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Man kann sich denken, welch ein Sturm in Kamp durch Elmas Vermutung erregt wurde, daß jener angebliche Direktor Erkner niemand anders sein könnte als Bensch. Es war ihm jetzt geradezu unbegreiflich, daß weder Elma noch er, die doch von Werneuchen so viel über diesen Menschen gehört hatten, von Anfang an auf diesen Gedanken gekommen waren. Nach Werneuchens Schilderung stand ihnen der Mann so lebendig vor Augen, daß sie ihn hätten zeichnen können, und doch hatten sie ihn beide nicht erkannt, als er nun tatsächlich aufgetaucht war. Aber das gehörte wohl zu dem wunderlichen Wesen dieses Menschen, der noch nicht einmal eine Verkleidung oder Verstellung für nötig hielt. Mitten am hellichten Tage war er in den Vorort gekommen, in dem ihn doch mancher noch wiedererkennen konnte. Obwohl er in der Rolle eines kaufmännischen Direktors auftrat, hatte er es nicht einmal für nötig gehalten, auch nur seine schlechten Manieren zu verschleiern. Es war, als ob er sagen wollte: »Nun bitte, wenn ihr mich erkennt, dann tut es. Aber wundert euch nicht, wenn ich euch dann totschlage.« Er vertraute anscheinend felsenfest auf seine Kraft und Geschicklichkeit, die ihn in keiner Lage verlassen würden.
Vielleicht hatte Bensch zunächst damit gerechnet, daß Kamp Verdacht gegen ihn schöpfte und ihm vor der Bank eine Falle stellte. Deshalb hatte er ihn nicht gleich auf dem Promenadenplatz angesprochen, sondern hatte ihn und Elma aus der Ferne beobachtet, ehe er sich das Geld geben ließ.
Lind Kamp hatte noch zu Elma gesagt: »Wenn er wirklich ein Verbrecher ist, folgt er uns jetzt von fern, beobachtet uns und wird an einer stillen Stelle auftauchen.« Genau so hatte der Mann gehandelt, und dennoch hatten sie ihm unter den Augen eines Polizisten fünftausend Mark gegeben und ihn laufen lassen. Kamp wütete gegen sich, daß er ihn nicht, seiner inneren Stimme vertrauend, schlankweg auf dem Elisabethplatz hatte verhaften lassen. Aber es war gerade die Unverfrorenheit des Burschen, die ihn davon zurückgehalten hatte. Diese Unverfrorenheit, die zu der Methode Benschs zu gehören schien.
Wenn dieser Mann nun wirklich Bensch, und das Geld einem Gauner in die Hände gefallen war, dann bedeutete das in der Tat für den armen Werneuchen eine Katastrophe. Jetzt hatte er kaum noch tausend Mark auf der Bank und gewiß nur einige hundert Mark bei sich. Dabei mußte er fortlaufende Zahlungen an seine Familie leisten, den Rechtsanwalt bezahlen, den kommenden Umzug bestreiten. Von dem Verlust der Kaution, die er zur Erlangung einer Stelle wohl immer benötigen würde, ganz zu schweigen. Mit den fünf- oder sechstausend Mark hätte er sich in jedem Falle noch gut ein halbes Jahr über Wasser halten können. Jetzt stand er dem Nichts gegenüber. Kamp konnte sich jedenfalls nicht denken, auf welche Weise Werneuchen den Verlust des Geldes verwinden wollte, wenn er nicht doch noch überraschend eine Anstellung erhielt. Aber die für eine Vertrauensstellung unerläßliche Kaution war ja fort!
Ganz andere Befürchtungen konnten noch auftauchen. War die ganze Regensburger Geschichte nicht vielleicht nur eine Falle gewesen, in die man den Unglücklichen gelockt hatte, um ihm das Geld abzujagen? Kamp besann sich, wie er der Angelegenheit von Anfang an mißtrauisch gegenübergestanden hatte. Zum erstenmal durchzuckte ihn der Gedanke, daß Werneuchen vielleicht nicht mehr am Leben war. Vielleicht war er Verbrechern in die Hände geraten? Sie hatten ihn in irgendeinen stillen Winkel gelockt, um ihn zu beseitigen? Und sie hatten es um so sicherer getan, da sie das vermutete Geld nicht bei ihm vorfanden, sondern es sich erst aus München holen mußten. Dann war also Kamps Rat, das Geld nicht gleich mitzunehmen, für Werneuchen verhängnisvoll geworden. Er wagte nicht auszudenken, was alles geschehen sein konnte. Und auch Elma rührte am Telephon mit keinem Wort an die furchtbaren Möglichkeiten, die sich aus dem Besuch Benschs ergaben.
