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Siebenzehnter Brief.

Paris, den 5. April 1842.

Ich war in der Deputirtenkammer. Das ist denn ein anderer Eindruck, als der bei den Pairs. Der Saal nicht so reich an Vergoldungen, Stukkaturarbeiten, an Sammet und Seide, als der im Luxemburg, aber freier, geräumiger und günstiger für die Zuhörer. Durch ein Defilé von Nationalgarden gelangt man auf die Tribünen.

Man war auf eine stürmische Sitzung gefaßt und es war eine. Ich sah die Nullität und die Größe dieses Staatskörpers, ich sah etwas Erhabenes und etwas Gemeines, ich sah die Vorhalle des Pantheon und eine Bedientenstube.

Von Jahr zu Jahr entfernt sich die Deputirtenkammer von dem Herzen des Volks. Es ist der Magen Frankreichs, auch Frankreichs Gehirn, was auf diesen grünen Bänken repräsentirt wird, nicht aber Frankreichs Herz und Seele. Auch vom Gehirn vielleicht nur eine Kammer. Immer tiefer wurzelt in diesem Staatskörper das Verderben einer alten allzulangen Verjährung. Die Kammer wird zu Zeiten erneuert, wird in Kurzem wieder neu gewählt werden, aber mit wenigen Ausnahmen kehren immer die alten Elemente zurück. Die Fruchtlosigkeit der Debatten, der immer enger und begrenzter werdende Horizont des politischen Lebens der Franzosen macht, daß selbst die Bessern ermüden und von Bank zu Bank dem Centrum näher rücken, um in der rechten Seite desselben an Agonie zu ersterben. Der Wahlcensus muß herabgesetzt, die Unzahl der Regierungs- und Municipalbeamten epurirt werden, wenn diese Kammer aufhören will, Das zu sein, was sie jetzt ist, der Tummelplatz ministerieller Intriguen, ein Salon der Medisance, eine Arena der Persönlichkeiten.

Der Rednerbühne gegenüber ist die Ministerbank in drei Abtheilungen, jede zu drei Personen. Allmälig steigen hinter diesen Sesseln die Bänke für die Deputirten hinauf. Der Saal ist etwas zu groß, um mittelmäßigen Rednern günstig zu sein. Es ist nicht gut, daß man in dieser Kammer nur oratorisches Talent haben muß, um sie zu beherrschen. Die wohlmeinende Intelligenz, die aber zufällig eine nur schwache Stimme hat, geht hier in der Größe des Raums und der beispiellosen Plauderhaftigkeit der Mitglieder unter. Wären nicht die schwarzen und weißen Abstimmungskugeln da, das Rednertalent würde hier die gesunde Vernunft und den redlichen Willen gänzlich unterdrücken.

Die rechte Seite, auf deren äußerster Ecke Lamartine sitzt, war die am wenigsten zahlreiche. Ich wunderte mich, auch Mauguin auf der rechten Seite sitzen zu sehen. Die Dislocirung der Parteien wird nicht mehr so streng eingehalten wie früher. Das rechte Centrum schien mir sehr phlegmatisch. Wenig Redner erhoben sich aus diesem Kreise. Meist wohlgenährte Gestalten, Provinzrenomméen, die das Interesse ihrer kleinen heimischen Distrikte vertreten, dadurch aber die Hauptkraft aller Ministerien sind, der Ballast, den eine Partei, die geht, der anderen, die kommt, überläßt. Diese Deputirten lasen Briefe, empfingen Einladungen, schrieben Antworten und begannen erst dann sich vernehmlich zu machen, wenn ein Deputirter der Opposition auf die Tribüne stieg. Dann waren sie am stärksten mit ihren Oh's und Ah's! mit ihrem Räuspern und Plaudern, mit allen den kleinen Niedrigkeiten, die sich hier in eine so wichtige Handlung, in ein Schauspiel für die Welt mischen. Das linke Centrum ist die eigentliche Kraft der Kammer. Wenn das rechte Centrum die Erhalterin der Ministerien ist, so ist das linke Centrum die Schöpferin derselben. Aus ihrem Schoße erstehen die Combinationen, die geschlossenen Phalangen, die Intriguen. Es ist hier weniger Charakter, aber mehr Talent zu finden. Die Charaktere sitzen von hier ab, nach links zu. Die linke Seite hat durch den Tod, durch den Widerspruch der Wähler, durch die Verhältnisse viel von ihrer frühern Kraft verloren. Es sind hier überlebte und einige noch unentwickelte Elemente. Lafitte, Arago und Odillon Barrot sitzen unten ganz vorn in einer Reihe. Lafitte hat etwas Leidendes in seinem Wesen. Wenn man ihn vier Stunden unverwandt mit demselben Ausdruck in seinem Antlitz betrachtet und keine, auch nicht die leiseste Aenderung der Gesichtszüge bemerkt, möchte man auch ihn zu den überlebten Elementen zählen. Ledrü Rollin hat den Sessel Garnier Pagès' eingenommen.

Schon eine Stunde vor Anfang der Sitzung war Sauzet, der Präsident, auf seinem Stuhle und blickte gedankenlos in die noch leeren Räume. Die Journale sagen, Herrn Sauzet's Gedanken wären nur auf sein nächstes großes Kammerdiner gerichtet. Er beschäftige sich damit, es so glänzend und so wolfeil wie möglich zu machen. Es ist noch nicht sechs Jahre her, daß Sauzet zum ersten Mal genannt wurde. Er kam als Advokat aus Lyon, ein großer Ruf als Redner ging ihm voran, er sprach etwas salbungsvoll, aber taktfest, und dies Talent hat ihn vor einigen Jahren sogar zum Minister gemacht. Als er heute Minister war und morgen Gefahr lief, es nicht mehr zu sein, soll er geweint haben. Er beweinte seine verlorne Advokatenpraxis in Lyon. Die Kammer entschädigte ihn, daß sie ihn zu ihrem Präsidenten machte, ein Amt, mit dem eine bedeutende Einnahme verbunden ist. Ich sah mir auf diese Thränen hin Herrn Sauzet an. Ich liebe starke Männer, die weinen können. Aber Herr Sauzet schien mir nicht zu den starken zu gehören und die Thränen schwacher Männer sind lächerlich.

An der Tagesordnung waren Supplementarcredite. Die Regierung verlangte Zuschüsse zum bewilligten Budget für außerordentliche Ausgaben. Allmälig füllte sich der Saal und der Präsident bemühte sich, die Deputirten aus den Couloirs auf ihre Sitze zu treiben. Für unser deutsches Gefühl ging das viel zu langsam. Ich fühlte, daß ein Gegner der Repräsentativverfassung sagen konnte: »Benehmen sich die Leute nicht wie Schulknaben, müßte nicht Herr Sauzet sagen: »Wer nun noch länger plaudert, bleibt eine Stunde nach?« Genug, es währte bis zwei Uhr, ehe die auf ein Uhr angesetzte Sitzung zu Stande kam.

