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Das Haus, in welchem die Frau Welscher wohnte, das ehemalige Kapuzinerkloster, war von außen durch die dasselbe umgebenden Häusermassen der benachbarten engen Straßen und des Stadtgrabens kaum sichtbar; es hatte sich, des Unschönen seines Aeußern bewußt, bereitwillig versteckt und war zufrieden, daß blos sein einziger allenfalls schöner Theil, – es war ein riesenhafter, treppenförmiger Hausgiebel, – über die andern Dächer hinwegblickte und daß eine alte rostige Wetterfahne mit stattlichem Kreuze heute noch, wie schon vor ein paar hundert Jahren, von den umliegenden Höfen deutlich gesehen wurde. Auch im Innern war das Kloster zur Zeit seines Bestehens in der damaligen Umgebung wenig interessant gewesen; heute aber, wenn man durch die Straße kam, wo all' die neuen Häuser standen, mit viereckigen Fenstern und eben solchen Thüren, geraden Treppen und hellen Gängen, konnte man sich eines gewissen Eindrucks nicht erwehren, wenn man in das ehemalige Kloster trat.
Der Eingang war in dem erwähnten kleinen Hofe, und an der massiven Thüre sah man deutlich das verstümmelte Wappen des gräflichen Geschlechts, unter dessen Protectorate das Kloster erbaut ward; hinter dieser Thür, die Tag und Nacht offen stand, gähnte ein langer finsterer Gang dem Eintretenden entgegen, und es dauerte eine Zeit lang, ehe in die Finsterniß einiges Licht kam, und zwar, wenn es draußen nicht gar zu dunkel war, durch eine kleine viereckige Oeffnung, die ins Freie gieng; dann bemerkte man, wenn sich das Auge etwas an die Dunkelheit gewöhnte, im Hintergrunde des Ganges von oben herab eine dürftige Helle, welche bei längerem Hinstarren die Formen einer alten Wendeltreppe erkennen ließ. Diese Helle kam aus dem ersten Stock, wo sich eine kleine Weinwirthschaft befand, welche recht sinnig das Refectorium des Klosters zu ihrem Gastzimmer gemacht.
Von den untern Räumen des Hauses war nichts bewohnbar, und in diesem feuchten, dunklen Gewölbe wurden Fässer aufbewahrt und allerlei Geräth, das den Miethsleuten des Klosters im Wege stand.
Die Wendeltreppe war von Stein und die einzige bequeme Einrichtung im Hause; gehörig breit und solid, wie sie war, konnten die Leute des Hauses die schwersten Lasten bequem auf ihr transportiren. Für die Kinder dieser Hausbewohner war sie nebenbei eine Quelle beständigen Vergnügens und ein Gegenstand stillen aber angenehmen Grauens; auf ihrem breiten Geländer rutschten die Knaben von oben hinunter, und auf den ungeheuren Ruheplätzen trieben die Mädchen ihre harmlosen Spiele. Vom zartesten Lebensalter an bis zu der Zeit, wo man die Schule verläßt, tummelten sich die Kinder, die in dem Kloster wohnten, auf der Treppe herum, und auf dem alten Steinwerk jauchzte und lachte es den ganzen Tag, rumorten und krabbelten eine Menge kleiner Geschöpfe beständig auf und nieder. Diese Treppe war ihre Gouvernante, ihre Amme, ihre Kleinkinderbewahr-Anstalt, und das dauerte den ganzen Tag, bis der Schatten des Abends begann zuerst den Fuß der Treppe und den untern Gang in tiefe Dunkelheit zu hüllen, und nun das erste Stockwerk, wo schon größere Fenster waren, und alsdann das zweite und zuletzt das dritte, wo ein großer Bogen im Dache die Treppe so lange erleuchtete, als überhaupt das Licht in der Natur noch nicht vollständig verschwunden war. Die, Kinder folgten allabendlich dem verschwindenden Licht, und dann hörten die lärmenden Spiele der Buben auf, sie kauerten zu den Mädchen hin auf den großen Ruheplätzen, zuerst auf dem ersten Stocke und dann auf dem zweiten, und wenn ihnen die unerbittliche, finstere Nacht überall geheimnißvoll und düster folgte, so saßen sie zuletzt noch an dem großen Dachbodenfenster und schauten in die goldene Abendluft und ließen ihre Gesichtchen bestrahlen von der letzten Gluth der untergehenden Sonne. In solchen Momenten stockte die lustige Unterhaltung der Kleinen, und aus dem dunkeln Treppenhause schienen schwarze Schatten emporzusteigen und mischten sich in die kindlich-frohen Gespräche; alsdann fröstelte es sogar den kecksten unter den Buben, die Kinder jedes Stockwerks drängten sich eng zusammen und suchten hastig, den Beherztesten an der Spitze, ihre Stuben auf, und bald war die Treppe leer und lag einsam und ausgestorben da.
Es ging nämlich die Sage, es sei in dem alten Kloster zur Nachtzeit nicht geheuer, und die verstorbenen Kapuziner wandelten oft gespensterartig darin herum; namentlich wäre, so hieß es, der Bruder Pförtner ein unruhiger Gesell und erscheine allabendlich auf der Erde, um sich schmerzlich zu überzeugen, daß die Thür, die er so sorgfältig verschlossen, allnächtlich offen stehen bliebe. Der Bruder Pförtner, dessen Ebenbild aus Holz geschnitzt mit einem großen Schlüsselbund am Gürtel unten an der Treppe stand, war übrigens ein harmloses Gespenst und hatte nie Jemanden etwas zu Leide gethan; viele Bewohner des Hauses erzählten gern und bereitwillig, daß ein Bruder, ein Onkel, eine Tante, ein Vetter den Kapuziner deutlich wandeln gesehen. Einer sogar behauptete, er habe ihn selbst husten gehört, und ein Schuster im dritten Stock, der von seinen stillen Wirthshausfreuden schon zu jeder Stunde der Nacht nach Hause gekommen war, sagte aus: Den Kapuziner habe er eigentlich nicht gesehen, wohl aber sei er im Stande, tausend Eide zu schwören, daß in einer Nacht die Statue an der Treppe verschwunden gewesen sei; er habe mit den Händen auf den leeren Fleck gefühlt, und am andern Morgen sei sie wieder unten gestanden, wie immer.
