Josef Haltrich
Sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen
Josef Haltrich

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61. Die tauben Hirten

Ein tauber Geißhirt kam zu einem tauben Schafshirten und fragte ihn: »Bruder, hast du nicht meine Geiß[en] gesehen?« — »Das Dorf liegt dort hinter dem Berg, gehe nur geradeaus, so kommst du hin!« sprach der Schafshirt. Der Geißhirt lief und fand auf der andern Seite des Berges seine Geiß[en]. Er wollte sich aber dankbar beweisen und nahm sogleich eine »tschuttige« Geiß, die er hatte, denn er dachte, als Geschenk ist die schon gut genug, und lief zurück zum Schafshirten. »Siehe, diese schenke ich dir«, rief er voller Atem, »weil du mir den rechten Weg gezeigt hattest; denn einen halben Tag schon hatte ich die Herde umsonst gesucht.« — »Was?« rief der Schafshirt zornig, »ich habe ihr die Hörner nicht abgehauen!« und wollte eiligst fort; der Geißhirt aber ging hinter ihm her und rief: »So nimm doch mein Geschenk! so nimm doch mein Geschenk!« Da trafen sie auf einen tauben Roßhirten, der eben auf einem gestohlenen Pferde fortritt. Der Schafshirt ging gleich auf ihn zu, faßte die Halfter des Pferdes und sprach: »Siehe, dieser meint, ich hätte seiner Geiß die Hörner abgehauen!« — »Er will mein Geschenk nicht nehmen«, schrie der Geißhirt, »und wenn er's nicht tut, so habe ich kein Glück!« — »Ich habe sie wahrlich nicht gesehen, eure Pferde!« sprach der Roßhirt und wollte fortreiten, aber der Schafshirt ließ ihn nicht aus: »Nein, sage du zuvor, bin ich schuldig oder nicht.« »Gut, wenn dies Pferd euer ist, so nehmt es; aber den Sattel lasse ich euch nicht, der ist mein!« sagte der Roßhirt. Damit sprang er ab, nahm schnell den Sattel und rannte weg. Der Schafshirt ließ das Pferd aus; das wieherte einmal und lief dann zurück zur Herde. Der Schafshirt aber eilte hinter dem Roßhirten her und rief: »So sag' mir's doch! so sag' mir's doch!« und hinter ihm keuchte der Geißhirt mit der Geiß im Arm: »Nimm doch die Geiß, wenn sie auch ›tschuttig‹ ist; es ist eine gute Geiß!« Also liefen die drei hintereinander in einem fort bis ins Dorf. Die Leute hörten den Lärm und kamen heraus auf die Gasse, und weil sie nicht wußten, was es gebe, dachten sie, es seien Räuber, faßten alle drei ab und führten sie vor den Hannen. Da fragte sie dieser ganz zornig: »Was habt ihr das ganze Dorf so in Schrecken gesetzt? Was gibt es?« Nun glaubte jeder von den dreien, der Richter wisse schon alles; es sei am besten, ehrlich zu gestehen. »Herr«, sprach der Geißhirt, »ich will alles sagen, wie es ist. Ich habe in meinem Leben mehr als hundert Geiß[en] gestohlen und dieser einmal im Zorne die Hörner abgehauen. Nun wollte ich sie diesem Manne geben, weil er mich zu meiner Herde gewiesen hatte; allein er wollte sie nicht nehmen; ich lief ihm nach, er solle sie doch nehmen, daß ich Glück hätte!« Der Schafshirt sprach: »Ich habe mehr als tausend Schafe in meinem Leben gestohlen; aber dieser Geiß habe ich die Hörner nicht abgehauen, das ist eine Lüge; dieser Mann sollte mich freisprechen; ich hielt ihm deshalb sein Pferd an; allein er wollte nicht, sprang ab, nahm seinen Sattel und lief fort, und so mußte ich ihm nach, denn ich konnte den falschen Verdacht nicht auf mir lassen!« Der Roßhirt sprach: »Ich kann die Zahl der Pferde nicht angeben, die ich in meinem Leben gestohlen habe; allein in diesem Falle bin ich unschuldig. Als der Mann da sagte, das Pferd gehöre ihm, so ließ ich es aus und nahm nur meinen Sattel!« Der Hann und die versammelten Ältesten schlugen die Hände zusammen über die wunderbare Fügung Gottes, wodurch so viele Verbrechen auf einmal ans Tageslicht kamen. Die drei ergrauten Diebe wurden gleich ins Gefängnis geworfen und bald darauf zum Galgen geführt und gehenkt, wie sie es verdient hatten.


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