Aber vielleicht war alles nur eine Täuschung. Vielleicht war der »Direktor« wirklich ein ganz harmloser Mann, der das Geld in diesem Augenblick vielleicht bereits Werneuchen oder seiner Gesellschaft in Hamburg pflichtschuldigst ablieferte. Niemand konnte in diesem Augenblick etwas Sicheres sagen. Vielleicht wäre es das Richtige gewesen, sofort die Polizei zu benachrichtigen. Aber das war ja gerade der Fluch dieser inneren Ungewißheit und eines scheuen Empfindens, das ihnen verbot, auf bloße Vermutungen hin derartiges Aufsehen zu erregen. Und wer konnte überschauen, ob man nicht Werneuchen womöglich schadete, wenn die Polizei sich plötzlich in seine Verhandlungen mit der Firma einmischte.
»Ja, wie heißt diese Firma denn überhaupt?« fragte Kamp. »Es war eine so allgemeine Bezeichnung, daß ich sie mir nicht gemerkt habe. Wissen Sie den Namen?«
Aber Elma wußte ihn auch nicht. Es war wirklich eine ganz unbestimmte Bezeichnung gewesen. Etwas mit »Genossenschaft« oder so. Vielleicht »Hamburger Vertriebsgesellschaft«. Nur die Namen der beiden Direktoren, Goldschmidt und Erkner, gingen aus dem Brief Werneuchens hervor. Aber wer wußte, ob es sich hier um richtige Namen handelte? Immerhin hatte Werneuchen ja von Hamburg sofort Nachricht geben wollen. Es war jetzt wirklich nichts anderes zu tun, als diese Nachricht abzuwarten. Erst wenn sie ausblieb, hatte man einen Anhalt, daß etwas nicht in Ordnung war.
Sie trennten sich.
Kamp konnte in der Nacht nicht schlafen. Er rief sich jeden Augenblick des Zusammenseins mit dem Unbekannten ins Gedächtnis zurück, legte jedes Wort, jede Bewegung auf die Wagschale. Immerhin hatte der Mann noch einen eigenhändig von Werneuchen geschriebenen Brief vorweisen können. An der Echtheit dieses Briefes war kein Zweifel möglich. Werneuchens Schreibweise, die Eigentümlichkeit seines Ausdrucks waren nicht nachzuahmen, außer allenfalls von jemandem, der ihn sehr genau kannte. Wer hätte einen solchen Brief fälschen können? In erster Linie vielleicht Kamp selber. Vielleicht auch Elma. Und selbstverständlich Gerda! Immer vorausgesetzt natürlich, daß es gelang, die Handschrift täuschend nachzumachen. War es möglich, daß Gerda –? Hier stockten Kamps Gedanken. Er wies diesen Verdacht von sich fort. Dennoch mußte er daran denken, daß Werneuchen selbst lange Zeit befürchtet hatte, von Gerda ermordet zu werden. Und wenn man sich vor Augen hielt, daß der Prozeß gerade jetzt zu Ende zu gehen schien! War da zwischen dem Brief des Rechtsanwalts und dieser mysteriösen Geschichte ein Zusammenhang? Wenn man bedachte, daß Gerda jetzt ihre letzte Stütze verloren hatte, indem Reuschhagen sie im Stiche ließ? Aber wozu war es dann nötig, einen Brief zu fälschen? Nein, Gerda konnte ihr Ziel auf andere Weise erreichen. Und überhaupt, vielleicht hatte sie ihren Mann betrogen, aber einer ruchlosen Tat konnte Kamp sie nicht für fähig halten.
Dieser Brief war jedenfalls nicht gefälscht worden. Aber war es nicht viel schlimmer, wenn er echt war? Mußte er denn nicht geradezu Werneuchen mit Gewalt entwendet worden sein? Unter irgendeinem Druck war er anscheinend nicht geschrieben. Kamp las ihn noch einmal Wort für Wort durch. Wenn dieser Brief Werneuchen abgepreßt worden wäre, hätte er sicher irgendwie versucht, zwischen den Zeilen etwas durchblicken zu lassen. Nichts davon war in dem Brief enthalten. Als Werneuchen diesen Brief schrieb, ahnte er nichts von der Gefahr, in der er vielleicht schwebte. Er hatte Angst, vielleicht eine rasende Angst, daß er die Stellung nicht erhalten würde, aber keine Angst um sein Leben.
Hier machten Kamps Gedanken wieder halt Werneuchen hatte also doch Angst gehabt? Natürlich hatte er in seiner Lage Angst gehabt. Denn irgendeine innere Stimme mußte ihn doch warnen! Das stand fest: er hatte Angst gehabt, aber er hatte diese Angst, die er gewiß deutlich in sich spürte, falsch gedeutet. Er dachte, daß er sich um die Anstellung ängstigte, und dabei ängstigte er sich schon, ohne es zu wissen, um sein Leben.