Tiefe Stille lag heute Abend in den untern Räumen des alten Hauses, sogar in der Schenkstube befanden sich des schlechten Wetters wegen nur zwei Gäste, welche vor dem helllodernden Feuer saßen, dessen Schein es war, welcher durch eine Oeffnung in der Thür die Treppe etwas Weniges beleuchtete; von hier aber ging sie finster in den zweiten Stock und lag da schmutzig und unreinlich mit Gemüse-Abfällen und Strohhalmen bedeckt; die Kalkwand, an der man sich hinauffühlen mußte, war glänzend und unangenehm schlüpfrig; im zweiten Stock waren die Bewohner alle in ihren Zimmern, darum hier Alles finster, und es kostete einige Mühe, in den dritten Stock hinauf zu tappen, wo die Frau Welscher wohnte.
Man muß nicht glauben, daß diese würdige Frau so hoch hinaufgezogen wäre, um wohlfeiler in der Miethe zu sitzen, sie hatte vielmehr die großen Räume und Bodenkammern, die zum Trocknen ihrer Wäsche unerläßlich waren, ins Auge gefaßt, sowie eine feuerfeste, gewölbte Küche, die ihr sehr zu Statten kam. Aus dieser Küche nun brach, so oft sich die Thür öffnete und so oft die hin- und herlaufenden Dienstmädchen die großen Ofenthüren aufstießen, ein gewaltiger Feuerschein auf den Gang hinaus und beleuchtete die schwarzen Wände und das Geländer der Treppe blutroth.
Die Wäsche der Frau Welscher war an dem heutigen Tage in jenes Stadium getreten, wo sie durch Bügeln einen sanften Glanz erhält und die letzte Hand an sie gelegt wird. Dieses Geschäft wurde im großen Wohnzimmer rechter Hand versehen, und alle Augenblicke öffnete sich die Thür und liefen die Mädchen zur Küche, um neue glühende Bolzen zu holen; die Ofenthür wurde mit einer eisernen Stange aufgestoßen, und dann sah es aus wie in einem kleinen Hochofen: eine unendliche Gluth strahlte heraus, und die Bügelstähle lagen darin roth und weiß glühend; hie und da fiel eines dieser glühenden Eisen auf den Steinboden, dann zischte die Feuchtigkeit desselben hoch auf, die Mädchen schrieen und suchten mit roth angestrahlten Gesichtern den Deserteur zu fangen und sperrten ihn lachend in das schwarze Bügeleisen.
In dem Wohnzimmer der Frau Welscher sah es nun recht behaglich und freundlich aus; dieses Wohnzimmer war zugleich das Schlafgemach der Frau selber, und das große Ehebett stand in der Ecke hinter dem Ofen. Leider war dieses Bett seit dem Tode des seligen Herrn Welscher viel zu groß für die einsame Frau, da sie sich nie entschließen konnte, ihrem ersten Manne einen Nachfolger zu geben.
Zwei große gothische Fenster gingen auf den ehemaligen Stadtgraben und zeigten bei Tage ein gutes Theil Dächer und Schornsteine der neueren Stadttheile. Das Wohnzimmer war ordentlich und reinlich möblirt. Doch sah man jedem einzelnen Stücke an, daß es schon lange Zeit gedient; auch war in der Farbe der Stühle von Eichenholz, sowie in dem Getäfel, welches durch das Zimmer lief, eine Harmonie eingetreten, die deutlich anzeigte, daß beide schon lange Jahre zusammen gewohnt hätten und älter geworden seien. Und so war es auch. Diese Wohnung hatte die Mutter der Frau Welscher schon lange Jahre vor ihrem Tode inne gehabt und hier dasselbe Geschäft getrieben, von dem die Tochter jetzt ihren Lebensunterhalt zog.
In der linken Ecke des Zimmers stand ein großes Sopha, seine gepolsterten Arme mütterlich weit geöffnet und in seiner auffallenden. Größe im Stande, eine ganze Familie allliebend zu umschlingen. Hier befand sich die nachwachsende Familie Welscher, bestehend aus zwei Mädchen und einem Buben, erstere im Alter von acht und sieben Jahren, der männliche Sprößling dagegen ungefähr sechs, alle drei gesunde und wohlgebildete Kinder.
Die beiden Fräulein Welscher saßen auf dem Sopha und buchstabirten in einem Bilderbuche; sie lasen einförmig und im strengsten Takte, wie es Kinder zu machen pflegen und was von Weitem klingt, wie der gedämpfte Ton einer melancholischen Straßenorgel. Der Sprößling aber stand hinter den Schwestern mit seinen beiden Füßen auf dem Sopha, hielt in der einen Hand einen gebratenen Apfel, in der andern ein ansehnliches Stück Butterbrod und sprach diesen beiden Leckerbissen sehr eifrig und mit der größten Unparteilichkeit zu. Das Bilderbuch der Schwestern handelte von der Naturgeschichte und erzählte von den einzelnen Eigenschaften, von den Fehlern und Tugenden der Hausthiere, und so oft die Schwestern sich bemühten, den Namen eines dieser nützlichen Geschöpfe auszusprechen, so bemühte sich der Herr Bruder mit vollen Backen und im schnarrenden Tone die Stimme dieses Thieres täuschend darzustellen und die eigenthümlichen Bewegungen desselben sehr geschickt zur Anschauung zu bringen. Bald krähte er wie ein Hahn und schlug dabei mit den Händen, daß Apfelblocken und Stücke Butterbrod in der Stube herumflogen, bald bellte er wie ein Hund und versuchte eine der Schwestern gelinde zu beißen, welche ihn statt aller Antwort vom Sopha herunterwarfen, worauf er alsdann mit einem großen Geschrei wieder hinaufkletterte.