Etienne bestritt die Forderung der Regierung ihrem Principe nach. Etienne gehört zum Tiers-parti, den man jetzt auch Thiers-parti nennen könnte, er ist Mitredakteur des Constitutionel. Früher, als noch Dupin Kammerpräsident war, entwarf er die Antwortsadressen auf die Thronrede. Er ist ein besserer Stylist, als Redner. Er sagte gute Dinge, aber Niemand verstand sie. Er sprach leise, aber wie es schien, wollte ihn Niemand hören, wenn man ihn auch hätte hören können. Er sagte, die Ministerien würden nicht soviel Geld brauchen, wenn sie sich durch ihre Handlungen uneigennützige Freunde erwerben könnten. Da die Ministerien keine Hingebung fänden, als die erkaufte, so hatte das Land die Ausgaben davon. Seine Bemerkungen fielen wie ein Tropfen auf einen heißen Stein. Er stieg spurlos von der Tribüne herab.

Die Kammer ging zur Discussion der einzelnen Ansätze selbst über. Der Zuschuß-Credit für das verflossene Jahr 1841 betrug 26 514 263 Franken.

Ein Mitglied der Linken erhob sich, Portalis. Man sah die Sicherheit des Advokaten. Er verließ sich nicht auf das Entgegenkommen der Kammer; er erzwang sich Aufmerksamkeit durch eine Stentorstimme. Lungen muß man haben, ungeheure Lungen, um in Frankreich über das Beste des Landes zu wachen. Portalis brachte ein Thema zur Sprache, das plötzlich alle Privatgespräche unterbrach: er sprach vom Pairshofe. Alles lauschte, Alles blickte sich schadenfroh oder bedenklich an. Man war gespannt auf irgend ein pikantes Stichwort, das dem dreisten Redner entfallen würde, ein Stichwort, das die Opposition bewillkommen, das der ministeriellen Partei das Signal zum Tumult geben würde. Portalis sagte: »Man will für die Pairskammer einen Zuschuß von 916 000 Franken. Es ist dies nicht für die Pairskammer, sondern für den Pairshof. Was ist das überhaupt mit dem Pairshof? Er richtet die Attentate, macht aber dem Staat von Jahr zu Jahr mehr Kosten. Wir müssen ein Gesetz über diesen Pairshof haben. Das Land muß wissen, wie es mit diesem souveränen ersten Gerichtshof des Landes daran ist. Ohne ein solches Gesetz könnte man dies ganze Institut des Pairshofes sehr zweideutig, sehr äquivoque finden, sehr –«

Hier konnte der Redner nicht mehr weiter, das erwartete Stichwort war gefallen. Er hatte die Pairskammer äquivoque genannt. Die Minister fuhren auf ihren Bänken hin und her. Guizot soll, den Journalen zufolge, dagegen protestirt haben. Ich hörte nichts von den Worten, die ihm heute in allen ministeriellen Blättern zugeschrieben werden, und bemerkte daran eine Eigenschaft der berichterstattenden Journale. Sie bringen von ihrer Partei nicht selten Worte, Unterbrechungen, Reden, die nicht stattgefunden haben. Das Land malt sich darnach die Sitzungen nach Gefallen aus.

Der Präsident hatte Herrn Portalis erinnert, mit Respekt von einem Staatskörper zu reden, den die Charte garantirt. Herr Portalis fuhr mit großer Ruhe und viel maliziöser Ironie fort: »Die Pairskammer ist nicht der Pairshof. Allen Respekt vor der Pairskammer: sie steht nicht über, nicht unter uns. Der Pairshof aber, wenn es eine noch so hohe richterliche Behörde ist, steht unter uns. Wie kommt die Jurisdiction an die Pairs? Aus bloßer Ueberlieferung. Wo steht diese Jurisdiction geschrieben? Es muß ein Gesetz darüber geben. Um so mehr, als sie viel Geld kostet. Alles, was äquivoque ist, kostet viel Geld.«

Das boshafte Wort war zum zweiten Male ausgesprochen. Der Sturm brach noch heftiger los. Odillon Barrot rief: »C'est évident,« und Guizot ließ sich jetzt deutlich genug vernehmen: »Il n'y a pas d'equivoque dans cette jurisdiction.« Der Präsident klingelte und erklärte: »Der Redner ist in seinem Recht –« Furchtbare Unterbrechung. »So lassen Sie mich doch ausreden,« sagte Sauzet. »Der Redner ist in seinem Recht, wenn er den Wunsch nach einem Gesetz über den Pairshof ausspricht, aber er würde ganz außer seinem Rechte sein, wenn er annähme, die Pairskammer wolle sich in ihren richterlichen, ihr von der Charte garantirten Functionen über die Kritik und Kontrolle des Staates hinwegsetzen.«

Im Schutz einer so milden Rüge fuhr Herr Portalis mit gemüthlicher Ruhe fort: »Ich wollte nur die Kammer ermuntern, über diese Jurisdiction der Herren Pairs ein Gesetz zu machen.«

Odillon Barrot mit Pathos: »Vous avez usé de votre droit.«

General Jamin: »Deswegen war es aber nicht nöthig, den Pairshof äquivoque zu nennen.«

Portalis schloß mit großer Ironie: »Genug, ich wollte die Herren Pairs nicht kritisiren; im Grunde sind sie vielleicht immer noch besser, als die von Polizeiwegen ernannten Geschwornen: ( que les jurés probes et libres de M. le ministre de l'Interieur.)«

Diese Anspielung auf die jetzige Ministerialität der Geschwornengerichte erregte allgemeines Gelächter. Die ministeriellen Journale sagen: Rires et murmures. Von den murmures hab' ich nichts gehört. Der Franzose murrt über keinen Witz, selbst wenn er gegen ihn gerichtet ist. Die geforderte Summe wurde übrigens bewilligt.

Das Kapitel kam jetzt auf das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten. Es wollte für außerordentliche Sendungen einen Zuschuß von 250 000 Franken haben.