Ganz deutlich glaubte der Student die Szene vor sich zu sehen: Werneuchen sitzt mit dem angeblichen Direktor dieser Hamburger Firma in einem Winkelcafé und verhandelt mit ihm. Oder vielleicht auch in keinem Winkelcafé, sondern in einem hochachtbaren Lokal. Es macht dem Direktor, der natürlich nicht mehr Direktor ist als etwa Bensch, Spaß, den nervösen Herrn vor sich mit der ausgeschriebenen Stelle zu quälen. Halb sagt er sie ihm zu, halb macht er Ausflüchte. Und dabei steht draußen schon der Mörder, und der »Direktor« weiß es. Werneuchen schreibt seinen Brief. Der »Direktor« nimmt ihn und verspricht, daß morgen früh ein anderer »Direktor«, namens Erkner, nach München fahren und den Brief besorgen werde. Sicher hat er gesagt, »unser Herr Erkner«, wie man sich kaufmännisch ausdrückt. Und inzwischen sitzt Werneuchen da und ängstigt sich: kriege ich die Stelle oder kriege ich sie nicht? Und weiß noch gar nicht, daß er im Grunde seiner Seele schon um sein Leben zittert.
So konnte es gewesen sein. Kamp dachte noch einmal über das Auftreten des Fremden nach. Konnte das wirklich ein Direktor Erkner sein? Oder konnte es Bensch sein? Beides war möglich, wenn man sich nicht auf den »Direktor« versteifte. Ein leitender Direktor war der Mann natürlich nicht, vielleicht aber ein Packaufseher der Firma? Kamp merkte, daß er hier ins Uferlose geriet. Vielleicht waren dieser Erkner und Bensch eine und dieselbe Person? Es fiel ihm bei dem Wort »Packaufseher« ein, daß Bensch unter dem Namen Erkner bei der Firma angestellt sein konnte. Tüchtig war er ja, vielleicht hatte er sich zu einer höheren Stellung emporgearbeitet und wurde sogar Direktor genannt. Der Zufall spielte oft sonderbar. Werneuchen dachte, daß ein Herr Erkner seinen Brief besorgen wird, und dabei ist es Bensch, den er natürlich nicht zu Gesicht bekommt und der sich sehr wohl vor einer Begegnung mit Werneuchen hütete, wenn er ihn erkannt haben sollte. Das alles war natürlich möglich. Aber was war hier schließlich nicht möglich? Man mußte einfach abwarten, ob er oder Elma am nächsten Tag einen Brief von Ernst Alexander aus Hamburg erhalten würde.
Auch die Zeit rechnete Kamp genau nach. Allerspätestens am Samstag mußte Werneuchen von Regensburg nach Hamburg gefahren sein. Man konnte also annehmen, daß er spätestens am Sonntag seine Hamburger Adresse mitteilte. Spätestens am Montag mit der zweiten Post mußte Elma oder Kamp Nachricht haben. Vielleicht klärte sich morgen mittag alles ganz harmlos auf. Vielleicht hatte er sogar die Anstellung erhalten, der Prozeß lief zu Ende, er konnte Elma heiraten, und alles war gut. Vielleicht war es ein ganz unsinniger Gedanke, daß jener Unbekannte durchaus Bensch sein sollte. Als ob man nicht auf jeder Straße in München vier oder fünf solcher Gestalten traf, die dabei ganz harmlose Leute waren. Außerdem war es abends, wo alle Dinge schlimmer aussehen. Am nächsten Morgen, wenn die Sonne schien, würden sie wahrscheinlich über ihre Befürchtungen lachen.
Erst gegen Morgen schloß Kamp endlich die Augen. Plötzlich aber schreckte er wieder empor. Deutlich, mit allen Einzelheiten, sah er folgenden Vorgang im Wachtraum:
Ein Eisenbahnabteil zweiter Klasse. In ihm ein gutgekleideter Herr. Kamp weiß, es ist der wirkliche Direktor Erkner. Er ist allein in dem Abteil. Da kommt während der Fahrt Bensch herein. Der Direktor ist erstaunt, befremdet, erschrocken, als die unheimliche Gestalt vor ihm Platz nimmt. Er versucht krampfhaft seine Zeitung weiterzulesen, muß aber Bensch beobachten, der nun aufsteht und sich an der Ventilation über dem Kopf des Direktors zu schaffen macht. Es ist für diesen eine peinliche Lage. Das Verhalten des Mannes kann durchaus harmlos sein, er kann ihm aber ebensogut plötzlich von oben den Schädel einschlagen.
Auf einmal fällt Bensch den Direktor an, stürzt sich auf ihn. Kurzer Ringkampf, der Direktor röchelt, Bensch wirft ihn der Länge nach auf die Bank, drückt ihm die Kehle ein, raubt ihm die Taschen aus, steckt Werneuchens Brief zu sich und verschwindet durch die Tür.
Ganz deutlich sah Kamp im Halbschlaf die Szene vor sich. Er machte die Augen auf.
Draußen schien die Sonne, die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Er lag in Schweiß gebadet Er hatte wohl nur geträumt, aber es wollte ihm im Augenblick scheinen, als hätte der Traum ihm die Wahrheit offenbart. Gewiß, er konnte es gewesen sein: irgendein Verbrecher – es brauchte ja nicht gerade dieser Bensch zu sein – hatte den wirklichen Direktor Erkner überfallen, ihm Werneuchens Brief abgenommen und sich die fünftausend Mark geholt
Aber Kamp war in diesem Augenblick zu müde, den vielfachen Möglichkeiten noch weiter nachzugehen. Der Kopf schmerzte ihn. Er fiel in tiefen Schlaf.