Mitten in der Stube befand sich eine lange Tafel, an welcher von drei Frauen eifrig gebügelt wurde; sie hatten einen ganzen Berg von fein geglätteter Wäsche vor sich aufgehäuft, und wenn sie sich gerade auf ihre Arbeit bückten, so sah man nichts, als ihre Hände mit den Bügeleisen, die eifrig und unaufhörlich rechts und links hinausfuhren. Die Dienstmädchen trugen die abgekühlten Eisen fort und brachten dafür andere mit glühenden Stählen; dies war ein kleiner Moment, wo ausgeruht wurde, darnach ergriff jede der Frauen ein frisches Bügeleisen, hielt es einen Augenblick an die Wange, um zu erproben, ob es nicht gar zu heiß sei, und fing wieder an zu arbeiten. In dem Zimmer herrschte bei solchen Veranlassungen die gewöhnliche dunstige und feuchte Atmosphäre, welche eine große Masse frischer Wäsche mit sich bringt; dazu klapperten die Bügeleisen und zischte die feuchte Leinwand, die beiden Schwestern lasen fort und fort, der Bruder lärmte und schrie, und auf dem Ofen schmorten einige Aepfel mit leisem singenden Geräusch und gaben in dem allgemeinen Dunst ihren eigenthümlichen Geruch ab.
Wenn jedoch der Lärm des Buben zu arg wurde oder die feuchte Leinwand zu heftig zischte, so ließ sich aus der Ecke des Zimmers die feine zitternde Stimme einer alten Frau vernehmen, die dort Ruhe, hier Vorsicht gebot; überhaupt schien diese wirklich sehr alte Frau in Abwesenheit der Herrin des Hauses die Aufsicht zu führen. Sie saß an einem kleinen Tischchen in der Nähe eines der gothischen Fenster, und ihr schneeweißes Haar, das sie zurückgestrichen unter einer altmodischen, sehr reinlichen Haube trug, sowie die eingeschnittenen Gesichtszüge zeigten ihr sehr hohes Alter.
Wenn ich sie vorhin Frau nannte, so habe ich sehr Unrecht gethan, denn sie war die vierundachtzig Jahre alte Jungfer Kiliane und ihres Zeichens erste Büglerin, als welche sie in der ganzen Stadt bekannt und respectirt war. Ihr Anzug bestand in einem altmodischen Cattun-Ueberrock und gekräuselten Busenstreifen von demselben Stoff, mit sehr kurzer Taille; vor sich hatte sie feine Damenwäsche, der sie mit einem kleinen zierlichen Bügeleisen die letzte Vollendung gab; zu ihrer Linken war eine Näherin, der die fehlerhaften Stücke hingereicht wurden, und welche Knöpfe und Bändel hinnähen mußte. Jungfer Kiliane trug eine große Brille und hatte trotz der starken Hitze, die im Zimmer herrschte, die Füße auf einer Wärmflasche stehen. Zu ihrer rechten Seite saß an einem größeren Tische eine andere Gestalt, die wir etwas näher ansehen müssen.
Es bedarf nur eines Blickes auf die Nadel, welche dieselbe, ein junger Mann von vielleicht dreiundzwanzig bis vierundzwanzig Jahren, in der Hand hielt, sowie auf seine nach orientalischer Weise untergeschlagenen Beine, um vollkommen gewiß zu sein, daß wir es mit einem Schneider zu thun haben; auch müssen wir leider hinzufügen, daß der junge Mann nur ein Flickschneider war. Wir können dies mit dem besten Willen unmöglich verheimlichen, denn er war gerade im Begriffe, an einem Beinkleid des jungen Herrn Welscher einen defect gewordenen, sehr notwendigen Theil zu ergänzen. An der ganzen Figur des Schneiders ist vor der Hand nichts Auffallendes und Bemerkenswerthes, als ein wirklich ausdrucksvolles Gesicht, sehr weiße Hände und eine gewisse gute Manier, mit welcher er sein volles, blondes Haar um den Kopf geordnet hatte; fing er aber an zu sprechen, so bemerkte man einen gelinden Zungenanstoß, verbunden mit der Schwierigkeit, den Buchstaben St auszusprechen, welchem Naturfehler er dadurch abzuhelfen suchte, daß er auf dem S so lange verharrte, bis er in den Bereich des T kam und alsdann krampfhaft über dasselbe herfiel und es festhielt.
Bis jetzt fanden wir keine Gelegenheit, diese seltsame Sprachweise zu vernehmen, denn Alles war mit seiner Arbeit beschäftigt, und Niemand hatte Zeit, eine Conversation anzuknüpfen. Endlich jedoch fing die Schwarzwälder Uhr neben dem Ofen sehr laut an zu schnarren und schlug darauf hell und vernehmlich sieben Mal; was den jungen Herrn Welscher außerordentlich zu beunruhigen schien, denn er versicherte mit vollen Backen und immerfort kauend, daß es jetzt schon sieben Uhr sei, und er um diese Zeit gewöhnlich sein Nachtessen bekomme.