Glais-Bizoin, ein Mitglied der Linken, erhob sich und sprach von seinem Sessel. Glais-Bizoin ist die spezielle Antipathie Guizot's. Glais-Bizoin, eine lange, hektische Gestalt mit schwacher Stimme, sagte: »Daß Frankreichs Diplomatie überall unterliegt, hat das Ministerium selbst zugestanden. Wozu noch Geld hergeben, um dies Resultat immer noch mehr herauszustellen?« Guizot antwortete von seinem Sitze aus: » Ich wünschte, daß man mir bestimmte Fälle nennt, um bestimmt darauf zu antworten. Nie hab' ich zugestanden, daß Frankreichs Diplomatie unterliegt. Nur eingestanden hab' ich, daß unsre Consuln zu schlecht besoldet sind und uns die Mittel fehlen, auf außerordentlichem Wege von fremden Völkern Kenntnisse zu haben. Eine benachbarte Nation (die englische) ist glücklicher daran. Sie hat überall Reisende, überall Agenten, die die Regierung über fremde Völker, oft ohne Entgelt, au fait setzen. In Frankreich müssen wir außerordentliche Missionen schicken. Will die Kammer Auskunft haben, was wir mit ihnen ausgerichtet, so bin ich bereit, sie zu geben.«

Der Verlauf der Sitzung wird zeigen, daß Guizot für diese Auskunft sehr vorbereitet war. Es konnte ihm nichts erwünschter, fast möchte man sagen verabredeter kommen, als daß Glais-Bizoin fragte: »Wie ist es mit Buenos Ayres, wie ist es mit der außerordentlichen Sendung nach Griechenland, wo wir doch einen bevollmächtigten Minister haben?« Guizot hatte nun, was er wollte. Er bestieg die Tribüne.

Guizot ist keiner von den Rednern, die Pausen machen und Zuckerwasser trinken. Er redet nicht, um zu reden, er redet, um etwas zu sagen. Er hat die natürliche Beredtsamkeit eines Mannes, der seine Ueberzeugung ausspricht, und Kenntnisse genug, in dem Fall als Minister, Thatsachen genug besitzt, um seine Ueberzeugung zu erhärten. Da der Boden, auf dem er sich bewegt, ein faktisch gegebener ist, so hat er vor der Opposition den Vortheil voraus, daß er über Das, was er will, nie in Verlegenheit kommen kann. Er wird sich entweder über einen Vorwurf vertheidigen oder er entwickelt Verhältnisse, bei denen er aus dem vollsten Materiale schöpfen kann, oder er trägt auf Dinge, Gesetze, Entschließungen an, die er schon dadurch empfiehlt und einschmeichelnd macht, daß er sie als nothwendig darstellt. Ein Redner der Opposition zu sein, ist dankbarer, aber auch schwerer. Schwerer, weil man sich nur auf dem luftigen Gebiet des Möglichen bewegt, dankbarer, weil das Mögliche sich in reizenderen Farben schildern läßt, als das Wirkliche oder das Nothwendige. »Ich beneide die Opposition,« sagte einst Guizot nach einem schönen Vortrage eines Mitglieds derselben, »ich beneide sie zuweilen und ihre Redner. Sie können sicher auf die Tribüne kommen und frei alle ihre Empfindungen, alle ihre Verstimmungen aussprechen. Wer das Land regiert, ist übler daran. Wir dürfen es nicht aufregen, dürfen nichts von Empfindungen aussprechen, die es nur kompromittiren würden. Wir müssen unser Gemüth beherrschen, während Andere es hier frei können ausströmen lassen.«

Guizot würde nicht ganz das Harte und Strenge haben, das man ihm in Frankreich vorwirft, wenn er nicht immer in der Lage wäre, vertheidigen, beschränken, strafen zu müssen. Es ist ihm etwas Gouvernementales angeboren, das Schicksal hat dieser Bestimmung nachgegeben und ihn zu wiederholten Malen an die Spitze eines Landes gestellt, dessen Krisen er zu beobachten, dessen Stürme er zu beschwichtigen hatte. Guizot's Talent, in eine andere Stellung gebracht, könnte in seinen Wirkungen eben so glänzend sein. Es fehlt seinem Gemüth nicht an höherer Weihe, sein Herz ist des Enthusiasmus fähig, auch seine Rede könnte hinreißen, wenn sie nicht in der Lage wäre, vertheidigen zu müssen.

Guizot's Organ ist nicht stark. Er würde die Akustik dieser Kammer nicht beherrschen, wenn ihm die Würde des Ministers nicht zu Hülfe käme. Sein Portefeuille ist der Huissier, der ihm Ruhe gebietet. Wenn bei Andern die Klingel des Präsidenten lärmt, um Ruhe zu schaffen, so öffnet Guizot sein Portefeuille, nimmt eine Depesche hervor und es wird todtenstille. Guizot's Aktion ist einfach, ohne Leidenschaft, und von einer tiefen, wie es scheint, immer in ihm lodernden Glut geschürt. Es liegt in dieser Ruhe, in dieser Sicherheit eine entwaffnende Kraft. Man haßt diese sicheren, taktfesten Zurückweisungen Guizot's und ihn selbst, der diesen Haß wohl empfindet, reizt es, bittrer zu sein, als es das Interesse seiner Stellung erfordert. Guizot's Bitterkeit ist ohne Leidenschaft. Darin liegt ein gefährlicher Stoff zu ewiger Feindschaft. Die Gegner fühlen, daß sie von Guizot nicht blos besiegt, sondern auch verachtet werden. Ja zuweilen hat es den Anschein, als ignorirt' er sie. Er spricht von den Anwesenden, als wären sie nicht zugegen. Er spielt mit kaltem Sarkasmus nicht selten die Debatten ganz aus dem Halbrund der Kammer heraus und verweist sie in die Journale, in die Coterien, in die Clubbs. Er sagt nicht, daß sie dorthin gehören, aber seiner Art, die Verhandlung zu objektiviren, sieht man diese Andeutung an. Es ist nicht zu leugnen, daß bei allem Adel seines Willens, bei aller Kraft seines Gedankens, bei aller Tiefe seines Talentes Guizot auf die Tribüne zuviel von dem Katheder mit hinüber genommen hat.

Ich kann hier den Erörterungen Guizot's über Buenos Ayres und Griechenland nicht folgen, nicht alle Unterbrechungen, die er fand und widerlegte, wiedergeben. Ich bemerke nur, daß es in Frankreich eine Freude ist, zu sehen, wie selbst Köpfe, deren unveränderlicher Gedanke die Stabilität und Ordnung ist, vom liberalen Prinzip aufs innigste durchdrungen und beherrscht werden. Guizot nannte ohne Weiteres die bairisch-griechische Regierung schwach, ja schlecht. Er that es, ich weiß, aus Rücksicht auf England, das Griechenland völlig dem französischen Einfluß entzogen hat, aber das hinderte nicht, in seiner Schilderung unverkennbare Züge von Wahrheit zu finden. Bedenkt man, daß diese Züge bald in hunderten von Zeitungen werden wiedergegeben und an alle Enden der Welt verbreitet werden, so vergrößert sich plötzlich der Maßstab, den man an diesen gesetzgebenden Körper legen muß. Man erschrickt, daß Das, was hier in zehn Minuten nur so hingesprochen wird, zehn Wochen lang ganze Nationen beschäftigen kann: man erschrickt und bewundert es.