Gegen Mittag weckte ihn das Telephon. Elma fragte an, ob er Nachricht erhalten habe. Doch auch mit der zweiten Post, die bereits dalag, war nichts gekommen. Elma hatte sich gegen gestern ein wenig beruhigt. Wie Kamp hatte auch sie alle Möglichkeiten erwogen und war zu dem Ergebnis gelangt, daß man noch warten müßte. Daß Ernst Alexander bisher noch nicht geschrieben hatte, brauchte nicht unter allen Umständen beunruhigend zu sein. Vielleicht hatte er in Hamburg gleich sehr viel zu tun. Es konnte sein, daß er erst spät am Sonntag eine Karte geschrieben und sie erst am Montag vormittag eingesteckt hafte. Dann war sie kaum vor Dienstag mittag in München. Wenn allerdings morgen nichts ankäme, sollte Kamp unverzüglich mit dem Rechtsanwalt die weiteren Schritte besprechen. Nötigenfalls mußte man dann die Polizei benachrichtigen, was allerdings der Rechtsanwalt wohl am zweckmäßigsten tun würde.
Da Elmas Mutter ins Zimmer trat, brachen sie das Gespräch ab und verabredeten nur kurz, daß jeder den anderen anrufen sollte, sobald er etwas erfuhr.
Kamp sah die Post noch einmal genauer durch. Sie enthielt nichts, was ihm Aufschluß geben konnte. Auguste brachte das Mittagessen herein. Er konnte nur wenig zu sich nehmen. Es erschien ihm unerträglich, den ganzen Tag und vielleicht auch noch den nächsten abzuwarten, ehe er etwas unternahm. Vielleicht benachrichtigte man am besten doch sofort die Polizei. Aber wie lächerlich war es, wenn morgen eine Karte kam und sich alles harmlos aufklärte!
Er durchflog noch einmal die Post der letzten Tage und behielt schließlich die Vorladung des Finanzamts in der Hand. Ob er hier vielleicht das eine Ende des Fadens erfaßt hatte? Natürlich brauchte diese Vorladung nichts, aber auch gar nichts mit der Angelegenheit zu tun zu haben. Immerhin war dieses Zusammentreffen so merkwürdig, daß ein Detektiv wohl zunächst einmal festgestellt haben würde, was hier eigentlich vorlag. Nur zur Sicherheit und um festzustellen, daß die Fährte hier nicht weiterlief. Schaden konnte es jedenfalls nichts, wenn er diesen Herrn Berdelow in Firma Berdelow & Hahn aufsuchte. Wenn Kamp schon etwas tun wollte – und das wollte er –, dann konnte er nur Herrn Berdelow aufsuchen. Ein in Untätigkeit verbrachter Nachmittag, wo jede Stunde unwiederbringlich kostbar sein konnte, war ihm so unerträglich, daß er auf jeden Fall etwas versuchen wollte. Vielleicht ging er auch gleich zu dem Rechtsanwalt. Er wußte noch nicht.
Zunächst schlug er im Telephonverzeichnis Herrn Berdelow auf. Herr Berdelow wohnte offenbar in der Fabrik selbst, irgendwo im Osten. Kamp hatte eine Vorliebe für solche entlegene Gegenden, und vielleicht bestimmte ihn die Lage der Fabrik, es mit Herrn Berdelow zu versuchen. Mit dem nächsten Zug fuhr er zur Stadt. Vom Bahnhof hatte er noch eine halbe Stunde mit der Elektrischen zu fahren. Unterwegs überlegte er, ob er nicht vorher anrufen sollte. Als er aber erst in der richtigen Straße war, hielt er es doch für besser, überraschend aufzutauchen. Er hatte seinen besten Anzug angezogen und Visitenkarten in die Tasche gesteckt. Wenn er sich dringend in einer persönlichen Angelegenheit melden ließ, konnte Herr Berdelow ihn nicht gut abweisen lassen, dachte er sich. Sollte der Mann zufällig nicht da sein, konnte man ja warten oder am nächsten Tag wiederkommen.
Die Straße machte einen öden und verlassenen Eindruck. An der Ecke gab es einige Mietskasernen von zweifelhaftem Aussehen. Dann kam ein langer Bretterzaun, der offenbar von einem Brand zurückgebliebene Schutthaufen verbergen sollte. Auf der anderen Seite standen armselige Arbeiterhäuser in ungepflegten Vorgärten. Nachher ging man über eine Brücke, unter der, tief in das Gelände eingeschnitten, Bahngleise hinliefen. Hinter der Brücke erhob sich der Fabrikbau der Firma Berdelow & Hahn. Durch einen Torweg, vor dem das Eisengitter offen stand, konnte man eintreten.