Jungfer Kiliane, welche ihrem Gehör nicht recht traute, blickte die Uhr einen Augenblick durch ihre Brille fest an und sagte: »Wahrhaftig, es ist schon sieben Uhr, ich weiß nicht, wo die Frau bleibt.« »Die Frau,« entgegnete der Schneider, »bleibt selten über sieben Uhr aus, und ich glaube fassss-t, es issss-t ihr etwas Sonderbares begegnet.«
»Sie werden sie im Gasthof lange aufgehalten haben, es ist eine englische Familie dort mit drei erwachsenen Töchtern und die können mit ihrer Wäsche nie ein Ende finden.«
»Es sind überhaupt gar sonderbare Leute, diese Engländer, bessss-tändig mißvergnügt, haben viel Geld und sind dabei sehr knauserig. Gott, wenn ich so viel Geld hätte! ich habe mir oft gedacht, Jungfer Kiliane, wenn ich viel Geld hätte, was das für ein Leben gäbe.«
»Nun, was war' es weiter?« fragte die alte Jungfer.
»Zu erben habe ich eigentlich gar nichts,« seufzte der Schneider, »und wenn die ganze Welt ausssss-türbe, so bekäme ich doch in rechtmäßiger Weise keinen Kreuzer; aber die Lotterie, das issss-t mein Trost, meine Hoffnung.«
»So? spielt Er in der Lotterie?« fragte die Kiliane.
»Das nicht,« entgegnete der Schneider, »man muß das Glück seinen eigenen Weg gehenlassen, ihm bei Leibe nicht vorgreifen, auch hab' ich kein Geld dazu; doch denk' ich immer, ich bekomme einmal ein Loos geschenkt und dieses Loos gewinne den höchssss-ten Satz.«
Die alte Büglerin schüttelte mit dem Kopf und meinte, da könne er lange warten.
»Das glaub' ich auch,« versetzte der arme Flickschneider und ließ einen Augenblick die Hand mit der Nadel sinken, »und doch issss-t der Gedanke so schön, es sind meine seligssss-ten Träume, daß, wenn eines Tages der Collecteur zu mir hereinträte und während er spräche: Lieber Herr Dubel , sich vor Freude und Rührung die Augen mit seinem Sacktuch abwischte, lieber Herr Dubel, Sie haben das große Loos gewonnen, – dieser Augenblick wär' wahrhaftig selig.«
Die Kiliane lächelte bei diesen Worten und sagte: »Jetzt wär' ich doch begierig, was Er mit all' dem Gelde anfienge, wenn man Ihm so zehn Säcke voll Doppel-Louisd'or ins Haus schleppte. Er kaufte Sich zuerst ein schönes Haus und neue Kleider?« Und dabei sah die alte Person fragend in die Höhe.
Herr Dubel schüttelte still lächelnd mit dem Kopf.
»Nicht? Nun Er würde sich ein großes Logis nehmen, einen Koch anschaffen, Equipage halten.«
Herr Dubel schüttelte abermals mit dem Kopf.
»Auch das nicht?« fragte verwundert die Kiliane, »Er wird doch alsdann nicht Flickschneider bleiben wollen?«
Der Schneider steckte die Nadel auf sein linkes Knie, fuhr mit seiner weißen Hand durch die vollen Haare und schaute, wie in seligen Gedanken versunken, schmunzelnd an die Decke. Nach einigen Augenblicken, während welcher die alte Büglerin ihn aufmerksam ansah und selbst ihr Eisen ruhen ließ, sagte der Schneider: »Sieht Sie, Jungfer Kiliane, ich würde alsdann meinen Gedanken ausführen, den ich schon seit meiner frühssss-ten Jugend im Heizen trage, eine Schwärmerei, der ich mich nicht entschlagen kann, eine Lieblings-Idee, die mich verfolgt bei Tag und bei Nacht, ich würde nämlich – aber Sie wird lachen, Jungfer Kiliane, – ich würde nämlich Theater-Director werden.«
»Theater-Director?« sagte erstaunt die Büglerin und ließ ihre Hände in den Schooß fallen.
»Ja,« fuhr der Herr Dubel eifrig fort, »Theater-Director, Heger und Pfleger dieser schönen Kunssss-t, ich würde ein solches Regiment, einen solchen Herrscherssss-tab nicht mit dem Zepter eines Kaisers vertauschen; wäre ich nicht reicher und mächtiger, wie jedes gekrönte Haupt, ssss-tänden mir nicht alle Theile dieser Welt, alle SSSS-tände dieser Erde zu Gebot? Ich will nach Asien! ein Zug an der Klingel und Asiens Palmenwälder, Asiens Bambushäuser ssss-tehen vor meinem erssss-taunten Blick und aus allen Büschen schweben die Bajaderen hervor und loben mich, ihren Gebieter. Zu heiß issss-t mir diese Luft, zu drückend; ich will die brennende Brussss-t kühlen am Eise des Nordpols; noch einige tausend Meilen weiter, wie selbssss-t Franklin und Roß gekommen, will ich die Schneeluft genießen – Verwandlung, und es ssss-tarren die Eismassen empor, ein ewig zugefrorenes Meer liegt unabsehbar vor mir ausgebreitet, das Eis kracht, der Seevogel krächzt, die Einsamkeit thut dem Herzen wohl. Doch bin ich endlich übersättigt von dem einförmigen Anblick dieser ssss-tarren Massen – zurück nach dem Süden! italienische Luft, italienischer Himmel, ein Gasthaus in Terracina, das Schlafgemach der schönen Zerline!«
Bei dieser heftigen Rede schüttelte die Kiliane erstaunt den Kopf und sagte: »Nehm' Er's mir nicht übel, Dubel, aber dergleichen schiefe Ansichten kommen von dem Lesen der vielen confusen Bücher her, mit denen Er sich abgibt.«
Der Schneider hatte seine Scheere auf den Schenkel gestützt, ungefähr in der Art, wie gemalte Marschälle ihren Stab zu handhaben pflegen, und schaute triumphirend um sich, indem er fortfuhr: »Und das alles wäre mein, und das alles hienge an dem Blick meines Auges und hoffte und fürchtete bei dem Zucken meiner Wimper – o, ich wäre ein glückseliger Mensch, ich dürfte mich in den Coulissen aufhalten, ich dürfte mit den hochmüthigen Schauspielerinnen ganz vertraulich sprechen, dürfte den coquetten Sängerinnen einen kleinen Verweis geben und dürfte mit den niedlichen Tänzerinnen lachen und scherzen, und dabei wäre ich nicht blos geduldet, ich wäre die Person, um welche sich Alles dreht; vor mir zieht der Theaterdiener seinen Hut, und mich betrachtet der erssss-te Held in ssss-tiller Ehrfurcht ... O Gott, das wird aber nie sein, und ich werde mein Lebtag nichts werden, als ein erbarmungswürdiger Flickschneider!« –
Hastig warf er die Scheere in der Hand herum und begann auf dem Tische mit großem Geklapper ein Stück Zeug zuzuschneiden; die Kiliane verfolgte mit ihrem kleinen Bügeleisen aufmerksam und hartnäckig eine eigensinnige Falte, die sich unbefugter Weise in eine Chemisette eingeschlichen, und vertilgte sie endlich nach längerem Kampfe.