Auf den Einwand, daß ein Gesandter in Griechenland hinreiche, um dies Land zu beobachten, und die Reisekosten für die außerordentliche Mission des Herrn Piscatory unnütz gewesen wären, bemerkte Guizot sehr wahr, daß Griechenland noch nicht zu jenen civilisirten Ländern gehöre, die man auf diplomatischem Wege kennen lernen könne. Auch wäre dies Land in einem Zustand von Naturwüchsigkeit, der seine eigentliche Kraft jeder administrativen Controlle entzöge. Die Leidenschaften der Häuptlinge regierten das flache Land, die Gebirge, die Thäler, und um hier den Geist des Volkes zu studiren, hätte man Herrn Piscatory abgesandt. Guizot machte eine Pause und Herr Piscatory selbst erhob sich von seinem Sessel. Es war dies verabredet. Herr Piscatory hatte sein Stichwort gehört und erhob sich. Diese kleine Comödie hinderte wiederum nicht, daß ich dies Nennen und Beweisenkönnen, dies Rufen und dies schnelle Erscheinen doch großartig fand. Man sah, daß in diesem Saale nicht Menschen, sondern Thatsachen nebeneinander sitzen, daß man hier Worte, aber auch Geschichte macht.

Piscatory, ein noch jugendlicher Deputirter aus dem rechten Centrum, sprach von seinem Sitze aus mit einem sonoren, kräftigen Organ. Es lag eine natürliche Anschauung seinen Worten zu Grunde, und so theilte sich ihnen eine große Frische und Lebendigkeit mit. Er sprach sich nicht über seine Resultate aus, wol aber über die Methode, wie er zu ihnen gelangte. Er schrieb Alles, was er erwirkte, den Verdiensten des regelmäßigen Botschafters in Athen zu und erntete für diese in ihrem Zweck eben so höfliche, wie in ihrem Vortrag anziehende Erklärung ein allgemeines: Três bien, três bien.

Guizot wollte jetzt auf der Tribüne fortfahren. Aber eine kräftige, kecke Stimme erhob sich, um die eingetretene Pause zu benutzen. Es war die Stimme Mauguin's.

Von der diplomatischen Tribüne aus, in der ich dies merkwürdige Schauspiel beobachtete, war es nicht möglich, Mauguin zu sehen. Ich sah nur die kahle Glatze, die breiten Schultern, hörte nur eine dreiste, breite und auseinandersetzende Rede. Es ist bekannt, daß sich Mauguin auf eigne Hand zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten in Frankreich gemacht hat. Die andern Ministerien kommen und gehen; Mauguin bleibt. Die andern Ministerien schwanken, Mauguin ist nicht zu erschüttern. Thiers, Guizot, Molé haben ihre auswärtige Politik, Mauguin hat die seinige. Mauguin weiß, was in allen Ländern vorgeht. Er kennt Polen, er kennt Rußland, er kennt Persien. Er weiß, wie viel Kinder jährlich in Polen von den Russen geschlachtet werden; er weiß, wann in Karlsruhe oder Kassel oder Braunschweig eine Revolution ausbrechen wird. Er hat seine Gesandten, seine Agenten, seine Emissaire für sich. Sie kosten ihm keine Reisegelder; denn sie leben alle in Paris. Sie schreiben ihre Depeschen aus ihren Stationen, die er ihnen nicht zu bezahlen braucht, die er im Gegentheil sich bezahlt macht. Er gibt sie dem Journal du Commerce. Die politischen Flüchtlinge aller Nationen geben ihm Materialien zu seinen Interpellationen. Er ist es, der jährlich den Polen in der Dankadresse auf die Thronrede ihre Nationalität sichert. Ohne Zweifel bleibt er dadurch ein gutes Ferment der Kammer, wenn es ihm auch an gewissenhafter Ueberzeugung, Consequenz, und in seiner Domaine des Auslandes an gründlichen, auf Facta gestützten Kenntnissen fehlt.

Mauguin fing denn nun auch richtig von Persien an. Statt im Schatten des Bois de Boulogne zu spazieren, lustwandelte er bequem unter den Datteln von Teheran. Er sagte: »Ehe ich auf Persien komme, benutz' ich die Gegenwart des Ministers auf der Tribüne (Mauguin sprach von seinem Platze aus), ihm zu sagen, daß unsre diplomatische Inferiorität nicht aus der geringen Zahl unsrer Agenten entsteht, sondern aus unsrem diplomatischen Geschäftsgange.«

Allgemeine Spannung. Mauguin ist noch nicht in Teheran, er ist noch nicht einmal bei Lafitte und Caillard, er ist im Hôtel des Capucines. Guizot sieht lächelnd von der Tribüne auf den energischen Redner herab, der jetzt von Courieren, Depeschen und Brieffelleisen reden wird.

Mauguin enthüllte nach langer Vorbereitung endlich folgendes Geheimniß: »Die französischen Gesandten haben seit elf Jahren keine Instruction bekommen, seit elf Jahren sind sie um nichts gefragt worden. Als Mehemet Ali durch die Schlacht bei Koniah beinahe dicht vor Konstantinopel war, wußte unser Gesandter nicht, was er thun sollte. Er hatte keine Instruction. In Portugal haben unsre Agenten nie eine Instruction gehabt. Keiner unsrer Agenten hat eine Instruction. Sie reisen ab ohne Instruction, sie bleiben ohne Instruction. Sie lachen, meine Herren? Warum lachen Sie, es ist die reine Wahrheit. Zwei Minister haben seit 1830 Instructionen gegeben. Alle andern nicht, und so kommt es, daß wir in Paris nichts erfahren und nichts wissen.«

Die ministeriellen Deputirten fanden diese genaue Bekanntschaft des Herrn Mauguin mit Dem, was in den Cabinetten vorgeht, sehr komisch und lachten. Soult saß ruhig auf seiner Bank, immer dieselbe mürrische, abgespannte, ermüdete, eigensinnige Miene zeigend. Guizot, der noch auf der Tribüne stand, nahm endlich das Wort, setzte die neuesten Beziehungen Frankreichs zu Persien auseinander und ging mit trockner Ironie auf den von Mauguin angeregten diplomatischen Geschäftsgang über. »Möglich,« sagte Guizot, »daß Herr Mauguin in den fremden Kanzleien heimischer ist, als ich. In Betreff Frankreichs kann ich ihn versichern, daß er sich irrt. Unsere Botschafter wissen sehr wohl, was sie zu beobachten haben. Die Acten des auswärtigen Departements könnten ihn darüber eines Bessern belehren.«

