um das Publicum klatschen zu machen – das ist aber Alles. Ein Gemüth zu verschenken, ein Herz uns zu geben, hat sie nicht. Sie declamirt vortrefflich. Sie hat alle Regeln des dramatischen Vortrags inne, sie weiß, wo Gleichgültigkeit, wo Ironie, wo langsames, wo schnelles Sprechen wirkt, ihr ganzes Spiel ist, wie man das in der deutschen Theatersprache nennt, aus Druckern zusammengesetzt, aber sie producirt, was sie spricht, aus sich selbst nicht wieder. Nichts erschöpft sie, nichts bewegt sie. Sie liebt nicht, nicht einmal lächeln kann sie. Chimêne, und nicht ein einziges Lächeln! Nicht einmal ein Anlauf, das Lächeln werden könnte und sich nur in einen Schmerzenszug verwandelte.

Ihre einzige, dem Gefühl sich nähernde Stelle war, wo sie Act 5, Scene 1 zu schließen hat, indem sie Rodrigue anredet:

Sors vainqueur d'un combat dont Chimêne est le prix.
Adieu: ce mot lâché me fait rougir de honte.

Das Gefühl, das sie hier zeigte, bestand in Folgendem: Sie zerlegte das Wort Chimêne in seine drei Sylbentheile und setzte auf jede förmlich ein musikalisches Trillerzeichen. Sie trillerte erst Chi-, dann meckerte sie mê- und ließ rallentando die ganze musikalische Figur auslaufen in die letzte Sylbe -ne, die sie wiederum nur trillernd aussprach. Dann bückte sie sich, als suchte sie auf dem Boden etwas, sprach leise ihr rougir de honte aus und lief zuletzt in die Coulisse fort, wie eine über eine Schmeichelei rothwerdende Grisette, die die Schürze zwischen die Beine klemmt und, um ihre Verlegenheit zu verbergen, auf und davon läuft. Uebrigens fand man dieses kleinliche und gemeine Spiel bewunderungswürdig.

Gerechtfertigt werden kann die Kälte der Rachel durch den Character der Französinnen überhaupt. Ich werde mich durch Proben nicht überzeugen können, aber ich glaube, daß die französischen Frauen es verstehen, sich in der Liebe eine größere Selbständigkeit zu erhalten, als die deutschen. Ich glaube, daß die Hingebung einer Französin die einer Deutschen nicht erreicht. Es ist mir immer vorgekommen, als wenn in Frankreich die Liebe ein Vertrag ist, dem ein gewisses Bewußtsein von gegenseitigen Rechten und Pflichten zum Grunde liegt. Ohne Zweifel ist in der französischen Liebe noch bei weitem mehr der Character der Chevalerie vorherrschend, als bei uns, die wir uns durch Höflichkeit nie auszeichneten. Die Französinnen lieben, ohne auf die égards zu verzichten, die man ihnen schenken mußte, ehe sie erhörten. Die deutsche Liebe wird ihren sinnlichen Fond schneller erschöpfen, als die französische, die ein Talent besitzt, auch hier zu ökonomisiren. Eine französische Liebe wird den Mann mehr beschäftigen, als eine deutsche; sie wird ihm minder schnell geschenkt werden, als bei uns, aber auch dafür länger andauern. So kommt in den Charakter der französischen Sexualverhältnisse ein abstractes Element, etwas Bewußtes, etwas Gedankenmäßiges, das wir nicht kennen. Die sinnliche Flamme lodert in einem Behälter, aus dem sie, auch in der Kunst, und ganz besonders in ihr, nur spielend hervorzüngeln darf, nicht aufsteigen in voller heiliger Lohe.

Auch die Liebeskälte der Männer hat mich im Cid angefröstelt. So abgeschmackt und kindisch sich die Helden des Vaudevilles stellen, wenn sie verliebt sind, so kalt war die tragische Liebe Rodrigue's. Oder lag die Schuld dieses völlig ungenügenden Eindrucks an Ligier? Dieser Schauspieler hat eine gewisse ungeschlachte Roheit, die für seine Rolle vollkommen passen möchte, aber sie schien ihm angeboren zu sein, noch mehr, sie schien dem Publikum männliche Größe zu bedeuten. Ligier ist nicht mit einem unsrer berühmten deutschen »ersten Liebhaber«, unsern Tasso- und Posaspielern, zu vergleichen. Was er an Kraft und Natürlichkeit vor ihnen voraushaben mag, das fehlte ihm an Grazie, Anmuth und Würde. Ein unschöner Kopf, eine plumpe Gestalt. Dafür freilich ein großes Redetalent und die feinste Nüancirung aller nur möglichen declamatorischen Effecte. Der Vortrag der Scene, wo er die Schlacht am Meere schildert, war ein Meisterstück.