Die Fabrik sah nicht so aus, als ob sie glänzend beschäftigt wäre. Durch die großen Fenster des Hofgebäudes, in dem wohl die eigentlichen Maschinenräume lagen, sah man nur wenige Menschen. Offenbar hatte man schon Feierabend gemacht. Man arbeitete also mit verkürzter Schicht, denn es war erst gegen vier Uhr. Ein Portier, der den Besucher zurechtweisen konnte, war nicht zu bemerken.
Kamp ging ein paarmal zwischen Hof und Straße hin und her und wußte nicht recht, ob er wirklich in diesem öden Haus Herrn Berdelow suchen sollte. Er ging noch einmal auf die Straße zurück. Da sah er neben dem Fabrikgebäude, wie ein Schwalbennest angeklebt, eine kleine Villa. Sie wirkte neben dem riesigen Bau einigermaßen kläglich und schien von oben bis unten bestaubt. Man hätte weder in dieser Gegend noch in diesem Hause wohnen mögen. Nicht einmal ein Garten entschädigte für diese Lage. Das Ganze war durchaus verwahrlost. An mehreren Stellen des Hauses bröckelte der Putz ab. Hauptsächlich aber kam der finstere, unfreundliche Eindruck von der riesigen Feuermauer des Fabrikhauses her, an der die Villa stand.
Ein Namensschild war nirgends zu sehen. Kamp klingelte auf gut Glück. Eine schlampig angezogene Frau öffnete die Tür. Kamp fragte nach Herrn Berdelow persönlich. Ohne seine Visitenkarte zu beachten, ließ die Person ihn ein und führte ihn durch eine kahle Diele geradeswegs in das Arbeitszimmer des Fabrikanten.
Kamp hatte einen griesgrämigen alten Herrn erwartet, Herr Berdelow war jedoch nicht über vierzig Jahre alt. Er war ein großer kräftiger Mann mit einem vollen geröteten Gesicht und einem stattlichen, rotblonden Schnurrbart darin. Kamp wußte nicht, woher es kam, aber dieser Herr Berdelow mißfiel ihm gründlich, und er bedauerte nachträglich den Freund, der mit diesem Manne hatte arbeiten müssen. Vielleicht aber war dieses Mißtrauen ganz unberechtigt, denn Herr Berdelow war, wenigstens zunächst, fast höflich. Er stand sogar auf und kam dem Besucher einige Schritte entgegen.
Kamp stellte sich vor. Wie er darauf kam, konnte er sich später nicht erklären, jedenfalls sprang er dem Fabrikanten sofort mit der Frage ins Gesicht, ob ihm ein Direktor Erkner bekannt wäre. Berdelow verneinte. Oder dann ein Direktor Goldschmidt? Herr Berdelow schüttelte auch hier den Kopf. »Oder dann vielleicht ein Herr, das heißt eigentlich kein Herr, sondern ein Mann, ein Arbeiter, ein besserer und jedenfalls sehr tüchtiger Arbeiter namens Bensch?«
Berdelow sah den aufgeregten jungen Mann, der ganz rot und mit heruntergefallener blonder Stirnlocke vor ihm stand, erstaunt an.
»Ich setze voraus,« sagte er in sehr ruhigem Ton, »daß Sie aufgeregt sind und sehr gewichtige Gründe haben, sich gerade bei mir nach diesen Personen zu erkundigen.«
Kamp bejahte. Diese bestimmte und doch höfliche Art imponierte ihm etwas.
»Bensch, sagten Sie?« Herr Berdelow zog ein dickes Paket aus dem Schreibtisch und schien eine Liste durchzusehen. Während er mit dem Finger die Rubrik suchend entlangfuhr, sah Kamp sich in dem Raum um. Er schien ihm jetzt ganz gemütlich, wenn auch altmodisch und sogar ein wenig ärmlich eingerichtet. Auf einmal entdeckte er unter dem Schreibtisch zu Füßen Berdelows eine riesige Dogge. Ganz ruhig lag sie da. Sie hatte sich nicht einmal bei seinem Eintritt bewegt, und Kamp hätte sie auch jetzt für tot halten können, wenn ihre Augen nicht gespannt jeder seiner Bewegungen gefolgt wären. Kamp war überzeugt, daß, wenn er nur mit der Hand nach der Tasche gegriffen hätte, der Hund ihm im gleichen Augenblick an die Kehle gefahren wäre. Diese Dogge wendete die Szene sofort wieder ins Unheimliche. Mit einem solchen Wächter allerdings konnte Herr Berdelow ruhig jeden Besucher vor sich lassen.
»Nein, ein Arbeiter oder Werkführer Bensch ist bei uns nicht eingestellt und in den letzten drei Jahren nicht eingestellt gewesen«, sagte Herr Berdelow.
Kamp wollte es jetzt scheinen, als ob er mit der Nennung dieses Namens eine Überflüssigkeit, wenn nicht gar eine Dummheit begangen hatte. Wenn sich wirklich Verdachtsgründe gegen den Fabrikanten ergeben sollten, hatte er ihn vorzeitig gewarnt und ihm sogar die Richtung angedeutet, aus der die Gefahr kam. Er ärgerte sich. Da ihm im Augenblick nichts anderes einfiel, seinen Fehler gutzumachen, fragte er nach Werneuchen.