Der Paragraph wurde angenommen und Guizot verließ die Tribüne. Das Wahre an Mauguin's Einwurf mag wol sein, daß die häufige Aenderung der auswärtigen Politik Frankreichs, die Aenderung der Ministerien und die Einmischung des Königs viel dazu beitragen, daß die auswärtigen Agenten Frankreichs sehr oft über die Absichten ihrer Regierung im Unklaren sind. Leicht möglich, daß in den ewigen Verwirrungen der französischen Politik manche Stationen, die außerhalb der bedeutenderen Brennpunkte liegen, lange ohne Instruction bleiben und in Augenblicken, wo auch an sie einmal die Reihe kommt, in die Debatte gezogen zu werden, nicht wissen, woran sie sind. So viel mir bekannt, ist nur die österreichische Diplomatie selbst in ihren entlegensten Stationen immer au fait der Thatsachen. Man schickt von Wien in bestimmten Zwischenräumen lithographirte Berichte, die allen Agenten der Regierung den Stand der Dinge, wie er in Metternich's Kanzlei angesehen wird, mittheilen. Eine solche Maßregel ist nur bei einem System möglich, das vom Grundsatz der Stabilität ausgeht. Frankreich, das täglich schaffen muß, täglich sich neuen Boden zu erobern hat, Frankreich, das überall in Frage gestellt ist, kann sich kaum für heute, geschweige für morgen verbürgen. Wenn Mauguin eine diplomatische Frage anregen will, so könnte man ihm die Regulirung der Gesandtschaftsgehalte anempfehlen. Ich kenne französische Diplomaten, die von ihrem Staate 50 000 Franken jährlich erhalten, um ihn würdig in der Fremde zu vertreten. Während die russischen und englischen Agenten Feste geben und sich zum Mittelpunkt der Gesellschaft machen, sitzt der französische Envoyé daheim und ökonomisirt, geizt, spart für seine Rückkehr nach Paris, spart für seine Zukunft. Beim englischen Gesandten sieht man Abends Kronleuchter schimmern, beim französischen eine einzige ärmliche Sparlampe.

Die Debatte kam jetzt auf Algier. Wer kennt nicht die Verhandlungen über diese unglückliche Eroberung? Ihr ewiges Einerlei verändert sich nur durch die dabei genannten Zahlen, die Zahlen der Truppen nehmen zu, wie die Zahlen der Credite. Von Jahr zu Jahr mehr Tausende an Menschen und mehr Millionen an Geld. Als die Bourbonen von Frankreich schieden, ließen sie die eroberten Trophäen Algiers zurück. Die Julidynastie zögerte, ob sie sie annehmen sollte, sie zögerte Jahre lang, goß Tropfen auf Tropfen in das große durch Afrika aufgeregte Meer von Leidenschaft diesseits und wildem Naturhaß jenseits des Meeres. Es zischte und Alles war wieder vorbei. Mit jedem Frühjahr begann dasselbe Experiment, in jedem Herbste endete es mit denselben Gräbern. Einige kleine Siege gaben Stoff zu großen Gemälden, Franconi's Circus in Paris führte kriegerische Scenen aus der Wüste auf nichts wollte helfen, diese Eroberung in Frankreich populair zu machen. Die Bourbonen hatten den Krieg mit einem religiösen Nebengedanken begonnen. Es schimmerte in ihren Lilienfeldern etwas von der Glorie eines Kreuzzuges gegen die Ungläubigen. War der Schimmer echt oder nicht, er blendete. Er blendete das Volk, das mit dem Christenthum noch nicht so gebrochen hat, wie der Constitutionnel. Man hätte in der Vendée, der Bretagne, in der Guienne, im Lyonnais noch Gemüther genug gefunden, die sich für einen christlichen Kampf gegen die Barbaresken hätten begeistern können, aber jetzt, wo durch die Julidynastie Alles auf die materiellen Interessen geworfen ist, jetzt, wo man den Grundsatz: »Was hab' ich davon?« an die Spitze Frankreichs gestellt hat; jetzt, wo man Alles in Actien, Dividenden und Renten verwandelt, verlangt man von Algier einen ergiebigen Nutzen. Es ist kein Stapelplatz für den Handel, kein Ort der Ausfuhr, keiner der Einfuhr geworden: es trägt höchstens einzelnen Entrepreneurs, die für die Bedürfnisse der Armee sorgen, Vortheile. Es ist auch kein Abzugscanal für die revolutionairen Elemente geworden; denn die Offiziere kommen trotziger aus der Wüste zurück, als sie dorthin gehen. Die Generale erwerben sich Ruhm, verfallen mit der Regierung und werden Nothwendigkeiten, eine Kategorie von Menschen, die Louis Philipp haßt, seitdem er selbst das für Frankreich einzig Nothwendige geworden sein will.

Man hätte längst Algier aufgegeben, wenn nicht drei Dinge für die Beibehaltung sprächen. Erstens fürchtet man, damit den Engländern einen Gefallen zu thun, zweitens will man bei einer Theilung des türkischen Reiches durch den Besitz Algiers auf den Besitz der ganzen nordafrikanischen Küste Anspruch machen, drittens fürchtet man die bekannte Thatsache, daß in Frankreich alles Das unpopulair ist, was die Regierung verfolgt, und alles Das populair wird, was sie aufgibt.

Es gibt in der Deputirtenkammer einige algierische Catone, die, so oft der Name Algier genannt wird, ihr ceterum censeo aussprechen müssen. Die Einen sind für, die Andern gegen die Beibehaltung dieser von Allen als lästig eingestandenen Colonie. Herr Desjobert kam mit einem Sack von Broschüren, Flugblättern, Zeitschriften auf die Tribüne, breitete zum Schrecken der Deputirten diesen Apparat behaglich vor sich aus und begann nun mit Tausenden und Millionen zu rechnen. Er zählte Todte, Verwundete, er zählte die Fortschritte, die keine wären, die Eroberungen, die nur auf dem Papiere ständen, er rieth, Algier aufzugeben oder ein anderes System zu beginnen. Herr Desjobert verwickelte sich so in seine Citate, daß er aus Adam Smith vorlas, was Parnell gesagt hatte, Say für Sismondi anführte, Broschüren und Zeitschriften ineinander mengte und zum großen Trost für die Kammer endlich mit einem flauen Abgange schloß.

Nach ihm kam Herr de Corcelles. Dieser Deputirte mit gescheiteltem Haar hatte die Miene eines Leichenbitters. Es durchfuhr die Kammer ein Frösteln, als sie Herrn de Corcelles mit einer großen geschriebenen Rede auftreten sahe. Ein tiefer Seufzer hallte mit seltner Einstimmigkeit durch das ganze Palais Bourbon.