Die Bügeleisen klapperten wie zuvor, die Leinwand zischte, die Uhr pickte, und es war dasselbe Geräusch und Gesumme, wie den ganzen Abend, mit dem kleinen Unterschiede, daß der junge Herr Welscher eingeschlafen war und ein außerordentlich heftiges und tactmäßiges Schnarchen hören ließ. Eine der Büglerinnen meinte, es wäre, als säge er einen eichenen Block durch, und eine andere setzte lachend hinzu: »Ja, und jetzt kommt er wieder an einen harten Ast, und da springt ihm die Säge zurück.«
Jungfer Kiliane hatte die Falte ausgerottet und nahm das vorige Gespräch wieder auf, indem sie sagte: »Aber wenn Er so viel Lust zum Komödienspielen hat, warum geht Er nicht hin und wird Schneider bei der Theater-Garderobe?«
»Ich habe früher auch daran gedacht,« entgegnete Herr Dubel, »und ich will Ihr gessss-tehen, daß ich mir einssss-tens alle Mühe gab, eine solche SSSS-telle zu erhalten, doch kam ich davon zurück, denn es issss-t ein ganz poesieloses und ärmliches Geschäft. Was issss-t so ein Theaterschneider? Den Tag über sitzt er zusammengekrümmt und muß nähen, bis die Nadel glüht, ach, und all' die schönen Kleider, die Abends auf dem Theater so herrlich ssss-trahlen und glänzen, setzt er zusammen aus geringen, schlechten SSSS-toffen, und die herrlichen SSSS-tickereien, womit sie prangen, sind nur elendes Flitterwerk, das er aufnäht, und kommt nun endlich die SSSS-tunde, wo der glückliche Künssss-tler ssss-tolz in seine Garderobe tritt, so issss-t der arme Schneider sein unterthäniger Diener, und muß sich hudeln lassen nach der Laune des Herrn, ja, nach dem Charakter der Rolle, die er gerade spielt. Tritt der Schauspieler als König auf, so issss-t der Schneider der Sclave, und der Tyrann, welchen er anzieht, lässss-t ihn für ein fehlendes Band, für eine etwas kurze Taille grimmig merken, wie es ihn nur Ein Wort kossss-te, um ihn lebenslänglich auf die Galeere zu schicken, oder wie er nichts Anderes verdiene, als unter dem Beil des Henkers zu fallen. Hat er den Anzug eines feilen Bösewichts, eines entsetzlich schlechten Kerls zu besorgen, so erhält er die heimtückischssss-ten, boshaftessss-ten Redensarten für einen kleinen Fehler: er solle Gift saufen bei der nächssss-ten Veranlassung, wünscht ihm der schlechte Charakter, oder er fährt plötzlich mit der Hand nach der verborgenen Tasche seines Rocks, wo er den Dolch aufbewahrt. Und auf diese Art, Jungfer Kiliane, muß sich so ein armer Teufel abplagen und muß bald hier, bald da sein. Kaum hat er den König und den Bösewicht angezogen, so ersucht ihn der würdige Hausgeissss-tliche, ihn endlich auch einmal zu bedienen, zuerssss-t würdevoll und liebreich, wie es die Rolle vorschreibt, dann aber heftig, wie in der Ermordungs-Scene des SSSS-tückes, und issss-t dieser endlich befriedigt, so muß er einen Trabanten anziehen, bis er, wenn das Zeichen zum Anfange des SSSS-tückes gegeben wird, ermattet in einen SSSS-tuhl fällt, und auch jetzt noch keine Ruhe, keine Idee, daß er hinter den Coulissen ssss-tehen und das SSSS-tück mit ansehen dürfe; der erssss-te Liebhaber hat während des erssss-ten Acts seinen Mantel umzunehmen, und der unglückliche Schneider wird mit dem Mantel an die letzte Coulisse possss-tirt, hinter einem alten Felsen und muß dort das SSSS-tichwort abwarten. – Jetzt schreit der Held:
Zu den Waffen, tapfere Gefährten, Nieder mit dem Tyrannen!