Herr Berdelow grinste fatal. »Werneuchen?« wiederholte er langgedehnt. »Ein sehr begabter Herr. Leider ein Phantast und völlig unbrauchbar für den kaufmännischen Beruf. Solche Herren können vielleicht Gelehrte oder sonst etwas sein, aber sie gehören nicht ins praktische Wirtschaftsleben. Herr Werneuchen ist wohl ein Freund von Ihnen und hat Sie hergeschickt?«
»Nein, Herr Werneuchen hat mich nicht hergeschickt. Ich möchte aber gern wissen, wie es mit seinem letzten Besuch bei Ihnen war. Ich habe meine Gründe dafür. Herr Werneuchen ist doch vor einigen Wochen noch einmal bei Ihnen gewesen?«
Man sah es Herrn Berdelow an, daß er anfing, mißtrauisch zu werden. Er überflog, was er bis jetzt nicht getan hatte, die Erscheinung des Studenten mit einem prüfenden Blick.
»Jawohl«, sagte er zögernd und, wie es schien, widerwillig. »Herr Werneuchen ist vor etwa zwei Wochen hier gewesen. Er wollte ein Zeugnis über seine Tätigkeit in meinem Betrieb haben. Das war natürlich wieder so eine Phantasterei von ihm. Nach dem, was er hier angestiftet hat! Das ganze Personal hat er mir in Unordnung gebracht. Ich habe ihm aber schön bedeutet, daß ich jeden Menschen nur vor ihm warnen kann.«
Das war es! Diese Unterredung war also ganz anders verlaufen, als Ernst Alexander es Elma geschildert hatte. Berdelow hatte ihn einfach kalt abfallen lassen, und Kamp hatte keinen Zweifel, daß es sich genau so verhielt, wie Herr Berdelow es darstellte. Aus Scham und um Elma nicht unnötig zu beunruhigen, hatte Werneuchen die Sache verdreht wiedergegeben.
»Entschuldigen Sie,« sagte er aber dennoch, »Herr Werneuchen hat von seinem Besuch bei Ihnen eine völlig andere Schilderung gegeben. Er will Sie wegen seines damaligen Verhaltens um Entschuldigung gebeten haben. Er habe Ihnen gesagt, daß er selbst jetzt völlig anders über jene Dinge denke. Und Sie, Herr Berdelow, hätten daraufhin seine sonstige Tätigkeit anerkannt und ihm versprochen, eine gute Auskunft zu erteilen, falls man sich bei Ihnen erkundigen sollte.«
»Da soll doch gleich –! Das ist ja alles Unsinn!« rief Herr Berdelow entrüstet. »Davon habe ich auch nicht eine Silbe gesagt. Im Gegenteil!«
Kamp wußte immer weniger, welchen Zweck er seinem Besuch unterschieben sollte. In seiner Verlegenheit zog er die Vorladung des Finanzamts aus der Tasche. »Eigentlich habe ich es mir auch so gedacht, wie Sie es darstellen«, sagte er. »Aber können Sie mir vielleicht etwas über den Zusammenhang dieses Schriftstückes und Ihres Zusammenstoßes mit Herrn Werneuchen sagen?«
Berdelow sah das Blatt flüchtig durch. »Donnerwetter!« sagte er dann, aber immer noch mit ruhiger Stimme. »Also Werneuchen steckt hinter dieser Geschichte! Das ist mir in der Tat neu. Da habe ich Herrn Werneuchen doch für anständiger gehalten.« Er reichte Kamp das Blatt zurück. »Natürlich ist alles Unsinn, was darin steht. Wenn ich wirklich irgendwelche Bilanzverschleierungen gemacht hätte, wäre Herr Werneuchen der letzte, mit dem ich sie besprochen hätte. Darauf können Sie Gift nehmen, junger Mann. Außerdem verstand der Mensch ja nichts von Buchführung.«
Kamp war entrüstet über das »Junger Mann«, und daß Werneuchen kurzweg als »Mensch« bezeichnet wurde. Hier mußte man noch etwas sagen. Aber er hielt an sich.
»Haben Sie nicht zuerst große Stücke auf Herrn Werneuchen gehalten?« fragte er.