Feierliche Stille war die nächste Wirkung dieses verzweifelten Blickes in die Zukunft einer langen tödtlichen und getödteten Stunde. Herr von Corcelles begriff nicht, wie ihn und seine geschriebene Rede heute eine so großartige Erwartung begrüßen konnte. Was den größten Rednern Frankreichs oft nicht gelingt, sich Ruhe zu erzwingen, das schenkte man ihm freiwillig, ohne Huissier, ohne Klingel. Herr von Corcelles lächelte. Er war angenehm überrascht von dieser Liebenswürdigkeit der Kammer. Er sahe nicht, daß diese Stille nur jener feierliche Moment war, der gewöhnlich den verzweifelten Entschlüssen voranzugehen pflegt. Er war seit einer Secunde ein großer Redner geworden. Er hatte eine Pause gewonnen, wie sie Guizot, wie sie Thiers, wie sie Berryer oft nicht erzwingen können. Er benutzte auch diese Pause. Er zog sein Taschentuch, er breitete sein Heft vor sich aus, er trank ein Glas Zuckerwasser. Man hörte deutlich einen kaum halb unterdrückten Schmerzenslaut, als Herr von Corcelles endlich anfing und mit tragischem Pathos begann: »Le gouvernement, Messieurs –«

Herr von Corcelles las eine Stunde. Aber die Kammer schlief nicht. Sie hatte sich zum Schlafen zurechtgelegt, aber sie bekam zu lebhafte Träume und wachte wieder auf. Sie wachte, als wenn Herr von Corcelles nicht da wäre. Sie erzählte sich hundert kleine Geschichten, sie lachte, sie scherzte, sie debattirte. Herr von Corcelles ist in Algier, die Deputirten sind in Paris. Herr von Corcelles jagt sich mit den Beduinen herum, parlamentirt mit Abdel-Kader, baut Festungen, colonisirt die urbaren Gegenden der Wüste Sahara. Herr von Corcelles schifft über die Tafna, besichtigt Constantine, liefert in den Ebenen von Metidje mehrere glückliche Treffen gegen die vereinigten arabischen Häuptlinge, die Kammer stört ihn in seinen Siegen, in seinen Triumphen nicht. Herr von Corcelles verlangt von der Kammer ein dreifach erhöhtes algierisches Budget, die Kammer votirt ihm in Gedanken Alles, was er will, sie hört ihn nicht. Sie hat an dem Ball des Präsidenten, am Ministerium, an der nächsten Wahl der Akademie, an den Niederlagen der Engländer in China Stoff genug, sich gemüthlich zu unterhalten, der Präsident berechnet seine Couverts, seine Dienerschaft, seine Weine, die Minister haben endlich einen freien Augenblick, sich zu erholen, sie werden in demselben Moment in Anklagezustand gesetzt von Herrn von Corcelles, von dem Redner vor ihnen, von diesem unglückseligen hohlen Grabesredner: und doch sind sie zum ersten Male im sichersten Besitz ihres Portefeuilles. Herr von Corcelles will es ihnen nehmen! Die Zuschauertribünen entleeren sich, die Stenographen spritzen die Feder aus und begnügen sich, in ihre Zeitungen zu setzen: »Herr von Corcelles nahm das Wort, konnte aber wegen undeutlichen Organs und im Geräusch der Kammer nicht gehört werden.« Dies Alles hinderte aber den Redner nicht, fortzufahren. Er las, er declamirte, er lächelte. Er nahm Zuckerwasser, wie ein andrer großer Redner. Er beschwor die Kammer, die Minister, den König. Man sah einen gesticulirenden schwarzen Schatten am Gestade des donnernden Meeres. Aus dem Tosen und Brausen sah man einzelne Schiffstrümmer hervorspringen, ein Bret, ein Gefäß, ein Tuch. Man hörte dann und wann Abdel-Kader – Méditerranée – Angleterre – vaisseaux – avantages – utilités – présomption – ministère – bis endlich nach mehr als einer Stunde die Kammer von ihren Leiden erlöst war. Herr von Corcelles war mit seinem Manuscript zu Ende und verließ die Tribüne mit einem Lächeln, das mich rührte, weil es wol schwerlich damit Ernst war. Ich sah erst jetzt, daß Herr von Corcelles sich auf die äußerste Linke setzte. Wenn die Opposition keine besseren Talente ins Feld zu schicken hat, ist sie wenigstens in der Kammer verloren.

Wer erinnert sich nicht eines herbstlichen Abends, wo man lustwandelnd durch Weingärten hinunterblickt auf einen nebelnden See? Immer dunkler werden die Schatten, immer grauer die Umrisse des Wasserspiegels, der zuletzt vor unsern Augen verschwindet. Da steigt plötzlich am jenseitigen Ufer aus einem Garten, wo sie das Fest der Weinlese feiern, ein feuriger Streifen in die Luft. Eine Leuchtkugel zerstiebt in tausend schimmernde Funken, die mit sanftem, aber magisch hellem Leuchten die ganze Gegend erhellen. Man sieht die Bäume, die Berge, man sieht den Spiegel des Sees wieder. Es ist ein zauberhafter Moment, diese Nacht und diese plötzliche Helle!

So war die Stimmung der Versammlung, als ein Redner die Tribüne betrat, den ich während der ganzen Dauer der Sitzung unverwandt beobachtet hatte. Niemand hatte mir ihn gezeigt und doch hatt' ich ihn aus den Hunderten herausgefunden. Im linken Centrum, drei Bänke hinter den Ministern, dicht neben dem Obersten Paixhans, saß eine kleine Gestalt mit auffallenden, an Napoleon erinnernden Gesichtszügen. Diese Gesichtszüge jugendlich, das Haar grau. Ewig lächelnd rutschte dieser Deputirte seit drei Stunden auf seinem Sessel hin und her, die kurzen Füße fast in der Luft schlenkernd. Zuweilen ein sarkastischer Blick zum Obersten Paixhans, ein leises Wort, sonst gemessen, zurückhaltend, nicht so unselig plauderhaft und würdelos, wie die übrigen Deputirten, zuweilen sich etwas notirend, innerlich aufgeregt, formend, bildend, gestaltend, eine kleine Welt für sich. Mancher Deputirte ging vorüber und drückte dem Kleinen die Hand. Dieser erwiderte jede Freundschaft mit Herzlichkeit, rückte an der Brille hin und her, lächelte zu dem Murmeln, zu dem Zischen, zu den Bravis und stellte eine still für sich abgeschlossene Neutralität vor, eine Uhr gleichsam, die zu schlagen gewohnt ist, heute aber, da man sie aufzuziehen vergessen, still stand. Plötzlich aber bekam die Uhr Leben. Ein Schnurren, ein Knarren. Herr von Corcelles ist auf der letzten Seite seines Manuscriptes, der kleine Redner erhebt sich, durchschreitet zur Erde blickend das Couloir und steht auf der Tribüne, über deren Brüstung er kaum hinausreicht. Es ist Thiers.