und rennt mich beinahe um. Geschwind meinen Mantel! eilen Sie sich doch in's Teufels Namen, Sie sind entsetzlich ungeschickt! Jetzt springt er wieder auf die Bühne –
Hinaus in jene Wüssss-te – – –!«
»Er erzählt das so lebendig,« sagte die Jungfer Kiliane lachend, »als habe Er das selbst mit angesehen.«
»Das hab' ich auch,« entgegnete trübselig der Schneider; »einer meiner Bekannten issss-t in der Garderobe des Theaters und hat mich hie und da bei großen SSSS-tücken auf die Bühne geführt, zu Lust und Schmerz, und ich ging gewöhnlich mit zerrissenem Herzen nach Hause.«
»Nehm' Er mir nicht übel,« entgegnete die alte Büglerin eifrig, »aber Er hat gar viel verrückte Ideen in seinem Kopf, schlag' Er sich die Grillen aus dem Sinn und bleib' Er fleißig bei seinem Handwerk, da kann was Rechtes aus ihm werden; Er ist ein fleißiger und geschickter Mensch und würde dem ersten Meister der Stadt keine Schande machen; ich begreif Ihn wahrhaftig nicht, warum Er Flickschneider bleibt und nicht lieber in eine solide Werkstatt geht.«
Herr Dubel seufzte tief auf und entgegnete: »Weil ich meine Freiheit liebe, weil mich alles Rohe und Unelegante anekelt, ich habe die Gefühle eines reichen Mannes, ohne leider dessen Geld zu besitzen, ich kann nicht mit sechs Gesellen aus einer Schüssel essen, ich kann nicht mit zwei in einem Bett und mit vier in einer elenden Dachkammer schlafen; o Gott, ich kann's nicht!«– –
In diesem Augenblick öffnete sich die Thür, und die Frau Welscher trat ein, an der Hand ein kleines Mädchen führend, welches sich verwundert in dem Zimmer umsah, ebenso verwundert blickten die Büglerinnen auf die Frau und das Kind, es ruhte für einen Augenblick die Arbeit, und die Stille, welche im Zimmer herrschte, wurde nur durch das Picken der Uhr und das Schnarchen des Herrn Welscher unterbrochen; auch letzteres hörte in einigen Secunden auf, denn das Geschrei der kleinen Mädchen: »Mama, Mama!« erweckte den Sprößling, und er fuhr mit einem lauten Gebrüll in die Höhe und folgte schlaftrunken seinen Schwestern, welche mit dem Ausdruck des größten Erstaunens, ja mit einer Art von Schrecken das kleine Mädchen anstarren
Die Frau Welscher ließ das arme Kind in der Nähe des Ofens stehen und ging rasch durch das Zimmer zur Jungfer Kiliane hin, nicht ohne vorher einen prüfenden, sachkundigen Blick auf die Haufen fertiger Wäsche auf dem großen Tische zu werfen; sie nickte zufrieden mit dem Kopfe und sagte alsdann zu der alten Büglerin: »Kiliane, komm' Sie in's Nebenzimmer, ich hab' mit Ihr zu sprechen;« worauf die Alte ihre Brille ablegte, sie einen Augenblick kopfschüttelnd ansah und alsdann mit ihr in's andere Zimmer ging.
»Höre Sie,« sagte die Waschfrau, »die Marie ist gestorben, sie liegt in ihrem kleinen Zimmer neben der Winklere und hat auf der Herrgottswelt nichts zurückgelassen, als das kleine Mädchen, das ich eben mitgebracht; ich frag' Sie jetzt, Kiliane, was soll ich mit dem armen, kleinen Geschöpf anfangen, soll ich es nur für diese Nacht hier behalten und es morgen der Armen-Kommission übergeben, oder was meint Sie?«
Die Kiliane stemmte die linke Hand in die Seite, stützte mit der rechten das Kinn, wie sie gewöhnlich that, wenn sie nachzudenken pflegte, dann sprach sie ziemlich rasch und heftig: »Frau, darin kann ich nicht rathen, Sie hat selbst drei Kinder, und wenn Ihr Einkommen auch ziemlich ist, so muß man sich doch nicht leichtsinniger Weise fremder Leute Kinder auf den Hals laden, und obendrein welcher Leute Kind!«
»Die Marie war doch ein braves Mädchen.«
»Bis sie sich verführen ließ,« entgegnete die Kiliane, »und das Mädchen dort in die Welt setzte; aber was geht das mich an. Sagt mir Eure feste Meinung, Frau, und dann will ich Euch sagen, was ich denke, aber lasset Euch durch Euer gutes Herz nicht hinreißen; man kann der ganzen Welt nicht helfen, und wenn man das Seinige vor Gott redlich thut, so könnte man, mein' ich, schon zufrieden sein.«
Die Waschfrau legte ihre beiden Hände auf den Rücken und spazierte mit großen Schritten im Zimmer auf und ab; die Kiliane ließ den Kopf sinken und blinzelte unter ihrem mächtigen Haubenstreif mit einem seltsam pfiffig lächelnden Ausdruck auf die Frau Welscher hin. Die Kiliane hatte nämlich das beste Herz von der Welt, und wir sind überzeugt, daß sie in diesem Augenblick entschlossen war, das Kind selbst aufzunehmen, wenn die Frau Welscher sich veranlaßt sehen könnte, es fortzuschicken; doch so wie die Waschfrau das Factotum des ganzen Stadtviertels war, so war die alte Büglerin die oberste rathgebende Behörde bei der Frau Welscher selbst, und wozu die Kiliane rieth, das geschah unwiderruflich. In diesem wichtigen Falle nun wollte die Kiliane mit ihrem Rathe zurückhalten, bis sie einen festen Entschluß ihrer Freundin erfuhr, und dieser Entschluß ließ nicht lange auf sich warten.