»Ach nein!« sagte Herr Berdelow und zwinkerte lustig mit den Augen. »Ich habe diesen Herrn sehr bald erkannt. Nein, ich habe ihn nie in meine Karten gucken lassen. Und wenn er nun etwa durch Sie versuchen will, noch ein gutes Zeugnis herauszuschlagen, so wird daraus nichts. Verstehen Sie, Herr ...? Reden Sie mir auch nicht von Frau und Kindern und dergleichen. Es gibt so viele gute Kaufleute, die ohne Stellung sind. Weshalb soll dieser Herr Werneuchen gerade einem gelernten Kaufmann eine Stelle fortnehmen? Nichts zu machen, Herr ...«
Kamp merkte, daß er auf diese Weise nicht weiterkam. Er hatte ja bei der ganzen Unterredung überhaupt kein eigentliches Ziel. Er wollte aushorchen, seinen Gegner vielleicht zu einer unvorsichtigen Äußerung verleiten. Aber es war schwer, hinter ein Geheimnis zu kommen, wenn keins bestand. Alles, was Herr Berdelow sagte, machte einen durchaus vernünftigen, wohlbegründeten Eindruck. Aber konnte man sich überhaupt auf einen Eindruck verlassen? Der eine verschanzte sich, wie der Packer Bensch, hinter so offenkundiger Unverschämtheit, daß man den eigenen Sinnen nicht zu trauen wagte. Der andere ließ sich nicht im mindesten in die Karten sehen. Konnte sich Herr Berdelow nicht längst alles glänzend zurechtgelegt haben? Mußte er nicht, wenn er wirklich in eine kriminelle Angelegenheit verwickelt war, längst damit rechnen, daß er in Verdacht kam?
»Mein Kommen hat einen ganz anderen Zweck«, fing Kamp von einer neuen Seite an. »Es besteht doch die Tatsache, daß gegen Sie beim Finanzamt Anzeige wegen Steuerhinterziehung erstattet worden ist. Als Hauptzeuge ist Ihr ehemaliger Sekretär vorgeladen, der immerhin während einiger Wochen Ihre rechte Hand war. Auf den Dienstag, auf morgen also, ist der Termin anberaumt Und jetzt, einige Tage vor diesem Termin, ist der Hauptzeuge unter eigentümlichen Umständen verschwunden.«
Herr Berdelow sprang erregt auf. Im Augenblick hatte er begriffen. Ein wenig zu schnell, empfand Kamp, für einen Unbeteiligten. Auch die Dogge erhob sich auf ihre Vorderfüße.
»Was heißt das?« rief Herr Berdelow erregt »Damit wollen Sie mir kommen? Herr Werneuchen ist verschwunden? Was heißt verschwunden?«
Hatte Herr Berdelow Angst, fühlte er sich ertappt und durchschaut, oder übersah er es nur im Augenblick, daß ihm aus dieser Sache, wegen der Anzeige, große Unannehmlichkeiten erwachsen konnten?
»Er ist verschwunden, und dann hat man noch hinterher fünftausend Mark verschwinden lassen.« Kamp fixierte den Fabrikanten bei diesen Worten scharf.
»Ach so!« Herr Berdelow lachte jetzt laut auf. »Herr Werneuchen ist mit fünftausend Mark verschwunden? Na, dann suchen Sie nur in Hamburg nach.«
Bei diesem Wort starrte Kamp ihn fassungslos an. Wie kam Berdelow auf Hamburg? Wußte er doch etwas? War hier eine Spur?
»In Hamburg?« sagte er scharf. »Sie wissen also? Sie geben zu?«
»Was weiß ich! Was gebe ich zu! In Hamburg oder in Amerika! Ausgerissen ist er, der saubere Kunde. Hat seine Verpflichtungen nicht einlösen können und ist mit dem letzten Geld verschwunden. Und den soll ich noch empfehlen, was?«
»Erlauben Sie!« unterbrach Kamp seinen Redeschwall.
»Erlauben!« schrie Berdelow. »Leute wie Sie und ihr unsauberer Kumpan wollen wohl hier noch ehrliche Leute ins Bockshorn jagen! Was soll ich erlauben? Daß Sie sich zum Teufel scheren, erlaube ich. Raus mit Ihnen!«
Die Dogge ließ ein lautes Knurren ertönen. »Rrrraus!« schrie Herr Berdelow noch einmal.
»Ich empfehle mich Ihnen«, sagte der Student, machte eine förmliche Verbeugung und ging hinaus.
Als die Gittertür hinter ihm zuschlug und er auf der Straße stand, begriff er erst seine Verwirrung. Nicht sosehr, weil ihn dieser Auftritt erregt hatte, zitterte er, sondern weil ihm Berdelows Worte noch im Ohr klangen. War es möglich? Konnte es sein, daß Werneuchen vielleicht wirklich mit dem Rest seines Geldes das Weite gesucht hatte? Irgendwo untertauchen wollte? Vielleicht in Amerika oder sonstwo? Diese neue Ansicht der Dinge warf ihn völlig über den Haufen. Das Blut hämmerte in seinen Schläfen.
Die schlampige Frau, die ihm geöffnet hatte, putzte seelenruhig an einem Fenster. Sie mußte den Skandal gehört haben, aber solche Auftritte schienen keinen Eindruck auf sie zu machen. Das Fabrikgebäude stand in seinem öden Schweigen. Trostlos und verlassen lag die Straße da. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Über den Bahngleisen spannte sich die phantastisch kahle Brücke. Dahinter lief der Bretterzaun. Kamp sah von seiner Stellung aus auf die dahinterliegenden Schutthaufen, die der Zaun verdecken sollte. Er ging langsam weiter, um seine Gedanken zu ordnen. Aus den Arbeiterhäusern kam kein Laut heraus. Die verwahrlosten Vordergärten rochen auf einmal wie Abfallgruben. Er schlich sich an dem Zaun entlang. Die ganze Straße machte jetzt auf ihn einen noch viel entsetzlicheren Eindruck als vorher.