Es gehört zu den ersten Gesetzen der parlamentarischen Redekunst, daß man das Wort: Messieurs, nicht zu früh ausspricht. Messieurs, hineingeworfen in die Unruhe einer Versammlung, die voller Erwartung sich auf etwas Bedeutendes vorbereitet, kann eine ganze Rede umwerfen. Messieurs wiederholen, heißt die Erwartung abspannen. So bleibt nichts übrig, als es zu machen, wie Thiers. Thiers ließ der Kammer Zeit, sich auf ihn vorzubereiten. Er ließ jedem Schwätzer Zeit, seine Vermuthungen über Das, was er reden würde, beim Nachbar anzubringen. Es währte drei volle Minuten, bis Alles still wurde, so still, daß man in Guizot's Brust es hätte können klopfen hören. Messieurs! Große Pause. Wer sprach Messieurs? Thiers. Ist das Thiers? Er beginnt: »Je ne crois pas;« – Pause. Ich habe Gelegenheit, mich in Thiers' Organ zu finden. »Je ne crois pas, que le moment soit bien choisi, pour traiter l'ensemble de la question d'Afrique. Dans ce moment on fait guerre, on la fait avec activité, avec habileté. J'espère qu'elle aura les résultats heureux, que nous devons en attendre.« Ironisches J'espère! Alles lächelt, Thiers lächelt. »Je viens uniquement signaler à la Chambre un point important, et d'après l'opinion unanime de tous ceux, qui ce sont occupés de la question africaine, du point le plus important peut-être, le port d'Alger.« Großes Aufsehen. Allgemeine Bewegung. Thiers wendet sich zur Seite, läßt der Kammer Zeit, sich zu ärgern oder sich zu freuen, und trinkt ein Glas Zuckerwasser. Thiers wendet sich wieder an die linke Seite, die er anredet, und beginnt: »Toutes les opinions –« doch ich kann nicht Schritt vor Schritt folgen, sondern muß mich begnügen, über den Gesammteindruck zu berichten.

Es versteht sich bei der Figur des berühmten Redners von selbst, daß sein Organ sehr hoch liegt. Thiers hat eine auf den ersten Augenblick unangenehm klingende Fistelstimme. Ein Kindersopran ist Alt gegen Thiers' Stimme. Die bedeutendsten Schauspieler und Redner hatten von jeher mit ihren Naturmitteln zu kämpfen. Thiers hat ein Organ, das nicht nur unangenehm hoch, sondern auch unrein und belegt ist. Seine Respiration ist asthmatisch. Seine Stimmwerkzeuge sind eng und geben den Ton nur gewaltsam von sich. Hier sind keine Modulationen von Höhe und Tiefe möglich. Hier fließt kein frischer Bergquell aus dem Felsen der Brust. Hier ist keine Malerei der Leidenschaften, kein Auf- und Niedersteigen möglich, sondern mit großer Mühe dreht sich ein einziger dürrer und rauher Faden zusammen, ein einziger Ton, der sich zuweilen in völlige Heiserkeit und katarrhalische Affection verliert. Jeden Augenblick fürchtet man, daß dies mitgenommene Organ erschöpft ist. Das stereotype Lächeln dieser Mienen bekommt einen Anhauch von Schmerz. Der Gedanke, die Leidenschaft, das Talent kann sich nicht so den Weg durch die Organe bahnen, wie es möchte. Und doch dauert dies schartige Instrument aus. Schon im ersten Worte heiser, kann Thiers stundenlang reden, ohne erst heiser zu werden. Man gewöhnt sich allmälig an diese fistulirende Monotonie, ja noch mehr, man findet sie zuletzt melodisch. Der geistvolle Gedanke gibt diesen heisern Tönen eine höhere Art von Wohllaut, das bewunderungswürdige Talent des freien Wortes verwandelt zuletzt dies Gekrächz in Gesang.

Das Geheimniß dieser reizenden Wirkung der Thiers'schen Rede ist die Improvisation. Die Worte strömen frei dem Gedanken zu. Nichts ist gesucht. Alles ergibt sich von selbst. Er wurde oftmals unterbrochen, aber jede Unterbrechung lieh seinem Vortrage eine neue Schönheit; denn er verflocht unerschrocken die Antwort in den Zusammenhang seines Ganzen. Auf Alles schnell gefaßt, wußte er Alles schnell zu lösen. Ohne Pedanterie erklärte er Manches für unerheblich. Auf Zahlen kommt es ihm wenig an. Er läßt sich nichts irren, nichts anfechten, und verräth, was noch wichtiger ist, keine Empfindlichkeit. Es gibt gewisse pomphafte Redner, die der Widerspruch reizt, die mit glühendem Kopfe die Karten wegwerfen oder sich diese und jene Einreden anders zu erbitten erlauben. Thiers behält eine immer gleiche Bonhommie. Er verliert sein Gleichgewicht auch dann nicht, wenn sich Alles gegen ihn erhebt. Mit Ruhe schlägt er die Hände übereinander, geht rechts, geht links, trinkt Wasser, lächelt und wartet, bis man die Gnade hat, ihn wieder hören zu wollen. Selbst besiegt verläßt er nie die Tribüne ohne schlagenden Eindruck, und sein Eindruck ist um so sicherer, als er sich natürlicher Hülfsmittel bedient. Ist die Idee, die Frage zu Ende, so schließt Thiers. Hat er nichts mehr zu sagen, so schweigt er. Er macht keine Coda, keine Doxologie, kein Amen, sondern setzt sich frisch und kurz auf seinen Sessel nieder, den er unverwandten, unveränderten Antlitzes, nur mit etwas gerötheter Wangenfarbe behauptet.

Thiers sprach über den Hafen von Algier. Es verschlägt nichts, wenn der Fremde diesen Gegenstand an sich auch interesselos findet. Thiers bewies die Nothwendigkeit, die Befestigung der afrikanischen Niederlassung mit dem Hafen von Algier zu beginnen. Man sah, es standen ihm, als ehemaligem Minister, die Acten aller der Vorbereitungen noch zu Gebote, die man früher für dies Werk getroffen. Seine Rede mit allen ihren hydraulischen, militairischen und mechanischen Excursen ist später von den Organen der Regierung sehr verspottet worden, aber sie machte großen Eindruck. Den Augenblick hatte Thiers mit der ganzen Zündkraft, die in der Beherrschung des Momentes liegt, inne. Er verließ die Tribüne mit dem Nachhall eines großen moralischen Sieges über seine Gegner. Diese erschienen als die Zögernden, er in voller Glorie als Mann der That.