Ein durchaus tüchtiger und mir sehr lieb gewordener Schauspieler ist Guyon, der den Don Diego spielte. Hier wehte mich etwas von unserer guten deutschen »alten Schule« an, nicht von der alten Schule, die ihren Stolz nur darin findet, daß sie schlecht auswendig lernt, sondern von jener alten Schule, die durch biedre Treuherzigkeit des Tons, Natürlichkeit des Benehmens und jenen Humor sich auszeichnet, den die echte Mimenkunst auch beim Erhabensten, ja selbst noch beim Schmerze zu entfalten weiß.

Das Ensemble war gut, das Arrangement ohne Bedeutung. Die Weise des Spiels der untergeordneten Rollen entsprach der Vorstellung nicht, die man von der Tradition des Théatre français hat. Wenn Ligier den Unterleib vorstreckt, die Rachel gegen alle Gesetze der dramatischen Aktion ganze Tiraden mit vorgestrecktem Zeigefinger declamirt, dann kann es nicht Wunder nehmen, daß eine Confidente beim Reden die Hände so familiär zusammenlegt, wie eine Ladendame, die ihren handelnden Käufern erklärt: Es thut mir leid, prix fixes, wir schlagen nichts vor! – Die Bärte waren auch hier, wie jetzt fast überall die Hauptsache. Schöne Bärte, schlechte Schauspieler.

Die Stimmung des Publicums war merkwürdig. Jede politische Anspielung, jede schöne Stelle wurde mit Enthusiasmus aufgenommen. Gewiße Force-Phrasen erregten allgemeine Theilnahme. Vieles, Vieles davon hat mich verwundet. Ich liebe diesen französischen Pathos nicht, ich liebe diese Lakonismen nicht, die meist erhaben klingen sollen und zuweilen gemein sind. Als Rodrigue den Grafen auffordert, sich mit ihm zu schlagen, und dieser ausweicht, sagt Ligier:

As-tu peur de mourir?

Er sprach diese Worte mit einer Kälte, mit einem Hohn, daß man Fouquier Tinville zu sehen glaubte, der einem Girondisten die Süßigkeit der Guillotine vormalen will. Die Franzosen waren außer sich über dieses: as-tu peur de mourir. Vielleicht in ihrem Sinn mit Recht, mit Recht in der Erinnerung an ihre Geschichte, mit Recht an die Erinnerung der blutigen, furchtbaren Dinge, die sie nicht würden ertragen haben, ohne einen finstern, ruhigen Todesmuth.

Bei drei Stellen war der Applaus von specieller Bedeutung. Man klatschte begeistert bei der schönen Phrase:

Je suis jeune, il est vrai, mais aux âmes bien nées
La valeur n'attend pas le nombre des années.

Noch größer war die Aufregung bei den Versen, wo der König sich weigert, Krieg zu führen mit den Worten: Sortir d'une bataille et combattre à l'instant, und Diego mit Beziehung auf die obenerwähnte Schilderung der Schlacht mit ruhiger Ironie sagt:

Rodrigue a pris ha leine en vous la racontant.

»Der Friede um jeden Preis« hätte hier bei dem donnernden Jubel der Menge beschämt zu Boden blicken müssen. Endlich wurde der Versuch einer kleinen Partei, bei den Worten:

Et quand un roi commande, on lui doit obéir

zu klatschen, mit lautem Lachen und zischend zurückgewiesen. Als der Vorhang fiel, rief man die Rachel, Ligier und Guyon hervor. Sie kamen und verbeugten sich. Ich fixirte die Rachel. Kein Lächeln, noch immer kein Lächeln! Stummer, starrer Ernst in ihren Mienen. Die gemalte Kälte!


 


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