Die Waschfrau blieb mitten in dem Zimmer stehen, schlug mit der linken Faust auf die rechte Handfläche und sagte entschieden: »Und wenn ich heute zum ersten Male Ihrem Rathe nicht folgen sollte, Kiliane, so behalt' ich dieses arme kleine Mädchen doch da; wo drei Kinder essen, kann auch ein viertes mithalten.«
Die Kiliane faltete die Hände, und ein paar Thränen rollten über ihr weißes Gesicht. »Gott weiß, daß Sie Recht hat,« sprach sie triumphirend, »vollkommen Recht, Frau, aber das war eine wichtige Sache, da mußte ich mit meinem Rathe zurückhalten, bis Sie mir Ihren festen Entschluß gesagt.«
Inzwischen war das Kind, über dessen Schicksal hier entschieden wurde, der Gegenstand der Aufmerksamkeit sämmtlicher Anwesenden; die Mägde, welche neue Bügelstähle holten, blieben einen Augenblick an der Thür stehen, die Büglerinnen schauten mehr auf das Mädchen, als auf ihre Arbeit, und sogar der Herr Dubel war von seinem Tisch herabgestiegen mit der Absicht, einen Blick auf die Uhr zu werfen, eigentlich aber, um die kleine Fremde zu beschauen; am gespanntesten aber waren die drei Kinder der Frau Welscher auf die Dinge, welche da kommen sollten; sie standen im Halbkreis um das Mädchen herum, eifersüchtig und halb gereizt, wie es kleine Hunde zu machen pflegen, wenn sich ein fremder Eindringling zeigt.
Das fremde Mädchen nun stand neben dem Ofen auf demselben Platze, wo die Waschfrau seine Hand losgelassen, und schaute verwundert in das seltsame Getriebe um sich; es mochte in einem Alter von sechs bis sieben Jahren sein, war ziemlich groß und zierlich gewachsen und hatte ein feines, blasses und sehr ausdrucksvolles Gesicht; lange, schwarze Locken, die früher sorgfältig geordnet waren, denen man aber ansah, daß in den letzten Tagen keine sorgsame Hand sich um sie bekümmert, beschatteten ihren Kopf, und ein großes glänzendes Auge gab den etwas ermatteten Zügen Leben und Bewegung. Der Anzug war ärmlich und bestand in einem Kleidchen von Wollenzeug, in dunklen Strümpfen und Schuhen, welche letztere offenbar einer erwachsenen Person angehörten. Um den Hals hatte das Mädchen seltsamer Weise einen langen, blauseidenen kostbaren Seidenstoff gewunden, wie ihn vornehme Herren zu einer guten Toilette zu tragen pflegen, und ihre Hände stacken in weißen, wenig beschmutzten Glace-Handschuhen, die ebenfalls einem Manne gehört hatten, und deren große Formen an den kleinen Fingern des Kindes sonderbar aussahen.
Jungfer Kiliane trat ein und ging stillschweigend an ihre Arbeit, die Frau Welscher machte einen Gang durch's Zimmer, sagte ihren Kindern ein freundliches Wort, lobte den Fleiß der Büglerinnen und setzte das fremde Mädchen auf einen Stuhl neben dem Ofen, nachdem sie ihm zuvor das blaue Tuch und die Handschuhe ausgezogen, Beides in ein Papier gewickelt und in einem Schubladenfache sorgfältig aufgehoben.
Mittlerweile war es acht Uhr geworden, die Dienstmädchen räumten einen der großen Tische ab, deckten ein sauberes, großes, leinenes Tischtuch darüber und brachten zinnerne Teller, Messer und Gabeln, sowie eine Schüssel voll dampfender Suppe und eine dergleichen voll Kartoffeln in der Schale, zu welcher ein Teller mit Gänsefett aufgesetzt und das Abendessen auf diese Art hergerichtet wurde. Alsdann setzte sich Alles zu Tische, die Jungfer Kiliane nahm den obern Platz an demselben ein, neben ihr saß der junge Herr Welscher, dann die Waschfrau selbst, dann das fremde Kind u. s. w. Das jüngste Fräulein Welscher, welches auf solche Art ihren Ehrenplatz neben der Mama verloren, aß vor Kummer und Neid heute Abend ihr Brod mit Thränen und konnte nur durch die ernsten Blicke der Mutter von einem förmlichen Attentat auf die arme Fremde abgehalten werden. Ueberhaupt zeigten sich sämmtliche drei Kinder nichts weniger als freundlich gegen dieselbe gesinnt, und der junge Herr Welscher, nachdem er zum Ergötzen der Dienstmägde unterschiedliche Grimassen gegen das Kind gemacht, warf ihm eine Hand voll zusammengeballter Kartoffelschalen zu, worauf er mit einer klatschenden Ohrfeige von der harten, knöchernen Hand der Kiliane belohnt wurde.
Mittlerweile war die gewaltige Suppenfluth versiegt, die Kartoffeln verschwunden, und die letzten Reste des Gänsefettes vertilgte der junge Herr Welscher mit einem Stück Brod. Der Tisch wurde abgeräumt, die alte Kiliane sowie die Büglerinnen richteten sich zum Nachhausegehen, erstere band sich eine schwarze Kapuze um den Kopf, hängte ein kleines Tuchmäntelchen um und steckte ihre Laterne an; letztere richteten die großen Haufen Wäsche auf einen Seitentisch zusammen, stellten die Bügeleisen auf einen Haufen und schlugen ein großes Tischtuch über die fertige Wäsche. Der Herr Dubel zog seinen Rock an, suchte seinen Hut hervor und rechnete mit der Waschfrau ab; diese Abrechnung war eigentlich mehr ein Tauschgeschäft zu nennen, denn der Schneider besorgte einen Tag in der Woche die Flickereien für die Familie, und dafür wurde ihm seine Wäsche umsonst besorgt, und man muß gestehen, daß diese Wäsche, wenn auch klein an Zahl, doch bestens in Ordnung war. Hiefür sorgte aber auch die Kiliane, und jedes Hemd, das dem Herrn Dubel gehörte, jedes Vorhemdchen, jeder Vatermörder wurde von ihr mit besonderer Aufmerksamkeit durchgesehen, und wir sind überzeugt, sie hätte einen Fehler in der Wäsche eines gräflichen Hauses übersehen, aber eine schlecht gebügelt Weeste des Herrn Dubel hätte sie nicht durchgehen lassen. Dafür war der junge Mensch aber auch voll Artigkeit gegen die alte Person, las ihr Abends, ehe das Licht gebracht wurde, an den Tagen, wo er bei der Frau Welscher arbeitete, die Zeitung vor, begleitete sie, wie auch heute, nach ihrer Wohnung und führte sie dabei sorgsam, wie es nur ein Enkel thun kann, der überzeugt ist, daß ihm seine Großmutter ein bedeutendes Vermögen zu hinterlassen Willens ist.