Die Anklagen gegen die Trägheit der Minister durften nicht ohne Antwort bleiben. Stillschweigen auf einen solchen Phalanx von Thatsachen, Namen und Zahlen, wäre eine Niederlage gewesen. Und es erhob sich in voller Manneslänge der Herzog von Dalmatien! Soult schritt in gemessener Würde auf die Tribüne und begann in schlichten, aber energischen und höchst leidenschaftlichen Worten eine kurze Vertheidigung. Man sah ihm an, dem alten Krieger, wie lästig ihm diese Abhängigkeit von den Zungen der Advocaten war. Gewohnt an militairischen Gehorsam, hätte er lieber die Bänke seiner Gegner mit Petarden sprengen lassen, als hier mit Worten gegen Worte Rede stehen. Die mürrische Stimmung der Altersschwäche gab ihm etwas Menschenfeindliches. Mit ärgerlichem Humor streckte er seit den vier Stunden, daß die stürmische Sitzung dauerte, seine langen Glieder von sich, strich sich zuweilen den weißen Knebelbart, hörte kalt und gleichgültig, was ihm Humann, Villemain und Guizot zuflüsterten. Thiers, seine Antipathie, Thiers, mit dem er früher Minister war, setzte alle seine Verdrießlichkeit in Galle. Er sprach mit Nachdruck, jedes Wort betonend, jeden Accent seiner Gründe grell hervorhebend: »Ich kann Herrn Thiers versichern, daß alle seine Anklagen grundlos sind. Von zwei Projecten hab' ich das frühere beibehalten. Der Hafen wird rüstig vollendet, je nach dem Credit, den mir die Kammer bewilligt. 900 000 Franken werd' ich auch im nächsten Jahre fordern. Wenn die Kammer mehr geben will, nehm' ich es mit Vergnügen an.« Diese Ironie des alten Säbelknopfes, mit trockner Miene vorgetragen, erregte viel Heiterkeit. »Ich will nur 900 000 Franken haben, will mir die Kammer 20 bis 30 Millionen geben, so bitt' ich um Entschuldigung, daß ich sie noch nicht verlangt habe.«

Unter großem Lärm verließ Soult die Tribüne. Thiers erhob sich von seinem Sitze und wies mit Leidenschaft die Berichtigung einiger seiner Behauptungen zurück. »Man hat in Algier,« sagte er, »schöne Straßenquais gebaut, aber keinen Hafen. Die Hafenarbeit geht langsam. Sagt das Ministerium, sie ginge rasch, gut, so will ich's glauben.« Der Lärm nahm über diese Ironie zu. Thiers fuhr fort: »Die Kammer und das Land sind von mir über den Hafen von Algier in Kenntniß gesetzt. In der nächsten Kammersitzung (nach den neuen Wahlen) wollen wir sehen, ob das Ministerium seinen Versicherungen auf dieser Tribüne nachgekommen sein wird, seinen Worten –«

»Seinen Worten?« rief Soult mit Stentorstimme. Die lange Gestalt schoß wie ein getroffenes Wild empor. »Seinen Worten? Was ich sage, ist so wahr, wie nur irgend etwas, was aus – Ihrem Munde kommt!«

Die Debatte wurde persönlich. Es lag der ungezähmteste Haß in dieser Erklärung, die Enthüllung von zahllosen Geheimnissen, die Enträthselung tausendfach verzweigter Intriguen. Es war die Erklärung einer Generation gegen eine Generation.

Thiers replicirte. Soult antwortete noch einmal sehr heftig, sehr persönlich gereizt, mit aller Empfindlichkeit des Alters. Er schloß mit einer Erklärung gegen England; denn gegen England waren ohne Zweifel die mit Enthusiasmus aufgenommenen Worte gerichtet: »Nous sommes maîtres chez nous et nous n'avons pas besoin du consentement des autres, pour faire ce que nous voulons.«

Die Culmination der Sitzung war erreicht. Was noch kam, war Wortgefecht, Berryer verlangte die Vorlegung von Documenten über den Bau des Hafens. Teste, Minister der öffentlichen Arbeiten, kam noch einmal auf die beiden Projecte zurück. Ich kann nicht sagen, daß ich in Herrn Teste's Redeweise die Würde gefunden hätte, die man von den Erklärungen eines Ministers voraussetzt. In heftiger Declamation, in leidenschaftlichstem Erguß verlor er sich bis zu Persönlichkeiten. »Herr Thiers rühmt sich, uns 100 Metren vom Hafen zu Algier hinterlassen zu haben? er hat uns noch mehr hinterlassen, er hat uns die Befestigungen von Paris hinterlassen.« Hier konnte man kein Wort mehr verstehen. Alles war in Aufruhr. Statt des Très bien, das man als Antwort der Kammer in allen ministeriellen Journalen lesen kann, antwortete ein allgemeiner Unwille. Es war indiscret von Herrn Teste, an dieses unpopulaire Vermächtniß der Thiers'schen Verwaltung zu erinnern. Das Unzarte dieser Worte lag in dem Ton, in der Manier, in der sie Teste sprach. Diese Manier schien mir zuweilen übertrieben empfindlich, zuweilen völlig würdelos. Es war, als wollte er die Karten hinwerfen und sagen: Mit Euch ist kein Spiel. So sehr auch dies Gefühl die Minister dieses sonderbaren Landes nicht selten überkommen muß, so unpassend ist es doch, es äußerlich zu zeigen. Unter Lärmen und Toben ging Herr Teste von der Tribüne. Es suchte Jemand nach ihm zu sprechen. Es war nicht mehr möglich, ihn zu verstehen. Der Präsident hob die Sitzung auf. Es war nach sechs Uhr.

Man wünschte mir Glück, daß ich unter den vielen flauen Sitzungen der letzten Zeit grade dieser charakteristischen, inhaltreichen und bewegten beigewohnt hatte. Ich glaube nicht, daß dieser Kammer Frankreich ein großes Glück verdankt, aber ich glaube, daß sie Frankreich vor Unglück bewahrt. Ich glaube, daß Staatsmänner in Frankreich diese Versammlung umgehen können, aber nur für Gutes, das sie thun wollen, nicht für Schlechtes. Diese Kammer ist schwach als Initiative, aber stark als Controle. Sie ist nicht Frankreichs größter Reichthum, und doch würde das Land ohne sie arm sein. Es ist gut an dieser großartigen Institution, daß man, will man sie auf fremdem Boden nachbilden, alles Das, was sie klein macht, vermeiden kann. Ihre Vorzüge liegen in ihrem Wesen, ihre Mängel in einer zufälligen Form. Das Repräsentativsystem leidet in Paris an der Nationalität der Franzosen und an der nachwirkenden Kraft einer Geschichte, die erst allmälig aus der Anarchie der Leidenschaften zum Bewußtsein der Freiheit und des Gesetzes sich entwickelt hat.


 


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