Seltsam, wie er diese Straße wiedersah, wollte ihm Berdelows Auffassung nicht mehr einleuchten, obwohl er sich der Phantastik seiner Begründung vollkommen bewußt war. Aber beim Anblick dieser öden Kahlheit kam er von der Vorstellung eines Mordes nicht mehr los. In dieser Gegend konnte man nachts verschwinden lassen, wen man wollte. Die ganze Gegend schrie förmlich nach Mord.
Wie kam er nur darauf? Er fragte sich, ob er nach dem Vorgefallenen wirklich Herrn Berdelow mit Werneuchens Verschwinden in Verbindung setzen wollte. Nein, er glaubte an eine solche Verbindung nicht. Aber er wußte nicht, was er glauben sollte. Vielleicht war es doch nur der Anblick dieser Straße, daß er jetzt ganz sicher an Ernst Alexanders Ermordung glaubte. Oder war Werneuchen wirklich, wie Berdelow annahm, über Hamburg nach Amerika entflohen? Dieser Gedanke hatte so viel Einleuchtendes, aber wenn Kamp wieder die öde Straße ansah, konnte er doch nur an ein Verbrechen denken. Das waren natürlich alles Vorstellungen Werneuchens, in denen er sich bewegte. Das war diese Sucht, zu kombinieren, aus Vorstellungen auf Tatsachen zu schließen, Hirngespinste lebendig werden zu lassen. Aber war es ihm nicht schon mehrmals aufgefallen, daß Werneuchens phantastische Ängstlichkeit seit dessen Abreise sich seiner bemächtigt hatte? Er hatte es sich noch nicht eingestanden, aber schon mehrere Male war er drauf und dran gewesen, es in ganz klaren Worten zu denken. Er sah Gespenster, wie es Werneuchen zeit seines Lebens getan hatte. Vielleicht war auch dieser »Direktor« Erkner nur ein Produkt seiner Phantasie. Seiner und Elmas, die gleich ihm von Werneuchens Ängstlichkeit angesteckt war. Aber er konnte nicht mehr anders. Obwohl er das Unsinnige dieser Gedankenverbindung einsah, schoß es ihm doch in klarer Formulierung durch den Kopf:
»Wer jeden Tag, durch Wochen hindurch, diese Straße entlang ging, wie es Werneuchen getan hatte, der war ungeheuer dazu prädestiniert, ermordet zu werden!«
Auch als er aus der entsetzlichen Straße hinaus war und das Fabrikgebäude nicht mehr im Nacken hatte, stand es für ihn noch fest, eigentlich zum erstenmal ganz klar und ausgesprochen fest, daß Werneuchen fort war und nicht mehr wiederkommen würde. Eigentlich hatte er es schon gewußt, als er sich auf den Weg zu Herrn Berdelow machte. Aber jetzt war es unverrückbar: Werneuchen war fort, ermordet oder geflohen. Jedenfalls fort!
In solchen Gedanken war er bis in die Maximilianstraße gekommen. Er atmete auf. Endlich wurde er den Geruch übler Gegenden los. – Als er die elegante Straße entlangschlenderte, sah die Welt wieder anders aus. Aber er war so zerschlagen von seinen Grübeleien, so todmüde von den Eindrücken der letzten Stunde, daß er in die Ceylon-Teestube unter den Arkaden trat, um sich auszuruhen.
Der Raum war um diese Zeit so stark besetzt, daß er kaum einen Platz bekam. Ehe er etwas bestellte, kam ihm der Gedanke, nach Hause zu telephonieren. Post konnte inzwischen kaum gekommen sein, vielleicht aber ein Telegramm oder ein wichtiger Anruf. Vielleicht hatte Elma sogar von Ernst Alexander einen Brief erhalten.
Auguste war zu Hause. Sie berichtete ihm, daß Fräulein Diepenbroich inzwischen zweimal angerufen hatte. Das letztemal vor kaum zehn Minuten. Es wäre eine dringende Angelegenheit. Sie hätte bereits in der ganzen Stadt herumtelephoniert, um ihn zu erreichen. Der Herr Kamp möge sofort, auf dem schnellsten Wege in die Lindwurmstraße kommen und unauffällig vor dem Hause Nr. .... auf- und abgehen. Das Fräulein habe gehofft, daß Herr Kamp zu Hause anrufen würde und diese Nachricht ihn noch zur Zeit erreiche.
Ohne Besinnen hängte Kamp ab und stürzte hinaus. Im nächsten Augenblick saß er in einem vorüberfahrenden Auto. Er ahnte, was sich zugetragen hatte. Nein, er ahnte es nicht, er wußte es genau: Elma hatte den Packer Bensch wiedergesehen!