Heute Abend machte sich die Kiliane in ihren Taschen Einiges zu schaffen, ehe sie schied, dann pätschelte sie beim Weggehen das fremde Kind auf den Kopf und drückte ihm etwas in die Hand.
Es wurde nun von allen Seiten gute Nacht gewünscht, – »wohl zu schlafen,« – »bis morgen also« – und bald war die Stube der Frau Welscher leer und man hörte nichts mehr, als das Picken der Uhr, das Sausen des Windes, welcher Regen und Schnee an die Fenster trieb, und dazu wie früher das Schnarchen des jungen Herrn Welscher, der nach genossenem Abendbrodt auf dem Sopha wieder eingeschlafen war.
Die Waschfrau ordnete das Zimmer, richtete die Stühle an ihren Platz und nahm ein großes Buch vor, worin sie Soll und Haben für ihre Kunden eintrug, ins Soll so und so viel Dutzend Hemden, ins Haben die geleistete Zahlung. Nachdem dieses Geschäft beendigt, rief sie ihre beiden Töchter zu sich und sagte ihnen mit kurzer, aber eindringlicher Rede, das fremde Kind werde auch ferner bei ihnen wohnen und müsse artig und freundlich behandelt werden; wer nicht also thue, der werde sehen, wie es ihm gehe. »Es ist aber bald Weihnachten,« sagte die Frau und rechnete an den Fingern, »ihr könnt euch denken, wenn das heilige Christkind kommt und erfährt, daß ihr gegen ein fremdes, armes Kind unartig gewesen seid, so wird die Bescheerung für dieses Mal schlecht ausfallen. Wer von euch will zu eurem kleinen Bruder ins Bett und wer will bei dem Mädchen schlafen?«
Auf diese Frage erfolgte keine Antwort, vielmehr zogen sich die zwei Gesichter der Fräulein Welscher bedächtig in die Länge, und die beiden Schürzen derselben dirigirten sich unwillkürlich gegen zwei Paar feuchte Augen.
»Wer will bei dem fremden Kinde schlafen?« fragte die Frau abermals. »Du, Emilie?«
Ein Kopfschütteln war die Antwort.
»Du, Sophie?«
Ein zweites Kopfschütteln.
»Schön,« antwortete die Frau, »also wird das Kind im Bett der Mama schlafen.«
Das war für die beiden Mädchen ein fürchterlicher Schlag, denn das Mama-Bett wurde von den Kindern wie ein Heiligthum betrachtet, und nur bei leichtem Unwohlsein oder bei einer außerordentlich guten Aufführung war einem hie und da erlaubt worden, in demselben bei der Mutter zu schlafen.
Das Mama-Bett hatte aber auch namentlich Winters außerordentlich schätzbare Eigenschaften: in demselben befand sich eine gute, sehr breite Matratze und ein sehr dickes und weiches Federbett, und dann stand es auch in der Nähe des Ofens und war dadurch beständig von einer behaglichen Wärme durchströmt.
Genug. Die beiden Töchter brachen bei dieser Erklärung der Mutter in ein lautes Weinen aus, dem sich der junge Herr Welscher, aus dem zweiten Schlaf erwachend, abermals und jetzt mit einem furchtbaren Gebrüll anschloß. Das fremde Kind drückte sich zitternd hinter den Ofen und wußte nicht, was mit ihm geschehen würde.
Nach einigen Secunden aber erklärte sich Emilie bereit, das fremde Mädchen zu sich ins Bett zu nehmen, und wie schon hier auf Erden die Belohnung einer guten That oftmals rasch erfolgt, so auch jetzt: Emilie wurde in das Mama-Bett spedirt, Sophie und der Herr Welscher sollten zusammen schlafen und das Kind allein in dem andern Bett.
Ehe aber dieses geschah, mußten die beiden Mägde einen großen Kübel übrig gebliebenen, warmen Seifenwassers hereintragen, das fremde Kind wurde von der Frau Welscher seiner armseligen Lümpchen entkleidet, in den Kübel gesetzt und sorgfältig gebadet und gewaschen. Als die Reihe an die Händchen des Mädchens kam, und es das linke, welches es fest geschlossen hielt, öffnen mußte, fand die Waschfrau in demselben einen alten holländischen Ducaten, welchen die gute Kiliane da hineingesteckt hatte. Dieser Ducaten wurde sorgfältig aufgehoben, alsdann die Haare des kleinen Mädchens sauber gekämmt und dasselbe hierauf mit reinem, frischem Weißzeug und einem gestreiften Nachtkittel bekleidet, dann wurden die dichten, schwarzen Haare unter einem weißen Nachthäubchen verborgen, und als das Kind so frisch und glänzend dastand, hatte die gute Frau Welscher Freude an ihrem Werk, küßte es auf die Stirn, ließ es ein Abendgebet sprechen und legte es alsdann zu Bette. Die Kinder gingen ebenfalls in das ihrige, Emilie ins Mama-Bett, und wir sind überzeugt, daß die ganze Familie eines guten und soliden Schlafes genoß.